Boltenhagen

„Boltenhagen, unser so liebliches Ostseebad, ist von den hochanstürmenden Wellen fast zertrümmert“ so lautete die Schreckensnachricht, welche zuerst dem Rostocker Tagesblatt gemeldet wurde und dann die Runde durch eine Menge Blätter machte - eine Nachricht, die leider nichts als Wahrheit enthielt.

Boltenhagen hat am 13. November schrecklich gelitten. Ein Teil desselben, Neuboltenhagen, wurde fast gänzlich zerstört.


Am Morgen des 13. November hatten sich einzelne Herren aus Klütz nach Boltenhagen begeben, nicht ahnend, welch' nervenerschütternder Anblick dort ihrer harrte, vielmehr aus dem Grunde, die in hohem Grade aufgeregte Natur in dem voraussichtlich hohen Seegange zu bewundern. Der Sturm peitschte fortdauernd noch mit aller Kraft gegen den Wagen und in etwa 2 Stunden erst (man fährt sonst etwa 15-20 Minuten) langte man an der Schreckensstelle an. Eben aus Klütz gekommen, sah man schon die Niederung zwischen Boltenhagen und Niederklütz unter Wasser; weiter vorgedrungen, bemerkte man, dass der Hof Wiechmannsdorf, sowie ein Teil von dem Gut Rethwisch von den Fluten zu leiden hatten. Nun begann man zu ahnen, was auch in Boltenhagen geschehen; doch die Erwartung blieb weit, unendlich weit hinter dem zurück, was sich dem Auge kurz vor Boltenhagen darbot. Ganz Neu-Boltenhagen und der größte Teil von Alt-Boltenhagen, der untere Teil von dem Dorf Rethwisch, die Gegend zwischen Tarnewitz und Boltenhagen und das untere Tarnewitz stand unter Wasser und Wellen so hoch, wie sie bei ziemlichem Sturm die See nicht gezeigt, sie spielten mit der Habe und dem Gut der unglücklichen Menschen zwischen den Häusern: Tische, Schränke, Stühle, Büffets etc., alles durcheinander und aneinander schlagend, bildeten ein buntes wirres Durcheinander und machten die Seelen grausen vor dem Zustande der Häuser. aus denen sie herausgespült waren. Alle Häuser in Neu-Boltenhagen hatten die Notfahne ausgesteckt, alle Essglocken läuteten Sturm zur Hilfeleistung, an einem Fenster stand schreiend und jammernd eine Witwe mit ihren kleinen Kindern um Hilfe winkend.

So war Boltenhagen am 13ten, und welch' schreckliches Bild bot es den'Tag darauf: alle Häuser waren von den Fluten in so hohem Grade unterwühlt, dass auch diejenigen- welche am 13ten Abends noch aufrecht aus den Fluten hervorragten, kaum noch zu erhalten fein dürften. Der schöne Steinhagen'sche Garten, er war am 13ten, nachdem das Wasser zurückgetreten, eine völlige Wüste; 3-4 Fuß versandet, vereinte er sich mit der Fronte des Steinhagen'schen Hotels zu einem in der Tat schrecklichen Bilde. Aller Fleiß und Eifer des Besitzers, alle Mühe und Kunst, die nun acht Jahre rastlos gearbeitet, sie war in 24 Stunden total vernichtet, und die Fluten hatten ein Bild geschaffen, das jeder Beschreibung spottet.

Gerettet wurden glücklicherweise alle Verunglückten, jedoch mit unendlicher Lebensgefahr der Klützer Einwohner. Wir nennen hier die Herren Maschinenbauer Lübcke, Schlächtermeister Fr. Peters, Schlosser H. Sauerbier, Arb. Gramkow, Karl Rohrmann, Otto Rohrmann aus Klütz und Fischer Schwarz und Fischer Freitag aus Boltenhagen, welche mit Hintansetzung ihres eigenen Lebens alle vom Wasser umfluteten armen Menschen auf Flößen und zuletzt auf einem kleinen Boote retteten. Der Sohn des Försters Rohrmann, Otto, sprang vor Aller Augen von dem dem Untergang drohenden Fluss ins Wasser, schwamm ans Land und rettete so 4 Menschen das Leben; denn das Floß erhob sich, nun leichter geworden, wieder aus den Wellen und gelangte glücklich ans Land. Alle Geretteten wurden per Wagen nach Klütz gebracht und von dortigen Einwohnern in herzlichster Weise aufgenommen und verpflegt. Noch nennen wir den Lehrer des Orts Boltenhagen, Tiede, dessen Haus, zu einem Lazarett umgestaltet. Allen eine Zuflucht wurde.

