Zingst

Hören wir den Bericht eines Augenzeugen vom Zingst. Er berichtet aus eigener Erfahrung:

„Am 13. November, Morgens 7 Uhr, erfuhr ich, dass die See höher steige und dass das Wasser sich schon innerhalb des Deiches zeige. Ich war jetzt, wie wohl alle meine Mitbürger, zunächst darauf bedacht, mich mit Lebensmitteln zu versehen für den Fall, dass ich längere Zeit abgesperrt sein würde. Doch kaum hatte ich meinen 14jährigen Sohn zum Bäcker abgeschickt, als in Folge der Deichdurchbrüche im Zeitraum weniger Minuten nicht nur die Straßen unter Wasser gesetzt waren, sondern das Wasser auch alsbald auf die Höfe und in die Häuser eindrang. Ich flüchtete mit den Meinen in das Oberzimmer. Immer heftiger weht der Sturm aus Nordosten, der gefährlichsten Richtung. Immer höher steigt das Wasser. Allmählich verschwinden selbst höher gelegene Stellen und bald ist Alles ein Meer, aus dem nur die Häuser und Stallungen hervorragen. Einzelne Teile des Schornsteines und des Daches stürzen prasselnd auf die Decke nieder und vereinigen sich mit dem Peitschen des Sturmes und dem Tosen der Wasserwogen zu einem Konzert, wie es wohl selten Jemand gehört. Man wird es mir unter diesen Umständen nicht verdenken, wenn ich unser Aller Untergang vor Augen sah. Ich ließ meine Sorge so wenig wie möglich die Meinigen merken, sie auf die leidlich feste Bauart unseres Wohnhauses vertröstend. Man wird es mir ebensowenig verdenken, wenn ich mich einer Flaggenleine zu bemächtigen suchte und den stärksten Dachsparren aufsuchte, um im Augenblicke der höchsten Not Weib und Kind - und wo war jetzt alles Andere? - daran festzubinden. Meine Frau war oder schien so gefasst, als ich es nur verlangen konnte, und mein kleiner 5jähriger Sohn unterhielt uns, die Gefahr nicht ahnend, durch seine harmlosen Plaudereien. Ich weiß nicht, war's mir zum Trost oder zur Qual. Und immer höher steigt das Wasser. Auf dem uns umgebenden Meere treiben dahin: Tonnen, Eimer, Karren, Zäune. Balken, Tische, Kisten, Schweine und noch so Vieles, was wir nicht erkennen konnten. Sind auch schon Menschenleichen dabei? - Endlich gegen 2Uhr Nachmittags wendet sich der Wind östlicher, das Wasser steigt langsam. Ein Hoffnungsstrahl! Ich peile regelmäßig meine Treppe. In der letzten halben Stunde kein Steigen bemerkbar. Ich beobachte scharf die Wetterfahne meines Nachbars. Sie schwankt heftig, aber nach und nach über Osten hinaus nach Süden. Kurz vor Sonnenuntergang zerteilt sich der Himmel und die bald scheidende Sonne überflammt das zerklüftete Gewölk noch einmal mit goldglänzendem Schein, glitzernde, springende Reflexe über die bewegten Wasserfluten werfend. Seht hin! Vielleicht schaut ihr sie zuletzt, die Spenderin des holden Lichtes! Ich begebe mich wieder in das, östlich gelegene Zimmer. Der aufsteigende volle Mond bricht durch die Wolken, die weite Wasserfläche mit einem ungewissen Lichte bedeckend, und blickt in aller Ruhe herab auf das Bild des Schreckens, des Elends und der Zerstörung, welches er beleuchtet. Der Sturm hat an Gewalt nachgelassen. Aber wird er sich nicht um Mitternacht wieder erheben, wird er sich nicht wieder nordwärts wenden, werden die wieder aufgewühlten Wasserberge nicht Alles bedecken mit einem nassen Grab? Aber die Weiterfahne steht fest. Wir hoffen. Aber was hoffen wir? Nur das Leben zu reiten, weiter nichts. Alles Bewegliche ist vernichtet. Endlich bricht der Morgen an. Gott hat dem Wasser Einhalt getan. Einzelne Rufe hallen über den Wassern daher. Ich öffne das Fenster und - o welche Gnade - aus der Dachluke eines nahen Nachbarhauses schallt mir der fröhliche Ruf entgegen: Vater, ich bin hier!"


Leider sind nicht alle Bewohner auf dem Darß und Zingst, wie die obigen, mit dem Leben davon gekommen. Vielmehr sind viele Menschenleben zu beklagen. In Prerow ertranken 11 Personen. Vom Kirr, einer kleinen Insel im Süden vom Zingst, wird mitgeteilt, dass mit einem Katen 5 Menschen, Vater, Mutter und 3 Kinder, fortgespült sind und das Leben verloren haben. Ein Schiff ist über die Dünen geworfen und steht dort, wo sonst Acker ist; die Mannschaft sucht sich hier zu retten, aber sie ertrinkt in den Wogen. Der Darß ist bei Ahrenshoop durchbrochen. Die Dünen, teilweise 40 Fuß hoch, sind weggewaschen. Tückisch verbreiten sich die Fluten über den Darß und Zingst. Die Menschen fliehen in die Oberzimmer in ihren Häusern. In den Ställen wird es still, totenstill. Und als die Wasser fallen, als das Meer seine Beute genommen und die Menschen sich wieder herunter nach dem Erdboden wagen, da schauen sie erst die grässliche Fülle des Unheils. Leichname von Menschen und Tieren liegen auf dem schlammigen Acker. Da, wo die grüne Saat gestanden, erblickt das Auge den unfruchtbaren Seesand. Häuser und Ställe, wenn die Fluten sie nicht mit Stumpf und Stiel mit sich fortgerissen, ragen, Ruinen gleich, aus der allgemeinen Verwüstung hervor. Kein Weg, kein Steg mehr zu schauen, die Bäume entwurzelt, die Vorräte in Kammern und Kellern verdorben, die Brunnen mit Salzwasser überflutet, die Fächer der Wände durchbrochen, Möbel und Kleider, Holz und Torf von den Wogen weggerissen. Schlamm und Sand in den Häusern und vor der Tür der nagende Hunger! Es ist eine bekannte Erscheinung, dass gewaltige Katastrophen in der Natur und unvorhergesehene und ungeahnte Ereignisse bald erregend, bald lähmend auf die Menschen wirken. So auch hier. Während manche Personen, wie von einem Paroxismus befallen, ihnen selbst kaum bewusst, die weise Gerechtigkeit lästernd anklagen, dass ihnen Alles, was sie besaßen, geraubt, - versinken wieder andere in einen völlig apathischen Zustand, derartig, dass sie wie träumend umhergehen und gleichgültig auf all das Elend blicken, das sie umgibt. Während die Einen laut fordern, dass der Staat sie hinüber nehmen müsse nach dem Festlande, weil sie in dem heimgesuchten Lande nicht bleiben könnten, sitzen Andere stumm vor sich hinschauend, mit starren Blicken sehend in den Schlamm zu ihren Füßen, keines Wortes, keiner Bitte mächtig. Ähnliche Schreckensszenen haben sich auch an den anderen Orten abgespielt.