Warnemünde und Umgegend.

Der 13. November war für Warnemünde ein Tag, der dem, welcher ihn erlebt, nie aus der Erinnerung schwindet. Hatte man dort wohl gelesen von großen Überschwemmungen und all dem Elend, die solche mit sich führten, so blieb es eben bei dem Mitgefühl, bei der geschenkten Teilnahme, eine rechte Vorstellung von der ganzen Lage konnte man jedoch nicht haben. Jetzt aber können die Warnemünder aus Erfahrung reden, ist ihnen doch der Tod in grauenhafter Gestalt so nahe vor die Augen getreten, dass es nur noch Stunden bedurfte, um den Ort mit seinen 1.600 Menschenleben zu vernichten.

Schon am Dienstag wehte es stark aus Nordost. Die hochgehende See jagte eine solche Menge Wassers in den Strom, dass dieser schon Abends gegen 5 Uhr bis zur Höhe der Molen vollstand und die Ost- und Westniederungen bereits mehrere Fuß unter Wasser gesetzt waren. Aus Vorsicht hatten mehrere Lotsen und Fischer ihre Boote aufs Land gezogen, andere aber die ihrigen nur sorgfältiger am Bollwerk befestigt, weil diese zum nächsten Morgen auf besseres Wetter hofften. Aber es sollte anders kommen! Der nordöstliche Sturm verwandelte sich um Mitternacht in einen nordöstlichen Orkan, der durch seine zerstörende Kraft und seinen fürchterlichen Druck auf die Dächer, Fensterscheiben, Veranden etc. bald alle Bewohner des Ortes, Groß und Klein, aus den Betten zu scheuchen wusste, die einen zur Ausbesserung ihrer Häuser, die andern zur Rettung ihrer Jollen trieb, die noch in dem schrecklich zurücktobenden Strome lagen. Unter diesen Anstrengungen, jedoch in fieberhafter Aufregung vergingen die Stunden der Nacht. Als es aber Tag war, da bot sich dem Auge Schreckliches. Die beiden Baken auf den Enden der Molen, sowie letztere selbst waren verschwunden. Der neue breite Weg, die Hauptpromenade der Badegäste, mit der „Bismarckgrotte“, das ganze Herrenbad, das Damenbad bis zur Hälfte hatte das Meer bereits weggeräumt, und hinter den Anlagen, wo der See ein Durchbruch durch die Dünen gelungen war, stürzte mit großer Gewalt das Element seine Fluten in die Niederung, zunächst den Weg nach Diedrichshagen, dann in augenblicklicher Schnelligkeit auch die Chaussee nach Rostock, die beiden einzigen Landwege unter Wasser setzend. Warnemünde war nun im buchstäblichen Sinne eine Insel, und die Bewohner mussten sehen, wie ihre Scholle Land von Stunde zu Stunde kleiner wurde. Im Orte selbst stieg Gefahr und Angst zusehends höher. Das ganze Rostocker Ende, die Mühlenstraße mit dem Mühlengehöft standen um 10 Uhr schon fensterhoch unter Wasser. Männer, denen die Wellen bis unter die Arme schlugen, schleppten ihre Frauen und Kinder aus den Häusern und suchten sie nach höher gelegenen Stellen des Ortes oder nach der neuen Kirche zu bringen, dann zurückeilend- um Betten, notwendige Kleidungsstücke, Vieh u. dgl. zu holen. Das von Hunderten ausgeführt, unter markerschütterndem Schreien der Fliehenden, welch' ein entsetzliches Bild!