Ein möglichst anschauliches Bild der Zerstörungen, welche die Flut in Boltenhagen und in der benachbarten Gegend angerichtet, erhält man durch nachfolgende Schilderung eines Ausflugs nach Boltenhagen, welchen der Herausgeber dieser Schrift am 18. November unternommen. Diese Schilderung lautet:

„Nur wenige Monate sind es her, dass wir Boltenhagen besucht. Unter welch' veränderten Umständen haben wir den Ort jetzt in Augenschein genommen! Bei dem ersten Besuch im Sommer breitete es sich in reicher Pracht vor uns aus. Über ihm wölbte sich ein lichtblauer Himmel, die Anlagen schmückte ein reicher Blumenflor und frisches Grün; Natur und Kunst hatten sich vereinigt, um hier einen angenehmen Aufenthalt zu schaffen - und dass dies gelungen, das sah man an den glücklichen zufriedenen Gesichtern derer, die hier lustwandelten. Ein Garten schien uns aufzunehmen, als wir das Dampfboot, das uns damals hierher befördert, verlassen, ein Garten, belebt von frohen, glücklichen Menschen - dieser Eindruck blieb uns, so lange wir in dem freundlichen Orte geweilt - und jetzt? - Jetzt ist diese Gegend, die einst über unerschöpfliche Reize zu gebieten schien, über Nacht wüst und öde geworden. Der Orkan hat hier furchtbar gewütet; die Häuser, die so vielfach der Schauplatz geselliger Freuden waren, sie sind ein Spielzeug für das mächtige Element gewesen, das, vom Orkan aufgewühlt, sich brausend über den unglückseligen Ort ergossen. Die hübschen Gärten sind versandet, was ihnen zum künstlerischen Schmuck diente7 ist vernichtet - in der Tat. es ist ein entsetzlicher Kontrast zwischen den Eindrücken des ersten und dieses zweiten Besuches. - - - Doch zu unserem Ausflug! Selbstredend wurde derselbe diesmal nicht zu Wasser, sondern zu Lande bewerkstelligt. Schon bei Gramkow übte die Nachwirkung der Überschwemmung auf unsere Beförderung einen merklichen Einfluss aus. Die Chaussee war hier mittelst einer Barriere abgesperrt und sollte, wie wir in Erfahrung brachten, erst von Wohlenberg ab wieder fahrbar sein. Zu großen Umwegen auf der links abführenden Landstraße genötigt, fanden wir kurz vor Wohlenberg die ersten Spuren, wie weit die Macht des Meeres sich hier erstreckte. Große Haufen von Seegras bedeckten den Weg oder lagen an den Seiten desselben, starke Bäume fand man umgebrochen und nicht weit von Wohlenberg sahen wir auch einen Teil der Chaussee, welche die Flut zerstört hatte. Nur Bäume, die wie eine Schar Trunkener in allen möglichen schiefen Stellungen standen, wiesen darauf, dass hier einst ein Weg geführt; sonst war nichts von demselben zurückgeblieben, wie unförmliche Erdhaufen, bedeckt mit Seegras. Es war dies ein schwaches Abbild dessen, was wir in Boltenhagen sehen sollten. Wir fuhren von Klütz über Rethwisch bis zum Strand und dann diesem entlang. Alles, was wir hier sahen, deutete auf das furchtbare Unwetter der letzten Tage. Der Boden durchfurcht von der Flut, die Bäume niedergebrochen - hart am Strande lagen Kadaver von Kühen und Krähen umflatterten ihren eklen Fraß. Die Häuser, die hier am Strande lagen, waren fast durchweg der Zerstörung preisgegeben. Wir haben einzelne gesehen, die nur einen einzigen Trümmerhaufen bildeten; aber selbst diejenigen, die äußerlich ihre Form