Bedeutung der Ukraine

Vor dem Kriege war die Ukraine in Deutschland im großen und ganzen als Lieferant von Getreide und landwirtschaftlichen Produkten, ferner von gewissen in der deutschen Industrie verwerteten Rohstoffen bekannt, während man von ihr wusste, dass sie als typisches Agrarland an dem Verbrauch der a Deutschland stammenden russischen Einfuhrwaren mehr oder weniger beteiligt war.

War schon diese Anschauung, an sich primitiv und unvollständig, so erschöpfte sie nicht einmal den Kern und die Bedeutung dieses einen Gebiets der vorkriegszeitlichen deutsch-ukrainischen Wirtschaftsbeziehungen. Dies wird insbesondere aus folgenden Betrachtungen ersichtlich:


Deutsche Waren gelangten in die Ukraine und ukrainische nach Deutschland zumeist über Polen und die baltischen Häfen, was statistisch zur Folge hatte, dass dieselben in den Warenverkehr Nordrusslands, resp. Polens statt der Ukraine eingerechnet wurden. Da überdies die Geschäftsabschlüsse hinsichtlich Lieferungen nach und von der Ukraine hauptsächlich mit Moskauer und Petersburger Firmen getroffen wurden, die ihrerseits in der Ukraine ein Netz von Vertretungen besaßen, und da auch die geldlichen Verrechnungen zumeist in Moskau oder Petersburg erfolgten, weil die großen Bankinstitute in diesen Städten konzentriert waren, — so ergab sich dadurch von selbst eine Unterschätzung der Bedeutung, des ukrainischen Marktes für Deutschland, die einerseits in einer Verkennung der Methoden seiner Gewinnung und dauernden Erhaltung (z. B. nach dem Brest-Litowsker Frieden) Ausdruck fand, andererseits die Zukunft der Wechselbeziehungen zwischen beiden Ländern zu belasten geeignet ist. Anhaltspunkte für die überragende Bedeutung des ukrainischen Wirtschaftsgebietes lassen sich jedoch ohne Schwierigkeiten schaffen, wenn man etwa die Stellung der Ukraine im Rahmen des früheren Russlands einer Prüfung unterzieht. Es sollen hier nur einige ganz allgemeine Angaben gemacht werden.

Das Territorium der russischen Ukraine (d. h. ohne Ostgalizien, Nordbukowina und die ungarischen Teile) machte nur 3 % des gesamten und 11 % des europäischen Russlands aus. Der Anteil der Ukraine an dem allgemeinen Einnahmebudget des russischen Staates betrug im Rechnungsjahr 1913/14 700 Mill. Goldrubel oder 22 % der Staatseinnahmen. Zur selben Zeit verwendete der russische Staat für die ukrainischen Bedürfnisse nur etwa 360—380 Millionen Goldrubel, oder rund 12 % des allgemeinen Budgets. Die Differenzen von 10 % (d. h. etwa 300 Millionen Goldrubel oder 44 % der ukrainischen Einnahmen) wurden für die allgemeinen staatlichen Bedürfnisse, zur Entwicklung der großrussischen Industrie und zur Deckung des Defizits des russischen Staates verwendet. Was die Handelsbilanz der Ukraine betrifft, so findet man die gleiche Erscheinung. Im Jahre 1912 betrug ihre Aktivität rund 27 %; einer Ausfuhr von etwa 700 Millionen Goldrubel stand eine Einfuhr von etwa 500 Millionen gegenüber.