Am schlimmsten jedoch sah es auf der Ostseite auf dem Zimmerhofe aus. Hier war Hilfe Not, wenn nicht 6 Menschenleben sollten vor Aller Augen ertrinken. Die See stürzte mit ihrer ganzen Wucht auf die Ostbucht, hatte unmittelbar hinter dem Zimmerhofe die Dünen ebenfalls durchbrochen sämtliche Schuppen und Stallungen niedergerissen und jagte ihre Wogen bereits durch die Fenster in das Wohnhaus. Den Bewohnern dieses Hauses war nur noch ein Stück Land von der Größe ihrer verlassenen Wohnung übrig, das aber von Minute zu Minute immer kleiner wurde. Hier galt schnelles Handeln und das verstand am besten der Lotsen-Kommandeur Jantzen. Selbst mit seinem Hause, das hart an der See gelegen, in der größten Gefahr, und sehen müssen, wie die Wellen ein Stück nach dem anderen davon ablösen, gibt er dasselbe preis, um Menschenleben zu retten. Das Experiment, mit dem Raketen-Apparat eine Leine auf den Zimmerhof zu werfen, missglückte. Es musste also mit dem Rettungsboot ein Versuch gemacht werden. Wie gewagt diese Fahrt bei dem in jäher Heftigkeit einlaufenden Strom, der überdies mit Balken, Schiffstrümmern jeglicher Art bedeckt war, aber sein musste, das können nur Augenzeugen wissen. Bei fast übermenschlicher Anstrengung und der größten Umsicht gelang es dem Lotsen-Kommandeur mit seinen Leuten auf jener Seite anzulegen, wo die 6 Unglücklichen, bis unter die Arme im Wasser watend, unter unglaublicher Mühe ins Boot und dann nach unserer Seite geschafft wurden. Die Namen der mutigen Männer, die gleich dem Lotsen-Kommandeur mit Hintansetzung ihres eigenen Lebens das Werk der Rettung leiteten und ausführten, sind folgende: Schiffer Wilhilm Jürß, Peter Baade, Radloff, Leichterschiffer Johann Borgwardt, Bootsmann Peter Schmidt und Lotse Joachim Jungmann.

Es schien aber, als wenn durch diese Rettung der Zorn des Meeres erst recht angefacht sei. Denn von Mittag an, wo Sturm und See in der denkbarsten Wildheit losstürmten, wo man keinen Strom, sondern nur ein entfesseltes Meer sah, das im Rücken des Orts so hastig heran eilte, dass die neue Kirche sich bereits mit Wasser füllte, das vorne die schönen Linden reihenweise entwurzelte und niederriss und dann die Wohnungen selbst auf der Schanze bis nach dem Spill hinan mit seinen Fluten vollstürzte, von Mittag an glaubte Keiner mehr an Rettung, sondern da hieß es: Gott kann nur helfen, Und Gott hat wunderbar geholfen! Gegen 2 Uhr sprang der Wind plötzlich nach Südost um und die heftigen Schnee-Böen hörten auf. In der Eile vereinigten sich die rüstigsten Männer, diejenigen Häuser die dem Einsturz nahe, und dasjenige Vieh, was bei der Flucht zurückgeblieben war, zu retten. Erst am folgenden Tage war der angerichtete Schade zu übersehen. Am bedeutendsten hatte der Zimmerhof, die Warmbade-Anstalt am Spill, die beiden daran grenzenden Häuser der Herren Lotsen-Kommandeur Stefan Jantzen und Christian Ohlerich, sowie das ganze Rostocker Ende gelitten. Das Seewasser hatte sich durch diese Häuser einen freien Durchgang erzwungen und eine Menge Sachen, selbst Schränke und Kommoden mit fortgeführt. Alle im Keller vorhandenen Wintervorräte waren entweder fortgeschwemmt oder durch Salzwasser verdorben. Die Wände waren bis über die Fensterbrüstung hinauf teils aufgerissen, teils durchweicht. Es war ein Bild des Elends und Jammers, was man hier sah, namentlich wenn man erwog, dass dieser Schaden fast ohne Ausnahme arme Fischer betroffen hatte. - Der ganze Raum zwischen Strom und Häuserreihe war bedeckt mit einem Chaos von angeschwemmten Sachen. Da lagen Hunderte von Faden Buchen-, Birken- und Tannenholz, ferner eine Menge behauener Tannen, die oft zur Hälfte durch die Häuser geschoben waren. Die Chaussee nach Rostock war ¼ Meile weit arg beschädigt, indem ihre Oberfläche ein leises Geröll bildete. Die Schleuse, sonst so solid gebaut, war zur Hälfte durchbrochen und nur mit größter Vorsicht zu passieren. Noch schlimmer waren die Molen mitgenommen. Ihre beiden Endpunkte waren bis auf den Grund aufgerissen und lag das Gestein in großen Haufen umher. Gut gehalten hat sich der Teil der Ostmole, der, wiewohl versuchsweise, aus Stein und Zement ausgeführt war. Wendete man vom Spill ab seine Schritte westlich, so fand man den Leuchtturmplatz stark mitgenommen, den neuen Weg mit der steinernen Grotte („Bismarcksgrotte") total verschwunden, die Bäder in Trümmerhaufen, die Anlagen stark beschädigt und noch zur Hälfte unter Wasser. Noch weiter, man sah mit Schrecken, dass die sonst schützenden Dünen auf 1/8 Meile lang verschwunden und die dahinter liegenden Weiden, so weit dieselben von Flutwasser frei, mit 2-3 Fuß hohem Seesand bedeckt waren. Ähnlich so sah es auf der Ostseite des Stromes aus, nur war dort der Durchbruch der See wegen größerer Erhebung der Dünen nicht in solcher Breite erfolgt.

