Wesen der ständischen Verfassung.

Wenn man als „Staat“ das organisierte Volk ansieht, dann war Mecklenburg bis 1918 überhaupt kein Staat. Es gab weder eine gesetzgebende noch eine ausübende Gewalt für das Volk. Alle Macht war an das Grundeigentum geknüpft und es gab nur drei Grundeigentümer: Landesherr im Domanium, Ritter im ritterschaftlichen Gebiet und Städte im städtischen Gebiet. Jeder hatte in seinem Bereich die öffentliche Gewalt, die eben ein Ausfluß des Grundeigentums war. Mit dem Verkauf eines Rittergutes ging die öffentliche Gewalt auf den Käufer über. Der Landesherr stand nicht in direkten Beziehungen zu der Gesamtheit der Untertanen seines Landes. Er konnte als Grundherr im Domanium frei und ohne jede Kontrolle schalten und walten, darüber hinaus hatte er weder ein unmittelbares Gesetzgebungs- noch Verwaltungs- noch Besteuerungsrecht. Zur Gesetzgebung war die Mitwirkung der Stände (Ritter und Städte) erforderlich, sie wurde aber nicht in dem Sinne ausgeübt, daß Landesherr und Stände hierbei die Gesamtheit des Volkes vertraten, vielmehr vertrat jeder nur seinen Grund und Boden, und die Bevölkerung spielte nur die Rolle von Zubehör desselben. Ein Staatsbürgertum war unbekannt, es gab nur Untertanen, die lediglich Objekt der Gesetzgebung waren. Weder Landesherr noch Stände „repräsentierten“ irgendwelche Volksteile sondern lediglich ihr Grundeigentum.
Hierzu als Belege einige Sätze aus Schlesinger S. 29 ff.: „Unter Verwechselung und Vermischung der Begriffe Staatsgewalt und Eigentum knüpft die ständische Verfassung staatsrechtliche Befugnisse als Ausflüsse des angestammten Eigentums (Patrimonium) an den Grundbesitz an (Patrimonialprinzip). Mit dem Grundbesitz ist die Gewalt verbunden. Das öffentliche Recht wird wie ein Privatrecht betrachtet, dessen Uebung oder Nichtübung dem Berechtigten freisteht und dessen Veräußerung erlaubt ist.“ „Ein repräsentativer Charakter ist den Ständen abzusprechen. Sie vertreten ihren Grund und Boden der Landesherrschaft gegenüber und damit zugleich ihre hörigen Hintersassen, die nur als Zubehör Desselben in Betracht kommen. Als die Leibeigenschaft aufhörte, wurden die Stände zu Vertretern nicht nur des Grund und Bodens, sondern auch ihrer nunmehr freien Hintersassen.“
„Die Staatsangehörigen sind nur Untertanen, keine Staatsbürger.“
Das Wesen des ständischen Staates liegt also darin: Die Bevölkerung hat keinerlei Rechte der Mitwirkung im öffentlichen Leben, ja sie hat nicht einmal eine Staatsgewalt, deren Ziel das Gesamtwohl wäre. Die Staatsgewalten kraft Grundeigentums, nämlich Landesherren, Ritter und Städte, vertreten lediglich ihre eigenen Interessen und geben davon jeweilig nur soviel preis, als nötig ist, um die Zustimmung der anderen gesetzgebenden Gewalten zu erlangen. Die Gesetze sind nichts anderes als Verträge zwischen Landesherrn und Ständen, bei denen jeder Teil nur seine Interessen im Auge hat (vgl. Schlesinger S. 30).
Nun versteht man ganz, welche Machtfülle dem Landesherrn und den Rittern ihren Hintersassen gegenüber zustand. In den Städten hatte sich die Bevölkerung ein Recht zur Mitwirkung verschafft und damit indirekt auch einen gewissen Einfluß auf die Gesetzgebung erlangt, wenn derselbe auch bei der Selbstherrlichkeit der auf Lebenszeit gewählten Bürgermeister nur äußerst gering war. In der Ritterschaft und im Domanium aber war die Bevölkerung von jeder Mitwirkung ausgeschlossen, sie war jeder Willkür ausgesetzt und hat das jahrhundertelang in traurigster Weise erfahren müssen. Freilich bestand auch hier noch ein bedeutender Unterschied. Das Domanium war zu groß, um nach Launen und Willkür verwaltet zu werden. Allgemeine Verordnungen, Dienstanweisungen und eine z. T. wohlwollende Beamtenschaft boten eine gewisse Gewähr für eine loyale und korrekte Handhabung der Gewalt. In der Ritterschaft dagegen war die Abhängigkeit der Bevölkerung geradezu grenzenlos, und die Schulverhältnisse wie die Lage der Bauern und Tagelöhner im allgemeinen waren das Spiegelbild der unbeschränkten Herrschaftsgewalt der Ritter.
Es ist klar, daß die Ritterschaft um diese ihre Machtstellung, die es ihr erlaubte, sich zahlreiche Vorteile auf Kosten der Allgemeinheit anzueignen (Steuerprivilegien, Nießbrauch der Landesklöster usw.) und die Arbeitskraft ihrer Hintersassen auf das rücksichtsloseste auszubeuten, gegen die allmählich immer mehr vordrängenden liberalen und sozialen Gewalten auf das erbitterste gekämpft hat. Das ist verständlich und sollte ihr verziehen sein, wenn es nicht in einer so hinterlistigen, rechtswidrigen und heuchlerischen Art und, entgegen der Geistesrichtung der gesamten Kulturwelt, bis zu dem Augenblick hin geschehen wäre, wo ihnen mit Gewalt das Heft aus der Hand geschlagen Wurde. — Verfolgen wir diese Kämpfe, die uns einen tiefen Einblick in den Charakter der Ritterschaft gewähren.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sünden der mecklenburgischen Ritterschaft.