Der Hühnerliebhaber

An einem frischen Herbstmorgen gab es gar trübe Gesichter rings um den Frühstückstisch; der Vater zog die Stirne kraus, die Mutter schien geweint zu haben und die Kinder salzten ihre Butterbrote mit hellen Tränen. Der Grund der allgemeinen Betrübnis war eine gräuliche Verwüstung, welche in der Nacht der Hühnerhof erlitten hatte; mehr als 30 Hühner waren tot, die übrigen versprengt und die Kinder bejammerten insbesondere die jungen, welche sie selbst vom Küchlein an groß gezogen und deren Schönheit und Gedeihen ihnen seither zur größten Freude gereicht hatten. „Das hat gewiss ein Ratz getan,“ sagte der älteste Junge. „Nein,“ entgegnete der Vater, „der Ratz oder Iltis, wenn auch ein schlauer und blutdürstiger Feind des Federviehes, tötet doch niemals mehr, als er zur Stillung seines Hungers bedarf; unsere Hühner hat ein Marder überfallen, denn allen sind die Köpft abgebissen und nur das Blut ist ausgesaugt, wie es dieses grausame Tier nicht anders zu tun pflegt. Vor Allem muss jetzt der Hühnerstall vollkommen gereinigt, gescheuert und frisch getüncht werden, weil unsere überlebenden Hühner sonst nicht mehr darin blieben, indem der durchdringende Geruch des nächtlichen Räubers sie fortwährend zurückscheuchen würde. Dann aber wollen wir dafür sorgen, dass der Bösewicht selbst seinen Lohn bekommt!“

Am Abend desselben Tages stellte der Verwalter in den Hühnerhof eine Kastenfalle, in welcher ein junges weißes Huhn festgebunden war, das sein unheimliches Loos im Voraus zu ahnen schien und halb unterdrückte klägliche Töne ausstieß. Zwei Nächte lang saß das arme Geschöpf als Lockspeise in der Falle ohne Erfolg; aber in der frühesten Stunde des dritten Tages kam schon der älteste Junge zu seinem Vater gelaufen und schrie aus vollem Halse: „Wir haben ihn, wir haben den Hühnerdieb!“ Natürlich stürmte Alles hinaus in den Hühnerhof, wo schon die gesummte Bevölkerung des Gutes versammelt war. Der Hausherr blickte in die Falle; da saß dicht an das vor Angst halb todte, aber außerdem unberührte Huhn geschmiegt kein Marder, kein Iltis, sondern ein kleines, rotes Wiesel. Er lachte und rief: „Diesmal sind wir angeführt! Fort, du kleiner Schelm, dich wollte ich nicht, du magst laufen!“


„Wie?“ rief der Verwalter, „Sie wollen doch nicht dem schädlichen Tiere die Freiheit schenken? Wenn es auch an unserm großen Hühnermorde unschuldig ist, so hat es doch gar viele andere Sünden auf dem Gewissen und ist ein zu gefährlicher Nachbar unseres Geflügels, als dass man die Gelegenheit, es zu vertilgen, unbenutzt lassen dürfte. Dieb ist Dieb, sei er groß oder klein!“
„Ja wohl,“ fiel der Großknecht ein, „und wer errät, wie viele Eier das Wiesel da uns schon gestohlen hat! Jedermann weiß, dass es dieselben unter seinem langen Halse fortschleppt, indem es sie mit dem Kopfe fest an die Brust andrückt.“

„Und Jedermann weiß auch, dass es den schlafenden Ziegen in den Hals kriecht und ihnen die Leber abfrisst,“ bemerkte die Magd. „Dann findet mancher arme Mann Morgens seine Ziege, sein bestes und fast einziges Besitztum, tot im Stalle und ahnt nicht, woran sie gestorben ist.“

„Richtig und den Fohlen beißt es die Adern auf und saugt ihnen das Blut aus,“ sagte der Pferdeknecht.

„Und es frisst sich in fette Schweine hinein,“ rief der Schweinejunge, um ebenfalls sein Licht leuchten zu lassen.

Der Hausherr hörte allen diesen Anklagen still lächelnd zu; plötzlich aber öffnete er den Schieber der Falle und husch wie ein Blitz war das schlanke Tierchen verschwunden, Niemand wusste wohin.

„Was ihr da geredet habt, ist Alles Unsinn und Aberglaube,“ sagte er sodann zu dem Gesinde. „Das Wiesel holt zwar gelegentlich ein Küchlein aus dem Hofe, oder eine junge Taube aus dem Schlag, doch der kleine Schaden, welchen es dadurch stiftet, ist nicht des Erwähnens wert gegenüber der großen Wohltat, die wir ihm zu verdanken haben. Ratten und Mäuse hätten uns vielleicht schon ausgezehrt, wenn das kleine Tier nicht unablässig Krieg mit diesen schlimmen Gästen führte. Wenige Katzen haben Gefallen an der Rattenjagd, aber das kleine Wiesel ist unermüdlich auf derselben. Vermöge seines schlanken, dünnen Körpers, der sich durch die engsten Ritzen klemmt, verfolgt es Ratten und Mäuse bis in ihre geheimsten Schlupfwinkel und richtet unter densellben blutige Niederlagen an. Die zornigste Ratte, welche sich selbst gegen eine Katze zur Wehre setzt, vermag Nichts gegen diesen geschmeidigen und behenden Feind. Und so lange das Wiesel seine Lieblingsnahrung in Überfluss findet, so lange wird es auch unserm Federvieh nicht gefährlich. Gelegenheit macht Diebe und da ist es ihm denn leicht zu verzeihen, dass es heute in die Falle gegangen ist. Was Ihr außerdem von ihm erzählt habt, ist alles erfunden und erlogen. Wenn es die Eier tragen wollte, wie Ihr angebt, so sollte es nicht weit damit kommen; dass es große Tiere anfalle, ist zwar vorgekommen, wenn es sich zur Wehre gesetzt hat, aber sonst nicht; der Weg durch die Gurgel einer Ziege zur Leber derselben wäre selbst einem Wiesel unmöglich, und von Pferdeblut und Schweinefett ist es durchaus kein Liebhaber, oder habt Ihr, Leute, das selber gesehen, was Ihr da erzähltet?“

„Das gerade nicht — nein,“ erwiderten Alle zögernd. — Statt der Kastenfalle wurde nun ein Tellereisen gestellt, um den rechten Mörder zu fangen. Schon am nächsten Morgen war es zusammengeschlagen, aber es fand sich Nichts darin, als der linke Vorderfuß eines Marders. Das entschlossene Raubtier hatte, der Gefahr wohl bewusst, sich das Bein selbst abgebissen und war entflohen. Gar manches Opfer fiel ihm noch, denn erst zwei Jahre später schoss der Verwalter den an seinem verstümmelten Fuß wohl kenntlichen Hühnerliebhaber.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Tierwelt und der Aberglaube