Die Totenmesse

Autor: Ueberlieferung
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In der Nähe von St. Lorenz stand bis zum Jahr 1945 ein großes Haus, das der Familie Imhoff gehörte Dort lebte einmal eine Frau, die frühzeitig Witwe geworden war, und ihr ganzes Leben lang schmerzlich um ihren verstorbenen Mann trauerte. Damals war um die Lorenzkirche herum noch ein grosser Friedhof. Man mußte also, wenn man zur Kirche ging erst an den vielen Gräbern vorbei.

Die Witwe ging täglich zur Kirche. Viele Jahre hindurch besuchte sie die Frühmesse in der Lorenzkirche, die wenigstens im Herbst und Winter noch vor Tagesanbruch dort stattfand. Einmal - es war am Allerseelentag, am 2. November - wachte sie nach unruhigem Schlummer auf. Sie glaubte, die Glocke zur Messe rufen zu hören. Hinter den Wolken stand der Vollmond am Himmel, go glaubte sie, der Tag komme schon heran. Rasch zog sie sich an, warf ihren Mantel um, und eilte durch den Friedhof hinüber in die Kirche. Die Türen standen weit offen und drinnen war die Messe schon im Gange. Viele Andächtige knieten in den Bänken und die Frau nahm still ihren Platz ein. Der Geistliche, der die Messe las, kam ihr so bekannt vor. Als er sich umdrehte, merkte sie, daß es der Pfarrer war, der vor einigen Monaten draußen auf dem Friedhof begraben worden war. Und wie sie voll Schreck sich zur Nachbarin wendet, um ihr zu erzählen, was sie da bemerkt hat, da sieht sie, daß neben ihr, hinter ihr, rings um sie herum lauter Menschen saßen, die schon längst begraben waren.

Da kam ihre Jugendfreundin leise zu ihr her gegangen, die auch schon lange gestorben war, und flüsterte ihr ins Ohr: "Klara, geh so schnell du kannst, aus der Kirche. Du hast die Totenmesse gestört. Wenn sie dich bemerken, dann werden sie dich in Stücke reissen. Leise stand Frau Klara auf und schlich auf die offene Tür zu. Die Toten hatten ihre Köpfe alle zum Gebet gesenkt. Es war ihr aber doch, als wäre hinter ihr ein Huschen und Schleichen, und als sie über den Friedhof kam, waren alle Gräber offen. Atemlos erreichte sie ihre Schwelle. Da schlug es 1 Uhr. Ohnmächtig sank sie zusammen. Am andern Morgen fand man sie dort. Sie erzählte, was sie erlebt hatte, und erinnerte sich daran, daß sie in der Nacht im Schrecken ihren Mantel hatte liegen gelassen. Die Diener gingen, um ihn zu suchen. Sie fanden den Mantel nicht mehr; aber auf jedem Grab lag ein Fetzchen davon.