Nationale Einheitsbestrebungen.

Es begann jetzt die Zeit, wo die mecklenburgische Bevölkerung ihre Hoffnungen auf die nationalen Einheitsbestrebungen im ganzen Deutschland setzte. Bismarck hatte dieser Bewegung die Richtung auf ein geschlossenes Deutschland unter Führung des Königs von Preußen, dem ein auf allgemeinen direkten Wahlen beruhendes Parlament zur Seite stehen sollte, gegeben. Man sagte sich in Mecklenburg mit Recht, daß ein solcher Einheitsstaat mit parlamentarischer Form auch auf die heimischen Verhältnisse zurückwirken müsse, und daß der feudale Ständestaat mit solcher Bundes- oder Reichsverfassung unvereinbar sei. Er würde Volksvertretungen in allen Bundesstaaten zur Voraussetzung haben und Mecklenburg besaß eine solche nicht.
Der Kampf um die Verfassungsreform wurde demgemäß immer mehr außerhalb Mecklenburgs, und seit dem Jahre 1867 in den Norddeutschen Bundestag und Deutschen Reichstag verlegt. Wer hätte damals ahnen können, daß sich das Meckl. Gebilde wie ein vorsintflutliches Ungetüm im freiheitlichen Deutschland noch 60 Jahre würde halten können!
Im September 1859 war der „Deutsche National-Verein“ in Frankfurt a. Main gegründet worden mit dem Zweck der Einigung Deutschlands auf gesetzlichem Wege. Wie verhielt sich die Ritterschaft, welche sich heute „deutschnational“ nennt, zu diesen Bestrebungen? Sie sah darin eine umstürzlerische Bewegung, deren Ziel es war, die „bewährte“, d. h. reaktionär gestaltete, Bundesverfassung zu beseitigen. und sie sah vor allem die ständische Verfassung in Mecklenburg in Gefahr. Darum widersetzte sie sich, solange sie irgend konnte, der nationalen Einheitsbewegung, und suchte sich, als das energische Vorgehen Bismarcks den Anschluß an den Norddeutschen Bund erzwungen hatte, wenigstens dagegen zu sichern, daß die Zentralgewalt in die inneren Verhältnisse Mecklenburgs eingreifen konnte. Es steht außer jedem Zweifel, daß der Ritterschaft an Bismarck und der nationalen Einigung Deutschlands nicht das mindeste gelegen war, ja, daß Sie sich derselben feindlich entgegenstellte. Veral, dazu die Darstellung Hellmuth von Oertzen über das Leben und Wirken seines Vaters.
Die Teilnahme an dem „Nationalverein“ wurde verboten und diejenigen, welche durch den „scheinbar patriotischen Zweck sich zum Anschluß an ein derartiges Treiben“ versucht fühlen möchten, vor den Folgen gewarnt. Trotzdem traten zahlreiche Mecklenburger dem Verein bei, und die Regierung wagte auch zunächst nichts zu unternehmen. Im Oktober 1863 forderte aber das Ministerium von Oertzen einen Bericht über eine Versammlung des Nationalvereins in Rostock ein. Daraufhin leitete das Rostocker Polizeiamt eine Untersuchung gegen 43 Mitglieder des Vereins ein, die mit einer Bestrafung derselben zu Geldstrafen von 5—20 Thalern endete. Für die Zukunft wurden höhere Strafen angedroht. Die Berufung an den Rat der Stadt Rostock aber hatte Erfolg, alle Angeklagten wurden freigesprochen.
Damit war die Sache aber nicht zu Ende. Das Ministerium von Oertzen verlangte im Aufsichtswege, daß der Rat der Stadt Rostock das im ordentlichen Verfahren ergangene Urteil wieder aufheben sollte, weil, wie es in dem Befehl hieß, „ihr euch erdreistet habt, dem bestehenden Verbot des gedachten Vereins in Unserem Lande die verbindliche Kraft abzusprechen“. Der Rat weigerte sich, weil er diese Zumutung mit seiner richterlichen Ehre nicht für verträglich hielt. Darauf befahl der Minister dem ersten Bürgermeister der Stadt Rostock Dr. Zastrow 25 Soldaten und einen Leutnant so lange ins Haus zu legen, bis das freisprechende Urteil aufgehoben sei. Das geschah und die Zimmer der Frau des Bürgermeisters wurden belegt. Diesem Zwange nachgebend hat dann der Rat sein Urteil aufheben müssen. So geschehen im Rechtsstaat Mecklenburg-Schwerin im Jahre 1865! (J. W., Aus meinem Leben S. 205—10.)

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sünden der mecklenburgischen Ritterschaft.