Zurück oder vorwärts?

Es ist eine Tatsache, dass sich heute nach 7 Jahren moderner parlamentarischer Verfassungsform in Mecklenburg schon wieder Stimmen an die Öffentlichkeit wagen, welche mit klaren Worten oder versteckten Andeutungen für die altständische mecklenburgische Verfassung eintreten und es so hinstellen, als habe sich das Land unter dieser Staatsform wohl gefühlt und Glück und Segen durch sie gehabt. So hat z.B. der Fraktionsvorsitzende der deutschnationalen Volkspartei, Herr Forstmeister Iven, im Landtage am 4. Februar 1926 Von den Vorzügen des alten ständischen Landtages gesprochen. Derselbe habe viel billiger gearbeitet als der jetzige Landtag und es sei gute sachliche Arbeit von ihm geleistet worden.

In der Nr. 9 des „Mecklenburger“ vom Jahre 1924, einer ritterschaftlichen Zeitschrift, wird folgender Ausspruch des Frh. von Maltzan (Peckatel) auf dem Landtage 1867 zitiert: „Mecklenburg hat seinen deutschen Sinn und Charakter seit lange glänzend bewährt, sowohl durch treue Erfüllung seiner Pflichten gegen Kaiser und Reich, als sonderlich dadurch, dass es durch Bewahrung seiner ständischen, charakteristisch deutschen Verfassung, dem andringenden ausländischen deutschfeindlichen Einflüsse den stärksten Widerstand geleistet hat. Das gilt in Bezug auf den nach französischem Vorgang andringenden Absolutismus im Anfang des vor. Jahrhunderts; das gilt in Bezug auf die gegen solchen Absolutismus reagierende Revolution zu Ende jenes Jahrhunderts . . . Heute (also 1867) ist es Mecklenburgs Aufgabe, gegen eine andere eben so wenig in deutschem Boden wurzelnde politische Richtung nach Kräften Widerstand zu leisten: gegen die Tendenz zur Bildung großer, konzentrierter, alles nivellierender Militär-Monarchien, welche die Keime aufreibenden Kampfes zwischen Militärdiktatur und demokratischer Republik in sich tragen —, eines Kampfes, in welchem deutsches Leben und deutsche Freiheit niemals gedeihen können.“ Und im Anschluss an dieses Zitat schreibt das ritterschaftliche Blatt in der Nr. Vom 27. September 1924: „Heute stehen wir mitten in diesem Kampf zwischen Diktatur und demokratischer Republik. Mecklenburg hat sich noch seine Eigenart bewahrt, Mecklenburg besitzt ein Fürstenhaus, bodenständig und im Lande wurzelnd, welches nie absolutistischen Neigungen gehuldigt, nie einen Finger breit Vom Wege des Rechts abgewichen hat und dem auch die Revolution nichts von seinem Ansehen, seiner Ehre und Würde rauben konnte. Sollte es so unmöglich sein, in Mecklenburg unter Ablehnung der preussisch-kleindeutschen Auffassung von Monarchie und der formaldemokratischen Republik eine Staatsform zu finden, die an alte deutsche Vorbilder anknüpft und in der wahrhaft deutsches Lehen und deutsche Freiheit gedeihen können?“


Solche Aussprüche können nur auf dem Boden völliger geschichtlicher Unkenntnis entstehen und Beifall finden. Der alte mecklbg. Landtag soll gute und billige fachliche Arbeit geleistet haben, die alte Verfassung soll ein Hort des Deutschtums gewesen sein, und deutsches Leben und deutsche Freiheit sollen in ihr geblüht haben! Eine größere Unwahrheit kann nicht erfunden werden. Jahrhunderte lang hat die Ritterschaft auf Kosten der Gesamtheit in ihre eigene Tasche hinein gewirtschaftet. Zu vielen Tausenden wurden deutsche Bauern zu Knechten gemacht und ins Ausland getrieben und an ihre Stelle Polen ins Land gerufen. Der Anschluss Mecklenburgs an den französischen Rheinbund unter Napoleon wurde begrüßt, die deutschnationalen Einheitsbestrebungen in den 60er Jahren wurden polizeilich verfolgt. Die geistige Entwicklung des Volkes wurde durch eine unglaublich vernachlässigte Schulbildung bewusst auf der niedersten Stufe gehalten. Die Ritterschaft wehrte sich nur dann und nur insoweit gegen alles „Ausländische“, als sie ihre geheiligten Vorrechte dadurch bedroht sah, und aus eben diesem Grunde lehnte sie auch die nationale Einheitsbewegung unter Bismarcks Führung ab! ?
Und was die Billigkeit des alten Landtages betrifft, so muss man doch fragen: Wollte denn die Ritterschaft dafür, dass sie die Macht rücksichtslos zur Förderung, ihrer Standesinteressen ausnutzte, noch außerdem eine Bezahlung haben? So sieht die Wahrheit aus und sie ist dem Volke lange genug verheimlicht worden. In den Schulen wird nichts darüber gelehrt, und es gibt nur noch ganz wenige Bücher, welche uns gründlich und Vollständig über die geschichtlichen Vorgänge in Mecklenburg unterrichten. Diese Bücher sind nur noch in einzelnen Exemplaren in wenigen Bibliotheken zu finden und der Allgemeinheit nicht zugänglich. Es ist darum ein dringendes Bedürfnis, in einer kurzen allgemein verständlich gefassten geschichtlichen Darstellung die Taten der meckl. Ritterschaft der Vergessenheit zu entreißen.

