Die Türkei ohne Harem

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Else Marquardsen-Kamphövener, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Harem, Frauenhaus, Familie, Vielweiberei, Konkubinen, orientalische Sitten, Abendland, Beigeschmack, Türkei, Orient, Frauenleben, Geborgenheit, Kinder
Der Titel könnte auch der Ansicht der meisten nach lauten: „Die Türkei ohne Vielweiberei“. Ist es nicht so? Und doch liegt hier schon derjenige Irrtum zugrunde, der in der Beurteilung orientalischer Sitten so verhängnisvoll ist: der Irrtum des Nichtverstehens. Denn das Wort „Harem“, das im Abendlande einen so ominösen Beigeschmack hat, bedeutet in Wahrheit nichts Anderes als „Frauenhaus“ und im übertragenen Sinne Familie. Wenn es die Sitte gestattet hätte, einen Orientalen nach dem Wohlergehen seiner Familie zu fragen — eine Ungehörigkeit, die streng verpönt war —, so hätte man nur sagen können: „Wie befindet sich Ihr Harem?“ Nichts von der Schwüle und Zweideutigkeit, die der Okzident diesem Worte beilegt, besitzt es weder als Begriff noch auch als lebende Tatsache. Es bedeutet eben jenen Teil des Hauses, der den Frauen vorbehalten ist und wird auf die Insassen mit übertragen. Diese Insassen bestanden aus allen Frauen der Familie und ihren Kindern, in den aller seltensten Fällen aber aus mehreren Gattinnen oder Konkubinen.