Ein Rostocker, welcher sich am 14. November von Rostock nach Warnemünde begab, erzählt über seine Erlebnisse Folgendes: Obwohl alles, was ich sah, fast einer Beschreibung spottet, so will ich doch versuchen, einen annähernden Begriff davon zu machen, wie fürchterlich die See da gehaust hat. Auf der Fahrt dorthin sah man schon zwischen Schutow und Lütten-Klein große Ackerflächen unter Wasser stehen, in letzterem Dorfe war die Chausseebrücke durch das seitdem abgeflossene Wasser gehoben und vom Damm gelöst, jedoch ohne Gefahr passierbar. In der Nähe des Chausséewärterhauses besuchte ich den Hof eines ausgebauten Bauern von Gr.-Klein und fand dort die Leute dabei beschäftigt, das Wohnhaus wieder wohnbar zu machen. Das Wasser war ca. 1 Meter hoch durch dasselbe hindurch gegangen, hatte einen Stall demoliert und die Scheune und das Viehhaus dem Einsturz nahe gebracht. Die weiblichen Bewohner des Hauses waren durch die Männer durch das Wasser getragen. Pferde, Kühe und Schafe sind mit vieler Mühe gerettet, aber 5 Schweine im Wasser umgekommen. Die Flutmarke, durch Bauholz und sogar durch eine gekenterte Jolle bezeichnet, reichte noch etwa 100 Schritt weiter ins Land hinein; 50 Schritte seewärts hinter dem Gehöft stand noch das Wasser und von hier aus erblickte das Auge nur eine große Wasserfläche, durch welche sich die Chaussee als schmaler schwarzer Streifen nach Warnemünde hinzog. Letztere war auf der einen Stelle teilweise zerstört, doch noch für Wagen passierbar, die Schleusenbrücke kurz vor Warnemünde war in der Mitte gespalten, die linke Hälfte derselben durch den Wasserdruck bei Seite geschoben. Indessen der Wagen geht hinüber und nun bringt jeder Schritt vorwärts ein neues Bild der Zerstörung. Die Chaussee war bedeckt mit losgerissenen Zäunen, Bauholz etc., die neue Kirche, sowie die Windmühle standen völlig im Wasser, und der Eingang in Warnemünde schien durch angeschwemmtes Holz völlig gesperrt zu sein. Und doch war dies Alles Nichts im Vergleich zu dem Anblick, welcher sich beim Eintritt in Warnemünde bot. Der Weg vor der Vorderreihe war vom Rostocker Ende bis zur Schanze buchstäblich-bedeckt von angetriebenem Holz, Brettern, Jollen, die mit Seegras überhäuft in wildem Chaos durcheinander lagen. Im Strom lagen mehrere Schiffe mit gebrochenen Masten, viele hatten zerrissene Segel und eine Yacht war über das Bollwerk hinüber gehoben und saß fest zwischen diesem und dem Strande. Eine andere Yacht lag oben auf dem Bollwerk, frei in der Luft schwebend, nur gehalten durch den Mast, der sich an einen Baum stützte. Mühsam gelang es mir, über die Trümmer nach der Schanze hin vorzudringen und immer mehrte sich die Verzweiflung; die Wurzeln der Linden vor der Schanze waren sämtlich bloßgelegt, einzelne Bäume ganz ausgerissen und die Böschung der Schanze in solcher Weise abgespült, dass die Veranden der letzten Häuser, ihres Fußbodens beraubt, durch Pfähle geschützt werden mussten. Das Warnemünder Badehaus war gänzlich unterwühlt und die Wände nach der See zu eingestürzt; das