In diesem einleitenden Kapitel soll aber auch noch darauf hingewiesen werden, dass wir auch in der meckl. Literatur gewaltige Zeugen für die Vergangenheit besitzen in Gestalt der beiden größten meckl. Dichter Fritz Reuter und Johann Heinrich Voß. Diese beiden Männer haben uns laut und vernehmlich genug aus der meckl. Vergangenheit berichtet, aber nur ganz Wenige von denen, die es angeht, haben es gehört. Die bürgerliche Presse schweigt diesen Fritz Reuter und diesen Johann Heinrich Voß geflissentlich tot und die Bauern und Arbeiter lesen diese Dichter selbst zu wenig.
Wie sah es mit dem „deutschen Leben“ und der „deutschen Freiheit“ hier im Lande aus? Hören wir Fritz Reuter:   „Kein Hüsung“, letztes Kapitel:
  „Un as min armes junges Hart
  Mit einen säuten Wunsch sick drög,
  De sülwst den swarten Slawen ward:
  Dat ick tau'm Wiw min Mäten kreg,
  Dunn würd' ick an de Räf’ rüm ledd’t — —
  Kein Platz in minen Vaderlann'! — —
  Min Dirn. de kamm in Schimp un Schann',
  Un up uns' Hart würd' rümmer pedd't,
  As wir't en Stein. — — Dat was Gesetz!
  Gott hett em (den Fluch) hürt. — Up sin Gebot
  Teihn Dusend nah Amerika,
  Un dusend Anner folgen nah;
  Nu is 'e Rum, nu 's Platz in'n Lann'!
  De Herren, de hollen't nich för Schann',
  Tau bidden de, de f' eins versmadten.
  Is dat nich Fluch? — Sei will'n sick Lüd
  Ut arme Gegend kamen laten. —
    De olle Stamm,
  De hir Johrdusend wahnt, de fall
  Vör Snurrers un vör Fremden wiken?
  Un denn worum? Worüm dit All? —
  Blot dat noch riker ward'n de Riken,
  Un dat de Herrn von Kohl un Räuwen
  Ok aewer Minschen Herrschaft äuwen!“ —

Und hören wir Johann Heinrich Voß in seinem 1794 erschienenen Gedicht „Die Leibeigenen“:

  „Was, noch Treue verlangt der unbarmherzige Fronherr?
  Der mit Diensten des Rechts (sei Gott es geklagt) und der Willkür
  Uns wie die Pferde abquält, und kaum wie die Pferde beköstigt?
  Der, wenn darbend ein Mann für Weib und Kinderchen Brodkorn
  Heischt vom belasteten Speicher, ihn erst mit dem Prügel bewillkommt, Dann aus gestrichenem Maß einschüttet den kärglichen Vorschuss? Der auch des bittersten Mangels Befriedigung, welche der Pfarrer
  Selbst nicht Diebstahl nennt, in barbarischen Marterkammern
  Züchtiget und an Geschrei und Angstgebärden sich kitzelt?
  Der die Mädchen des Dorfes mißbraucht, und die Knaben wie Lastvieh Auferzöge, wenn nicht sich erbarmten Pfarrer und Küster?“

Hören wir Frh. vom Stein:

  „Die Wohnung des meckl. Edelmannes, der seine Bauern legt, statt ihre Zustände zu verbessern, kommt mir vor, wie die Höhle eines Raubtiers, das alles um sich verödet und mit der Stille des Grabes umgibt.“

Und Ernst Moritz Arndt sprach in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ vom 29. Mai 1858 von dem   „Schaurigen, ja schauderhaften Zustand des Landes, worin man die letzten Reste des Gottlob meist entfeudalisierten Deutschland leider zu jammervoll noch erblicken kann“.

So lauten die Antworten auf Frh. von Maltzan’s heuchlerischen Wortschwall, und auf die kindliche Behauptung des Herrn Forstmeisters Iven von der „fachlichen“ Arbeit des Landtages wird die folgende Darstellung die Antwort geben.
Dies Büchlein will nichts weiter als wirken durch die Macht geschichtlicher Tatsachen. Es enthält eine Zusammenstellung von solchen aus verschiedenen allgemein anerkannten Geschichtsbüchern unter gemeinsamen Gesichtspunkten. Absichtlich ist sehr vieles wörtlich zitiert worden, um dem Leser einen unmittelbaren lebendigen Eindruck zu vermitteln und von vornherein dem Einwand zu begegnen, als sei die Darstellung parteipolitisch gefärbt.
Das Büchlein soll helfen zu der Entscheidung, ob und in welcher Weise wir unsere Verfassung umgestalten können, und zwar zunächst in der Richtung, ob und inwieweit wir an Vergangenes anknüpfen können. Um das beurteilen zu können, müssen wir eben die alte Verfassung und ihre Wirkung auf das Volksleben kennen! Es ist durchaus möglich, dass unsere jetzige Verfassung einer Verbesserung bedarf, doch das will ich zu beweisen versuchen, dass eine solche nimmer mehr in der Rückkehr zur alt-ständischen Verfassung bestehen kann. Und weiter ist es mein Wunsch, dass meine Ausführungen ein für allemal dem Gerede ein Ende machen, als habe die meckl. Ritterschaft jemals etwas Verdienstvolles für das Land und seine Bewohner getan. Niemals wieder darf das meckl. Volk hinter den Männern herlaufen, welche es bis 1918 hin in der schmählichsten Weise ausgenutzt haben und von denen es daher jetzt nicht mit einem Male sein Heil erwarten kann. Wenn sie auch in neuerer Zeit nicht unmittelbar die Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaschine beherrschen, so haben sie es doch in sehr geschickter Weise verstanden, ihren Einfluß in den bürgerlichen politischen Parteien und den so genannten Wirtschaftsbünden bis zum Rentnerbund herab geltend zu machen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sünden der mecklenburgischen Ritterschaft.