bewahrt, waren innen hinfällig und unbewohnbar. - Unvergesslich wird uns der Anblick des Steinhagen'schen Hotels bleiben. War dieses doch bei unserem ersten Besuch der Mittelpunkt aller geselligen Freuden Boltenhagens, jetzt aber war es ebenso öde und unbewohnbar, wie alle übrigen Gebäude. In das Vorderzimmer links vom Speisesaal hatte die Flut einen Badekarren getrieben; von den Brettern des Fußbodens war keine Spur zu erblicken, wohl aber hatte sich das Wasser tief in den letzteren gewühlt und so war er denn nur dadurch gangbar, dass über einzelne Lachen Bretter gelegt waren. Im Zimmer befand sich ein wirres Durcheinander von Lehm, Schmutz und den Überbleibseln der Möbel. Ganz ähnlich sah es im Tanzsaal aus. Hier, wo zur Zeit unseres ersten Besuches muntere Paare die Freuden des Tanzes genossen - lagen die Überreste der Möbel und sonstiger Gegenstände, von Schmutz und Lehm bedeckt, durcheinander. Seltsam hoben sich davon die hübschen, zum Teil noch gut erhaltenen, mit Bildhauerarbeiten geschmückten Wände ab. Die Häuser. die wir sonst noch am Strand ein Augenschein genommen, waren auf das Entsetzlichste zugerichtet. Viele halten sich nur noch mühsam aufrecht und müssen auf alle Fälle durch Neubauten ersetzt werden. Die Schuld an dieser Hinfälligkeit trägt meist der Umstand, dass diese Häuser zum großen Teil Lehmbauten sind. Wäre der Unterbau wenigstens von Kalk und Steinen errichtet, das Wasser hätte viel geringeren Schaden angerichtet als dies tatsächlich geschehen. Luckmanns Hotel war ebenso arg zugerichtet, wie das Steinhagen'sche. Sogenannte „Luftschnapper“ sind bis auf die Haltegestelle vernichtet. Vieh ist vielfach umgekommen - Eine Kuh wollte sich dadurch retten, dass sie sich einen Ausweg durch eine Hinterwand des Stalles in Nähe des Luckmann'schen Hotels zu bahnen suchte. Leider wurde zur nämlichen Zeit ein Badekarren in den Stall geschleudert, und zwischen Stall und Karren gezwängt, büßte das arme Tier sein Leben ein. Was noch sonst Schreckliches vorgegangen, spottet aller Beschreibung. Wollten wir schildern, wie der Orkan hier gewütet, wie sich mächtige Wasserfluten über den glücklichen Ort ergossen, wie die Häuser in allen Fugen erschüttert hin und her schwankten und jeden Augenblick eine Beute des Elements zu werden drohten, wie in diesen Häusern Menschen mit totblassen Gesichtern, lautem Weheruf den Himmel um Rettung anflehten, wie sie mit dem größten Teil des Körpers in der Flut, jeden Augenblick von derselben verschlungen zu werden drohten, wie Männer bis an die Brust im Wasser, in Gefahr ihres Lebens, Gut und Menschenleben zu retten suchten, wollten wir das alles schildern, es wurde da nur ein unvollkommenes Bild bleiben, denn nur der kann eine klare Anschauung von dem Unheil bekomm, der ein Augenzeuge desselben gewesen, oder der am wenigstens die traurigen Spuren, die es unmittelbar hinterlassen, wahrgenommen. Eines aber sei klar hervorgehoben: Das Unglück ist viel, viel größer, als es nach den ersten Schilderungen, so grausig sie auch klangen, den Anschein hatte.
Boltenhagen - Bauernhof hinter Villa Reese

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Mecklenburger Ostseestrand im Herbst

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