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Die Vielweiberei war eine sehr wenig geübte Sitte in der Türkei, und die Fälle sind an den Fingern herzuzählen, in denen sie tatsächlich vorhanden war. Meist war der Grund dann darin zu finden, dass die erste Frau kinderlos geblieben war und selbst eine zweite Gattin für ihren Mann aussuchte, um dem Hause den Segen der Kinder zu beschaffen. Viel harmlose Fröhlichkeit lebte in den Harems; viel Kinderlachen und Spielen; viel Erzählen froher Geschichten; viel Fleiß in den wunderbaren Handarbeiten des Orients, viel strenge Zucht und Sitte und viel demütiges Gehorchen und Verehren des Alters. Zwar hatten sie dieses für die Europäerin furchtbar Ermattende an ich: man war niemals allein. Besuchte man einen Harem bei Freunden, so gab es keinen Augenblick, in dem man ich selbst überlassen war; schlug man morgens die Augen auf, so hockten Dienerinnen auf diesen Augenblick wartend am Boden, und schlief man abends ein, so hörte man sie noch als letztes, dass das Bewusstsein behielt, leise lachen und reden neben sich. Der Privatmensch existierte nicht. Die selbständig lebende Frau gab es nicht. Sie war ein Teil eines Ganzen, war der Begriff „Familie“. Erst wenn sie alt war, wurde sie eine Macht und herrschte je nach ihren Fähigkeiten mit mehr oder weniger Strenge über ihre jungen Mitschwestern. Ob im Harem des Vaters, ob in dem des Gatten, den Frauen verging das Leben wie ein lieblicher Traum in der Geborgenheit - wenn kein Laut aus der Welt zu ihnen drang! Wehe aber, wenn das geschah! Wehe, wenn der sehr rege Geist der Türkin begann, sich mit den Problemen des Lebens da draußen zu beschäftigen! Wehe, wenn sie zu vergleichen begann! Dann wurde das Leben ihr zur Hölle, und sie litt die Qualen des zu lebenslänglicher Haft Verurteilten, die Kraft reichte nicht aus, um sich wirklich von innen heraus und nach außen wirkend zu befreien. Nun sind es aber schon drei Jahrzehnte, dass die Bewegung nach Freiheit unter den Frauen der Türkei einsetzte und sich in der verschiedensten Weise ausbreitete. Da war die Bewegung Groß-Turan und auch die Groß-Iran genannte; politisch jede eingestellt, doch jede mit der Befreiung der Frauen hauptsächlich beschäftigt. Schon seit nahezu fünfzehn Jahren hatte man es durchgesetzt, dass die Frauen Berufe außerhalb des Hauses ausüben konnten, und der Krieg brachte es mit sich, dass die fehlenden Männer durch Frauen ersetzt werden mussten, besonders bei der Post und ähnlichen Ämtern. Die Frauen trugen bei diesen Beschäftigungen natürlich europäische Kleidung, jedoch ein kleines Schleiertuch auf dem Kopf. Sicher ist es, dass, wenn man die Sache sich selbst überlassen hätte, in nicht allzu ferner Zeit das Leben der türkischen Frau sich den Anforderungen des neuen Werdens, das überall anklopft, angepasst hätte, und auf einer ruhevoll starken Grundlage würde sich ein wirklich wesensstarkes und lebensfähiges gebildet haben. Aber man griff mit Befehlen und Gewaltmaßregeln ein, wie das nun schon einmal in dieser Zeit der Diktatoren Sitte ist, und befahl von heute auf morgen das Verschwinden des Harems, soll heißen, das Aufhören der Abgeschlossenheit der Frau. Was also ist die Folge? Unmittelbar die, dass die Buntheit des Lebens, seine Härte, seine Lautheit auf eine große Menge von Frauen einstürmt, die dessen völlig ungewohnt sind. Frauen, die das Leben von Klosterfrauen geführt haben, jenen Klosterfrauen, die sich mit Kindererziehung und Handarbeiten beschäftigen, sehen plötzlich jenseits der Mauern, hinter denen sie ihre Tage verbrachten, ein wildes und lautes Wogen und wissen sich keinen Schutz davor. Sie sind es nicht gewohnt, im Alltag zu stehen; sie sind es nicht gewohnt, am Leben des Mannes teilzunehmen; sie sind es nicht gewohnt, in die Geschäfte des Tages hineingerissen zu werden. Sie waren bisher die Blumen, die im Verborgenen blühen und daran der Mann ich freut, der, müde von deiner Arbeit, alles Getriebe da draußen vergessen will. Sie waren die, die Frieden bedeuteten in einem stillen, abgeschlossenen Hafen, wohin das wilde Wogen des Tageslärmes nicht drang. Sie waren der Feiertag und sollen der Alltag werden! Sie sollen mappentragend durch die Straßen laufen, wie wir es tun, und den Blick des Mannes prüfend auf ihrem Antlitz ruhen fühlen – des Mannes, der fremd und fern ist und nichts mit ihrem Leben zu tun hat. Alles das sollen sie plötzlich, ohne Übergang, ohne Zwischenpause - so als risse man einem, der lange in einem verdunkelten Zimmer in der Stille saß, um die geheilten Augen langsam an das Licht zu gewöhnen, urplötzlich die Binde herunter im vollsten Sonnenlichte lauter Straßen. Die Folge ist, dass er erblindet, und zwar hoffnungslos. Seltsam, es gemahnt dieses Aufreißen der Harems an das Auflösen der Frauenklöster, das so viele gute stille Frauen ratlos dem lauten Leben preisgab. Und es gemahnt auch an die wilde Neuerungswut jenes trefflichen Fähnrichs, der am ersten Tage seines Dienstantritts in besagter hoher Charge entschlossen erklärte: „Die Schweinerei hier muss anders werden!“

