Lübeck

Seit langer Zeit, so heißt es in einem desfallsigen Bericht, hat die sonst so ruhig und langsam dahinfließende Trave keine solche Empörung gegen ihre Ufer versucht, wie in der Nacht vom 12. zum 13. November. Nachdem bereits am 12. das Bollwerk vom Wasser erreicht, ja überflutet war, stieg das Wasser während der Nacht bei heftigem Sturm und Hagel andauernd und überschwemmte die zur Trave hinabführenden Straßen weiter und weiter. Bis gegen Morgen stand in selbst höher gelegenen Häusern das Wasser in einer Höhe von 4 Fuß. Seit frühem Morgen flüchteten die weiblichen Insassen und Kinder der kleinen Wohnungen und Gänge welche letztere fast sämtlich tiefer als die Häuser liegen, von den Armen kräftiger Männer getragen aus ihren Domizielen, und herzbrechendes Kindergeschrei ertönte durch die Pausen des rasenden Orkans. - Die Habe der in den Gängen wohnenden Leute wurde ganz oder teilweise vernichtet und verdorben, da Keinem eingefallen war, dass das Wasser bis zu einer solchen Höhe steigen konnte und also auch keine Vorsichtsmaßregeln getroffen worden waren.

Mittags 1 Uhr. Von Stunde zu Stunde steigert sich die Gefahr und bereits in den ersten Vormittagsstunden musste man leider konstatieren, dass diesmal das Elementar-Unglück in einer Größe aufgetreten ist, wie die Geschichte zweier Jahrhunderte kein ähnliches Beispiel aufzuweisen hat, denn der höchste Wasserstand, von dem die Chroniken unserer Vaterstadt erzählen, der vom 10.-11. Januar 1694, ist nicht nur erreicht, sondern sogar um 1 1/2 Fuß übertroffen worden. Im Laufe der Nacht und des Vormittags waren beständig Boote in Fahrt, welche die an der Trave wohnenden Leute abholten und in Sicherheit brachten; dieselben mussten ihre Sachen größtenteils dem Element überlassen und konnten nur das Notdürftigste retten. Groß und sehr drückend ist der Schaden, den zahlreiche, zum großen Teil ohnedies nicht mit Glücksgütern gesegnete Familien erleiden, größer und bis jetzt noch ganz unberechenbar sind die Verluste, welche unseren Handel und dessen Angehörigen treffen. Denn das ganze Flussbett der Trave vom Eingang des Hafens an bis zur Holstenbrücke war übersäet mit schwimmenden Fässern, Ballen und Waren aller Art, da die von der Zollbehörde noch nicht kontrollierten Güter nicht geborgen werden durften. Am meisten jedoch wurde Lübecks so blühendes und großartiges Holzgeschäft geschädigt, denn die auf der Lastadie lagernden ungeheuren Vorräte wurden von dem Element nach allen Richtungen mit fortgerissen und zerstreut, und da es an Kräften fehlte, um alle diese Werte aus dem Wasser zu bergen, so ging ein großer Teil gänzlich verloren, während das Geborgene ohnedies durch das Nasswerden zum Teil oder total ruiniert sein wird.

Einige Bewohner der Gänge konnten sich nur dadurch retten, dass sie sich durch Durchbrechen der Wände nach den Nachbarhäusern Hilfe schafften.


Nachmittags 2 Uhr. Die Post- und Telegraphen-Verbindung mit Travemünde, welches fast gänzlich unter Wasser stehen soll, ist unterbrochen, letztere seit gestern Abend 8 Uhr, von welcher Stunde die letzte hier angekommene Depesche lautet. Die Herrenfähre ist unpassierbar. - Bis 2 Uhr war das Wasser im Steigen, staute sich unter der Holstenbrücke und hatte aufwärts keinen Abfluss mehr. Indes ist, da der Wind mehr und mehr von NO. zu O. umspringt, zu hoffen, dass die größte Gefahr wohl beseitigt ist.

Nachmittags 4 Uhr. Der Wind ist mehr und mehr nach Osten gegangen, und ist das Wasser in Folge dessen um 2 Zoll gefallen.

Herr Major Fink, der sich Nachmittags ca. 3 Uhr in der Marlesgrube befand, um die Ausdehnung der Überschwemmung in diesem Stadtteil zu inspizieren, erfuhr aus der Mitte einer an der Grenze des Wasserstandes angehäuften Menschenmenge, dass in dem genannten Durchgang (Nr. 8) ein Mädchen in einem, Parterre-Zimmer zurückgeblieben sein sollte und sich vorläufig auf die Fensterbank geflüchtet habe; zugleich hieß es jedoch, dass man nicht zu der in Lebensgefahr schwebenden gelangen könne, da der Durchgang zu eng sei, um ihn mit einem Boot zu befahren und das Wasser zu tief war. um zu Fuß dorthin zu gelangen. Herr Major F. requirierte die Geschirrmeistergehilfen Nimphy und Holst mit den zweckdienlichsten Gerätschaften.

Man bestieg ein von dem Bleicher Wetzendorf geführtes Boot und fuhr auf den Rat der Nachbarn nach dem in der Depenau gelegenen Eingang. Hier wurde im Nebenhause des Weinhändlers Schmidt die erste Etage mittelst einer Hakeleiter erstiegen. Holst und Nymphy gingen zur Rekognoszierung durch das Haus dann in einen Dachraum und über einige Dächer stets nach dem Mädchen fragend. Endlich erhielten sie wirklich Antwort. nahmen einige Dachpfannen von einem Dache ab, hingen eine Hakeleiter auf den Balken ein und dann stieg ein Mann die Leiter hinab, während der andere obenstehend eine Fangleine bereit hielt. Die Fenster des Zimmers, aus welchem der Hilferuf vernommen wurde, waren von außen durch Läden geschlossen, diese wurden geöffnet, das Mädchen öffnete das Fenster von innen, der Feuermann hob sie von der Fensterbank und trug sie mit Unterstützung des anderen Mannes, welcher oben an der Fangleine zog, die Leiter hinauf und auf dem vorhin bezeichneten Wege zurück nach der Depenau, woselbst sie mittelst einer zweiten Leiter in ein Boot gelangten. Der Polizeibeamte Brügge war mit einem zweiten Boote anwesend und leistete bei deren weiterem Transporte Unterstützung. Der vorhin erwähnte Bootsmann trug die Gerettete auf dem Rücken nach dem Keller Nr. 1 in Kolck, Ecke der Holstenstraße, wo ein Bruder der Letzteren wohnte; die Gerettete. eine Jungfrau Jnizen, anscheinend 40 Jahre alt, befand sich in einem beklagenswerten Zustande, sie konnte kaum noch einige Worte sprechen, und war zum Gehen gänzlich unfähig, sie hatte feit Morgen auf der Fensterbank gesessen, die Füße im Wasser hängend.

Ein Gang an den am 14. wieder passierbaren Travestraßen, am Donnerstag Morgen, bot ein Bild der rührigsten Tätigkeit. Mobilien, Wäsche etc. waren auf den Straßen zum Trocknen ausgelegt und Eimer und städtische Spritzen im Gange, um das Wasser so viel als möglich zu entfernen. Die Trave war so ziemlich in ihr gewöhnliches Bett zurückgetreten und an vielen Häusern die Spur einer Überschwemmung gänzlich verwischt.