Die Traubenkur

überall, wo es guten Wein gibt
Autor: I. Z. (?), Erscheinungsjahr: 1858
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Trauben, Kur, Traubenkur, Rheinwein, Traminer, Sylvaner, Schönedel, Traubensaft, Weinsorten, Wein, Heilmittel,
Aus: Balneologische Zeitung. Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Hydrologie.
Band VII. 200. Dezember 1858. Nr. 17.
Kaum sind jemals zwei so gute Weinjahre unmittelbar auf einander gefolgt wie 1857 und 1858. Das wollen Viele dem Donatischen Kometen danken; hätten sie recht, so könnte man wohl sagen, dass dieser Stern das Schicksal von Tausenden bestimmt hat, das Schicksal der produzierenden Winzer und das der konsumierenden Trinker. Aber auch für einen nicht geringen Teil der leidenden Menschheit ist die reichliche Weinernte eine glückliche Schickung. Auf den Herbst und seine Trauben vertröstete der Arzt im Laufe des Jahres schon manchen Kranken, denn der methodische Genuss dieser Frucht ist bekanntlich ein durchgreifendes Heilmittel. Alle Funktionen des Körpers werden nach dem Gebrauche des frischen Traubensaftes mächtig angespornt, da dieser Salt an Salzen reicher als die meisten Mineralwässer ist. Die Tatsache, dass durch ihn Stockungen im Blutumlaufe und namentlich in den Gelassen des Unterleibs gelöst werden, ist so fest begründet und so allgemein anerkannt, dass in Weingegenden Manche, die sich zu den Hämorrhoidariern zu zählen für berechtigt halten, mit vollem Vertrauen und unbekümmert um etwaige Nachteile eine Traubenkur ohne ärztliche Verordnung beginnen. Ist der geschwächte und an erschöpfenden Krankheiten Leidende durch eine Traubenkur nur noch mehr herabgekommen, so rächt sich in solchen Fällen alsbald der Missbrauch dieses trefflichen Heilmittels. Nur kräftige und wohlgenährte Leute können sich einer solchen Kur unterwerfen, welche Katarrhe hämorrhoidalen Ursprungs, Leber- und Milzanschwellungen, chronische Hautkrankheiten zu beseitigen im Stande ist.

— Die abnormen Sitten unserer Zeit gebären vorzugsweise dergleichen Leiden; Diätfehler, mangelnde Bewegung und unzweckmäßige Kleidung sind die ätiologische Trias, welche jetzt ausgebreiteter als je gastrische Störungen und Stockungen in den Unterleibsorganen herbeiführt. Hierdurch gewinnt die Traubenkur für unsere Zeit an Bedeutung, denn sie wird jetzt häufiger als je, sowohl selbstständig, als auch als Nachkur nach dem vorangegangenen Gebrauch von Mineralwässern, in Anwendung gebracht.

Den Saft der Traube macht die eigentümliche Zusammensetzung seiner Bestandteile zum herrlichen Genuss- und Heilmittel. Nach Lage und Beschaffenheit des Weinbergs wechselt allerdings das gegenseitige Verhältnis der Bestandteile, die wesentlichen Elemente der Komposition aber sind stets vorhanden: Salze (namentlich weinsaures Kali, weinsaurer Kalk und Kochsalz), Säuren, Zucker, Wasser und Pflanzeneiweiß. In neuerer Zeit hat man besonderes Gewicht auf das Vorhandensein von phosphorsaurem Kalk und weinsaurem Eisen gelegt, die in rheinischen Weinsorten gefunden wurden.

— Man benutzt zur Traubenkur Gutedel, Österreicher, Kleinberger, Traminer; ferner Fleischtraube, Burgunder und Muskatellertraube; doch sind an verschiedenen Orten besondere Sorten vorzuziehen; in Gleisweiler sind die saftreichen Gutedelsorten und Österreicher die geeignetsten, in Grünberg in Schlesien genießt man Gelbschönedel, den blauen Schönedel, Traminer, Sylvaner und böhmische Trauben. Unter allen Umständen muss zum Beginn der Kur die gehörige Reife der Trauben abgewartet werden, daher kann man meist erst im Spätherbst, Mitte oder Ende Oktober, seine Kur anfangen, welche in der Regel drei bis sechs Wochen erfordert. — Zuerst genießt man früh nüchtern ein Pfund Trauben, ohne Kerne und Hülsen mitzuessen, nötigenfalls mit 3 — 4 Loth Semmel, um 10 Uhr wird eine zweite, etwas größere Portion und um 1 Uhr das Mittagsbrot verzehrt, das aus Brühsuppe und Rind-, Hammel- oder Kalbsbraten besteht; grüne Gemüse und Mehlspeisen sind völlig zu vermeiden, nur Kartoffeln, gelbe Rüben und Schwarzwurzeln erlaubt. Nachmittags wird eine dritte, aus etwa zwei Pfund bestehende Portion vorzehrt und als Abendmahlzeit eine Suppe oder Tee mit Weisbrot genossen. Allmählich steigt man je nach Erfordernis auf immer größere Portionen bis zu 7 Pfund Trauben. Die sogenannte „große Traubenkur“ beschränkt die Zukost lediglich auf Pflanzenspeisen, deren in 24 Stunden nur 8—10 Loth genossen werden dürfen, doch ist diese starke Entziehungsmethode nur in seltenen Fällen nötig.