Nun also, „die Schweinerei“ ist nun „anders“ geworden. Die Harems sind auf Befehl nicht mehr vorhanden, und die Kultur von Jahrtausenden soll ich innerhalb weniger Tage für erledigt erklären; die Türkei nimmt die Gesetzgebung der Schweiz an, des sachlichsten Landes, das sich denken lässt. Es steht jedem erwachsenen türkischen Staatsbürger frei, sich zu dem Glauben zu bekennen, der ihm als der rechte erscheint. Schön klingt das, frei, stark und groß. Und ist doch nichts. Wenn ein Volk aus seinem Wollen heraus sich solche Gesetze schafft, sie sich schafft aus seinem Innern, aus seinem Leben, Fühlen und Denken, dann ist es eine wunderbare Errungenschaft, und man weiß, wieviel Leid ertragen worden sein muss, ehe dieses erreicht wurde. Aber alles das geschah hier nicht. Hier wurde Todesstrafe auf das Tragen des Fes gesetzt und auch das Beibehalten alter Familiensitten mit den schwersten Strafen belegt. So aber züchtet man Reaktion und nicht Fortschritt! Wenn die starke Kraft, die in der Türkei lebt, zu ihrer Entwicklung zugelassen worden wäre - diese erstaunliche Kraft, die es vermag, einem Volke nicht nur Widerstand, sondern auch Neuschaffen zu geben, nachdem es seit achtzehn Jahren - man bedenke achtzehn Jahren! - im Kriege lebt: ich sage, wenn diese starke Kraft ihrem eigenen Entwicklungswillen überlassen worden wäre, so hätte man etwas wahrhaft Großes erleben können. Hätte es erleben können, dass die Träume der Freiheit, die gerade dieses tyrannisierte Volk seit Generationen glühend geträumt, aus sich heraus zur Tat geworden wären, und ebenso wie seinerzeit der erste Aufstand im Jahre 1900 kam, ohne dass irgendetwas Besonderes geschehen wäre, einfach, weil die Zeit reif war, ebenso wäre auch dieses große Werden eines Tages reif gewesen zur Tat. Dann hätte es keines Befehls eines einzelnen bedurft, sei der, wer immer er wolle! Dann wäre aus dem Volke selbst das Wollen gekommen, und alle alten, morschen Dinge wären von selbst gestürzt vor dem kraftvollen Ansturm des Gewordenen. Aber jetzt? Jetzt heißt es: Du musst, ob du willst oder nicht! Und das ist jammerschade. Denn hier bestand immer noch die Hoffnung, insbesondere im Hinblick auf das Frauenleben, dass vom Orient aus die wahre, die große Frauenbewegung kommen könnte, diejenige Frauenbewegung, die wir noch nicht haben, trotz Frauenstimmrecht und allem Drum-und-Dran. Denn aus der Mutter muss die große Frauenbewegung kommen; aus der, die der Welt die Männer gibt und dich als die so Gebende fühlt. Und eben das ist bei der Frau des Orients der Fall. Sie ist Mutter, vor allem Mutter, bis ins tiefste Mutter, und wichtiger als alles dünkt es sie, Mutter zu sein. Und darum ruht ihre Macht an den Wurzeln der tiefsten Kraft alles Frauentums. Darum ist von ihr so viel zu erwarten für das gesamte Frauenleben der Gegenwart und der Zukunft; darum wäre es so groß und gut gewesen, wenn man ihr die Entwicklung selbst überlassen hätte, statt sie ihr aufzuzwingen. Die Zeit, in der wir leben, ist groß, stark und reich; sie ist voll von den wunderbarsten Möglichkeiten, und nichts, das sich überlebt, wird ihrem starken reinen Atem standhalten. So konnte man auch in Ruhe das Werden der großen Freiheit im Frauenleben des Orients abwarten und brauchte nicht durch gewaltsame Verordnungen eine künstliche Reaktion zu züchten. Man hat dadurch erreicht, dass gerade die reifen Frauen, die so sehr viel bedeuten im Geistesleben der orientalischen Frau, sich zurückziehen von einer Art der Betätigung, die nur auf Äußerliches gerichtet sein kann. Sie suchen das zu halten, was ihnen immer noch als die Kraftquelle des Mannes erscheint: die Familie und ihre heilende, ruhevolle Macht. Sie lassen ihre jungen Mitschwestern wie die Füllen, die Freiheit spüren, davonrasen in das Unbekannte und warten, bis sie, zerschlagen von den Hieben des fremden Lebens, wieder in ihren Schutz zurückkehren. Sie wissen es, dass von ihnen, von den Müttern, die wahre große Befreiung ausgehen wird, und sie warten ihrer Zeit - den Harem hütend. Aber sie gelten als die Reaktionären. Dazu hat ein Befehl sie gestempelt. Doch von ihnen ist noch zu erhoffen, dass auch die Frauen des Abendlandes an ihrem Ertragen wieder erneut sehen und erkennen, dass die Welt, sei sie so oder so, um bestehen zu können, in Kraft und Schöne immer wieder dieses braucht: Ruhe in den Müttern. Das hat der auf Befehl nicht mehr vorhandene Harem des Orients uns zu sagen.

Haremsleben von einst

Haremsleben von einst