Haus des Lotsen-Kommandeurs hatte sich dagegen gut gehalten, obwohl das Fundament zum großen Teil fortgespült war und das Haus somit einen gefährlichen Anblick gewährte. Die beiden Molen waren nur in ihrer ersten Hälfte intakt geblieben, die Winde auf der Westmole war eingestürzt, die Spitzen beider Molen abgebrochen und die darauf befindlichen Baken verschwunden. Vor der Einfahrt lagen 2 Schiffe darunter eine holländische Bark mit gekapptem Hauptmast, vor Anker und rechts davon ankerte ein schwedisches Schiff, welches mit übergeschossenem Ballast sich bedenklich auf die rechte Seite neigte. Auf See kreuzten 8 Schiffe, doch war an ein Einlaufen nicht zu denken, da der Strom mit furchtbarer Schnelligkeit und dem Geräusch eines Bergstroms ausfloss, Holz und allerlei Trümmer mit sich führend. Es gewährte einen wirklich großartigen Anblick, wie der Strom gegen die andrängende See kämpfte und mit hochaufbäumenden Wellen bis weit in die See hinein erkennbar blieb. Von hier aus wandte ich mich zur Seestraße und dort erwartete mich noch ein betrübender Anblick, denn die hübsche neue Promenade mit der sogenannten Bismarck-Grotte war spurlos von der Erde verschwunden; kein Wunder, denn die See hatte bis zum Lahnstein'schen Hotel gestanden. Das Damenbad hat nur an der Ostecke gelitten, hinter demselben lag aber hoch aufgeschichtet allerlei Holz, und darunter auch eine der Baken von der Mole. Eine große Freude gewährte es uns, die mit so vieler Mühe angelegten und gepflegten Anlagen hinter den Bädern gut erhalten zu sehen; allerdings war auch hier das Wasser, jedoch von hinten eingedrungen, aber die Brandung hatte doch ihre Kraft an dem Zaun und den dichten Tannen gebrochen, so dass dort eigentlich keine Verwüstungen zu sehen sind. Von dem Ausguck in den Anlagen genoss man einen herrlichen, wenn auch überaus traurigen Anblick, denn von hier aus konnte man deutlich sehen, wie weit das Wasser noch ins Land hinein stand, obwohl dasselbe schon seit über 12 Stunden im Abfließen war. Jedenfalls scheint diese Flut kaum hinter jener vor 247 Jahren zurückgeblieben zu sein. Denn wenn man bedenkt, dass damals das Wasser 3 Fuß hoch in der Kirche gestanden haben soll und jetzt eine Jolle auf den alten Friedhof hinaufgetrieben ist, so kann man wohl mit Gewissheit annehmen, dass bei dem viel tiefer liegenden Altar der alten Kirche das Wasser auch diesmal 3 Fuß hoch gestanden hat. Doch jetzt kommt die Höhe des gewesenen Wasserstandes nicht in Betracht im Vergleich zur Not, die durch denselben hervorgerufen ist. Am ganzen Rostocker Ende und noch weiter hinauf stehen die Keller unter Wasser und mit ihnen der teuer erworbene Wintervorrat. Viele Leute sind nicht im Stande gewesen, ihre Schweine zu retten, und welchen Verlust dieselben an ihren Wohnungen und notwendigem Hausgerät erlitten haben, das lässt sich noch gar nicht übersehen."
Warnemünde vom Bauhof.

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Warnemünde, Strom, Hafen und Leuchtturm

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