Dass man überall, wo es guten Wein gibt, auch die Traubenkur brauchen kann, versteht sich von selbst. Doch haben die Plätze vor allen den Vorzug, wo das herbstliche Klima und die herrschende Windrichtung günstig, die Luft rein und die Vorkehrungen für die einzuhaltende Diät leicht zu treffen sind. Zu berücksichtigen ist immerhin der Reiz der Umgegend, da regelmäßige Spaziergänge, welche die Verdauung fördern, während des Genusses der Trauben jedenfalls eine Hauptbedingung für die Genesung sind; auch unterstützt der gleichzeitige Gebrauch lauwarmer Bäder die Kur auf sehr wohltätige Weise. Wer seine traubenarme Heimat nicht verlassen kann, muss sich freilich aus einer Weingegend die Trauben senden lassen; so hat man in neuerer Zeit ein regelmäßiges Transportsystem von Grünberger Trauben zum Zweck der Kur eingerichtet. Allein stets ist es vorzuziehen, sich an einen der besuchtesten Traubenkurorte zu begeben. Am empfehlenswertesten sind am Rhein: Ringen, Rüdesheim, Geisenheim, Kreuznach im Tal der Nahe, Montreux am Genfersee, Meran in Tirol; ferner Neustadt und Dürkheim an der Haardt.

Der Bericht über die diesjährige Saison in letzterem Orte lautet insbesondere sehr günstig. Er wurde von zahlreichen Gästen aus den verschiedensten Ländern besucht, welche dort Heilung und Besserung von teilweise mehrjährigen Leiden zu finden hofften, und man bemerkte unter den Fremden, denen auch die gewünschte Heilung geworden, neben vielen Norddeutschen auch Russen, Polen, Engländer und Franzosen; auch einige aus überseeischen Ländern, wie aus den Ver. Staaten und Mexiko. Es ist aber auch in Dürkheim den Fremden Alles geboten, was für einen günstigen Erfolg bei der Traubenkur notwendig ist. Neben den vorzüglichen Trauben, die dort sehr früh zur Reife gelangen, so dass die Kur in diesem Jahre bereits Ende August begonnen werden konnte, ist das Klima von Dürkheim und seiner Umgebung durch Reinheit und Milde der Luft ausgezeichnet; während der Herbstmonate hält die gute Witterung meistenteils mit großer Beständigkeit an; Abwechselung der Temperatur, wie sie in anderen Gebirgsgegenden häufig vorkommt, findet selten statt. Die für Brustleidende so nachteiligen Nordwinde kennt man hier nicht, da Dürkheim nach Norden durch Gebirgszüge geschützt ist, deren höchster Punkt, der Peterskopf, eine Höhe von 1.400 Fuß hat.

Der eigentliche Sammelplatz der Dürkheimer Kurgäste ist der reizend gelegene Kurgarten, der durch seine prächtigen Anlagen sich würdig an die schönsten der deutschen Bäder anreiht. An dessen Eingang ist der Traubenmarkt, zu dem an jedem Morgen fast alle Kurfremde pilgern, um sich für den Tag mit Trauben zu versehen. Eine gut besetzte Musik fesselt mehrere Stunden die Hunderte von Gästen, die ihr braunes Körbchen am Arme tragen und die süße Frucht genießen, welche in den Restaurationsgebäuden in Dutzenden von Körben und auf Tellern auf weißgedeckten Tafeln in reicher Auswahl zum Verkauf ausgestellt ist. Im Pavillon sind alle Sorten eingemachtes Obst in Flaschen und Schachteln ausgestellt. — Die Nachmittage werden gewöhnlich zu Ausflügen in die malerische Umgebung benutzt.

Weintraube

Weintraube "Vitis amurensis"

"Schwarzer Muscat"

"Königin Olga"