Die Gegensätzlichkeit der Interessen beim wirtschaftlichen Wiederaufbau beider Länder

Die an Rohstoffen und Kraftquellen reiche, dabei infolge ihres agraren Charakters von Krieg und Revolution weniger tief heimgesuchte Ukraine wird bei dem kommenden Wiederaufbau ungleich günstiger dastehen, als das an Rohstoffen arme, seiner Produktionsmittel beraubte und in seinem industriellen Apparat durch Krieg und Revolution stärker getroffene Russland. Letzteres würde daher schon durch die Macht der Tatsachen das alte System der Exploitation der Ukraine erneut in Anwendung zu bringen genötigt sein, wobei es die im Auslande begehrten ukrainischen Exportgüter ohne Rücksicht auf die Entblößung der Ukraine ausführen würde, hingegen die früher in Zentralrussland verarbeiteten Rohstoffe und die nicht marktgängigen Erzeugnisse der Ukraine infolge Zerstörung seines Verarbeitungsapparates brach liegen ließe. Es müsste, um die für seinen Wiederaufbau notwendigen ausländischen Maschinen, Industrieartikel, Kredite usw. zu erhalten, die Ausfuhr der ukrainischen Rohstoffe und landwirtschaftlichen Produkte forcieren, dadurch an der ukrainischen Volkswirtschaft und Bevölkerung Raubpolitik treiben und die Entwicklung einer ukrainischen Industrie im Interesse der Erhaltung seiner Rohstoff-Vorratskammer bekämpfen.

So wäre die Ukraine als der wirtschaftlich stärkere an den wirtschaftlich schwächeren Organismus gefesselt, der als furchtbarer Ballast an ihr hängen, ihren Wiederaufbau erschweren und ihre natürliche Entwicklung hemmen würde, — was zu unaufhörlichen, ständig sich verschärfenden Kämpfen zwischen dem Süden und Norden Russlands führen müsste, so lange bis eben die Trennung der beiden durchgesetzt wäre.


Diese Argumente sind von zwingender Folgerichtigkeit und es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, sie der Fiktion des alten „unteilbaren" Russlands zuliebe zu übersehen. Sie sind unabhängig von dem sozialen, politischen und nationalen Charakter der Regierungen, die über die Ukraine herrschen werden. Darum werden sie jede von ihnen nach der Richtung der wirtschaftlichen (und damit politischen) Trennung der Ukraine von Russland beeinflussen. Beweis dafür ist, dass sich auf diesem Hintergrund bereits seit Monaten im Schoße der Moskauer und Charkower Regierungen tiefgehende Differenzen bemerkbar machen, da selbst die ukrainische Sowjetregierung der exploitatorischen Wirtschaftspolitik Moskaus Widerstand entgegensetzen muss. Wie der Kampf um die Selbständigkeit der Ukraine auch enden wird, gewiss ist: dass die wirtschaftliche Emanzipierung Südrusslands nicht mehr rückgängig zu machen ist, dass das bisherige System der Ausbeutung des Südens durch den Norden nicht mehr denkbar ist, und dass die Besitzer von Bergwerken, Ländereien, Fabriken usw. in der Ukraine, mögen sie welcher nationalen und politischen Richtung auch immer angehören, sich die einmal erworbene Befreiung von Moskau nicht mehr kampflos aus der Hand schlagen lassen werden.

Diese Gründe waren auch für England maßgebend, das während der Verhandlungen mit Krassin die ukrainische Staatsidee hervorzukehren verstand, als es galt, Sowjetrussland gefügig zu machen. Es ist auch kein Geheimnis, dass gerade England auf die offizielle Anerkennung der ukrainischen Sowjetrepublik durch Moskau drängte, und dass es die Entsendung einer besonderen ukrainischen Mission nach London verlangte, die die Abmachungen betreffend den Handelsverkehr auf dem ukrainischen Territorium gegenzeichnen sollte. Das ist der Vorteil der englischen Ostpolitik gegenüber jener Deutschlands, dass England stets die feinere Witterung besaß und über der Gegenwart nicht die großen Linien der Zukunft aus den Augen verlor.

Trotzdem sind weder England, noch Amerika, noch Frankreich imstande, mit noch so gut durchdachten politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen die natürlichen Vorteile der geographischen Lage und der gegenseitigen ökonomischen Ergänzung, die zwischen der Ukraine und Deutschland besteht, die automatische Fortwirkung der früheren deutsch-russischen Handelsbeziehungen und die besseren geschäftlichen Fähigkeiten, über die Deutschland verfügt, wettzumachen. Es wird nur an Deutschlands Verständnis und Geschick liegen, diese Möglichkeiten im Interesse beider Länder zu erfassen und auszubauen.