Diese Zahlen sollen nur einen rohen Begriff über die wirtschaftliche Potenz der Ukraine vor dem Kriege vermitteln. Es ist selbstverständlich, dass sie deren volle Leistungsfähigkeit nicht erfassen und vor allem über ihre künftige Entwicklungstendenz keinen Aufschluss geben. Es wird im Verlaufe dieser Ausführungen noch darauf hingewiesen werden, inwiefern und nach welcher Richtung die Wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine in der Zukunft eine gewaltige Steigerung erfahren wird, die eine finanzielle und industrielle Betätigung des Auslands in der Ukraine unvergleichlich zukunftsreicher und aussichtsvoller zu gestalten bestimmt ist, als dies bisher der Fall war. Diesbezüglich möge an dieser Stelle nur folgendes angeführt werden:

Die zukünftige Ukraine wird sich von der vergangenen in wirtschaftlicher Hinsicht vor allem dadurch unterscheiden, dass in ihr das industrielle Motiv bedeutend mehr Geltung erlangen und damit den wirtschaftlichen Charakter des Landes maßgebender als bisher bestimmen wird. Zwei Momente begründen diese Anschauung:

1. Die stetig fortschreitende Erschließung gewaltiger Rohstofflager — in erster Linie der Grundelemente industrieller Tätigkeit, nämlich Kohle und Eisen — , die automatisch die Verarbeitungsindustrie, soweit sie mit ukrainischen Rohstoffen gespeist wurde, von ihrem bisherigen russischen, an sich willkürlichen Standort weg und an die ukrainischen Rohstoffquellen — heranziehen wird.

2. Der durch die Revolution besiegelte (jedoch keineswegs hervorgerufene!) Zusammenbruch des früheren wirtschaftlichen Zentralismus in Russland, der — mag sich die politische Entwicklung im Osten wie auch immer vollziehen — als eine bleibende Tatsache mit allen ihren Konsequenzen zu werten ist.

Diese Wandlung der wirtschaftlichen Struktur und damit der wirtschaftlichen Bedeutung der Ukraine zeigte sich unzweideutig bereits vor dem Kriege an, sie wurde durch den; Krieg (namentlich durch das Forcieren der ukrainischen industriellen Leistungsfähigkeit, durch die Notwendigkeit rationellster Verwendung der Rohstoffe an Ort und Stelle, durch die Evakuierung großer industrieller Betriebe aus den westlichen Randstaaten ins Innere Russlands und der Ukraine usw.) gefördert, sie gewann nach der Revolution durch den Zusammenbruch des russischen Verwaltungsapparates, des Transportwesens und der russischen Wirtschaftsorganisation überhaupt, ferner durch den staatlichen Zerfall Russlands und schließlich durch die sowjetistische Wirtschaftspolitik an Durchschlagskraft und sie wird unabweislich in der Zukunft durch die Wucht der natürlichen Gegebenheiten ihren vollen Sieg erringen. Ihr Resultat wird aber unter anderem sein: die Verschiebung des industriellen Mittelpunktes im Osten Europas von Moskau, dessen Industrie ein mehr oder weniger künstliches Produkt war — aus politischen Gründen treibhausmäßig gezüchtet, weit entfernt von den Rohstoff- und Kraftquellen — , nach dem Süden, wohin er zufolge des gewaltigen Rohstoff- und Kraftreservoirs dieses Landes, seiner günstigen geographischen und klimatischen Verhältnisse, seines beinahe vollkommenen Ineinandergreifens von Agrar- und Industrieinteressen gehört.

Es ist nur eine Frage der Zeit und der Konsolidierung der national-staatlichen Wirtschaftspolitik im Osten, wann diese Verschiebung vollzogen sein wird. Es ist möglich, dass sie ihren vollen Abschluss erlangt haben wird, wenn die gewaltigen, bisher erst durch geologische Untersuchungen erforschten Eisen- und Kohlenvorkommen im Kursk Woronischer Gebiet, die wahrscheinlich zu den größten in ganz Europa gehören, einer Ausbeutung unterzogen sein werden.

Das ist in knappsten Strichen das wirtschaftliche Bild der künftigen Ukraine, die in den nächsten Jahrzehnten aller Voraussicht nach von allen Ländern des europäischen Ostens die größten Betätigungsmöglichkeiten dem ausländischen Kapital und dem ausländischen Unternehmungsgeist zu bieten imstande sein wird. Die neue Ukraine wird dadurch der Schlüssel zur wirtschaftlichen Erschließung Osteuropas werden. Von der Ukraine aus, die alle natürlichen Vorbedingungen für ein intensives, in sich gefügtes und selbständiges Wirtschaftsleben, für das Aufblühen einer mächtigen Industrie sowohl, wie einer äußerst leistungsfähigen Agrarwirtschaft hat, wird man wirtschaftlich auch den russischen Norden beeinflussen, nicht umgekehrt. Von der Ukraine wird die wirtschaftliche Gesundung und Konsolidierung des Ostens ausgehen, und das Tempo und die Entschiedenheit ihres Wiederaufbaues wird den Aufbau des übrigen Russlands im gleichen Verhältnis bestimmen.

Was die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine betrifft, so werden sie durch zwei Gruppen von Interessen festgelegt werden; es wird zunächst eine Kräftigung und Vertiefung des vorkriegszeitlichen Handelsverkehrs zu erstreben sein und es wird weiter die Lösung großzügiger industrieller Aufgaben in der Ukraine, die sich aus ihrer neuen politischen und wirtschaftlichen Stellung ergeben werden, in Angriff genommen werden müssen. Beide Aufgaben sind nur im vollen Einverständnis mit der nationalstaatlichen Entwicklung in der Ukraine durchzuführen und darin liegt der Ausgangspunkt des künftigen wirtschaftlichen Engagements Deutschlands in der Ukraine.

Im Besonderen mögen hier noch folgende Erwägungen Raum finden:

Man kann sich schwerlich zwei Länder vorstellen, die wirtschaftlich besser aufeinander abgestimmt wären und sich vollkommener ergänzen würden, als eben Deutschland und die Ukraine. Von den ukrainischen Exportartikeln hat fast jeder für die deutsche Wirtschaft hohes Interesse. Ebenso ist die Ukraine ein Abnehmer für einen jeden deutschen Industrieartikel. Die Wiederherstellung, und der Ausbau dieses wechselseitigen Warenverkehrs ist daher die natürlichste Forderung, sie gewänne für Deutschland übrigens auch eine soziale Bedeutung, weil die deutschen Ausfuhrerzeugnisse solcher Art sind, dass sie einen beträchtlichen Arbeitslohn in sich bergen, woraus der deutsche Arbeiter ebenso wie der deutsche Industrielle und Händler Vorteile ziehen wird.

Ebenso bedeutungsvoll und für die Zukunft noch wertvoller wird eine industrielle Tätigkeit in der Ukraine selbst sein, von der in weiteren Kapiteln ausführlicher die Rede sein wird. Von Wichtigkeit ist dabei, dass das ausländische Kapital nach der Zertrümmerung des Privatkapitals in der Ukraine durch den Bolschewismus, der Lähmung, der früheren Unternehmungstätigkeit und überhaupt nach der Zerstörung des alten Wirtschaftsapparates gewissermaßen auf einem wirtschaftlichen Neuland zu arbeiten haben wird, wo es vom Anfang an ohne ernstliche nationale Konkurrenz dastehen, ein aufnahmefähiges Arbeitsgebiet vorfinden und ohne Widerstände seine Organisation durchführen würde.

Über diese zwei Betätigungsgebiete hinaus bedingen die natürlichen Hilfsmittel der Ukraine, ihre Lage an der Schwelle Zentral- und Vorderasiens, ihre Eigenschaft als unmittelbares Hinterland des Schwarzen Meeres für sie eine Transithandelsstellung, mit welcher diejenige eines anderen Nachfolgestaates des ehemaligen Russlands sich gar nicht messen kann.

Diese Bedeutung der Ukraine für Deutschland: als hervorragendes Aus- und Einfuhrgebiet; als Land reicher industrieller Ausbeutungsmöglichkeiten und als Brücke für eine Wirtschaftliche Erfassung Mittel- und Vorderasiens wird immer bestehen bleiben, mögen sich die politischen Verhältnisse im Osten wie immer gestalten und mag insbesondere die Ukraine ihre Selbständigkeit in einem früheren oder späteren Zeitpunkt durchsetzen.