Die Stufen der menschlichen Freiheit. - Ein Pfingstwort an das deutsche Volk.

Aus: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt
Autor: Holtzendorff, Franz von (1829-1889) Jurist und Hochschullehrer, Erscheinungsjahr: 1875

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Freiheit, Goethe, Gleichheit, Menschenrechte, Revolution, Unfreiheit der Bauern, Verfassung, Staatsbürger, Staatsmacht
Goethe hat darauf aufmerksam gemacht, wie verschieden die Vorstellungen sind, welche mit dem zauberhaften Worte der Freiheit verbunden werden. Das sehnsuchtsvolle Lied, „Freiheit, die ich meine“, würde, wenn nicht das Versmaß uns den Tonfall vorzeichnete, wahrscheinlich mit dem stärksten Akzent auf Ich von der Mehrzahl gesprochen werden. Manchen Wörtern ergeht es wie den Scheidemünzen, die.am häufigsten von Hand zu Hand gehen, und durch die Alltäglichkeit des Gebrauchs die Deutlichkeit ihres Gepräges verlieren. Bis vor hundert Jahren bedeutete Freiheit in der Sprache der Gelehrten vorwiegend soviel wie „Privilegium“, eine besondere Auszeichnung gewisser Personen und Stände, zumal des Adels und der Geistlichkeit. Die ständische Gliederung der mittelalterlichen Gesellschaft beruhte auf den „Freiheiten“ der Fürsten, Grafen und Ritter, der Korporationen und Zünfte, Es wimmelte die alte Zeit von Freiheiten, ohne dass es eine staatsbürgerliche Freiheit gegeben hätte.

Als die Aufklärungsperiode ihr Werk begann, forderte die Welt in den Schriften der Dichter, in den Liedern der Sänger, auf den Schlachtfeldern von Nordamerika, in den Straßenkämpfen der Revolution, die Freiheit der Völker und der einzelnen Menschen. Eine neue Staatslehre war aus dem Bruch mit den staatlichen und kirchlichen Überlieferungen entsprungen; die Menschenrechte der Freiheit und Gleichheit erklangen wie eine Auferstehungsmelodie durch das Zeitalter, welches zu Ehren des Zopfes den Nationen den Krieg erklärt hatte. Dein Erbrechte der geschichtlichen Tatsachen, der Unfreiheit der Bauern, der Verkümmerung des Bürgertums, den Anmaßungen der privilegierten Klassen stellte sich damals der Satz entgegen: „Frei ist der Mensch geboren, unverjährbar ist dieses Recht seiner Natur, obwohl durch Fürsten und Regierungen zerstört oder gefesselt, Freiheitsfeindlich ist der Staat, der mit seiner Allmacht die natürliche Freiheit des Menschen eigennützig verdirbt“, Selbst heute noch ertönt dieses Klagelied von der freiheitsfeindlichen Allmacht des Staates in mancher Kanzelrede nach. Seit beinahe neunzig Jahren kämpft Frankreich in seinen Verfassungswirren für die Durchführung dieses Gedankens. Auf den Trümmern der niedergerissenen Staatsmacht soll die Freiheit der entfesselten Gesellschaft errichtet werden. Noch immer stehen die meisten Franzosen unter dem Banne des Wahns, dass eine schwache Staatsregierung für die Freiheit der Völker wünschenswert sei.

In Deutschland ist die Wissenschaft während desselben Zeitraumes, nachdem sie eine Zeitlang den französischen Meistern gefolgt war, zu einer ganz anderen Grundanschauung über das Verhältnis; zwischen Staat und Staatsbürgern gelangt. Jener glückliche Naturzustand angeborener Freiheit besteht nur in der Glaubenslehre für jene zwei ersten Menschen, die nicht geboren waren, sondern fertig erschaffen das Paradies beherrschen sollten. Aus geöffneten Hünengräbern, aus entdeckten Gebirgshöhlen, in ausgegrabenen Torfmooren und in den bloßgelegten Pfahlbauten der Seen entziffert die wissenschaftliche Forschung den Satz: In der Geschichte begegnet uns der Mensch zuerst im Zustande der Unfreiheit und Unvollkommenheit, im Kampf um sein Dasein mit der Natur, als Barbar, dessen Keule überall über dem Haupt des Schwächeren schwebt.

Langsam wirkte das Werk der Erziehung, welches den Menschen allmählich in jene harte Schule der Freiheit führte, welche den Namen des Staates trägt. Die erste Ursache aller höheren Gesittung und Freiheit ist die durch einen bereits geläuterten Naturtrieb bewerkstelligte Gründung staatlichen Gemeinlebens vermittelst der Unterordnung Aller unter eine herrschende Gewalt, welche den Schwächeren stützt, den äußeren Feind abwehrt, den Ringkampf mit widerstrebenden Naturmächten erleichtert, den Hausfrieden der Familie gegen die Pfeilspitzen räuberischer Nachbarn sichert.

Schon diese erste Großtat der langsam reifenden Menschheit ist aber gleichzeitig eine Tat der Selbstbeschränkung für Diejenigen, welche sie vollbringen, das Werk einer höheren Anlage, welche manchen Naturvölkern fehlt. Um dauernd in der Gemeinschaft des Staates leben zu können, bindet sich der Mensch an einen begrenzten Flächenraum der Erde, an sein Gebiet, indem er auf das Wanderleben des dem Wilde nachstürmenden Jägers oder Herdetreibender Nomaden verzichtet. In den Früchten des Ackerbaues belohnt sich die Sesshaftwerdung der Völkerstämme. Auch auf der einfachsten Grundlage des Ackerbaues stehend, erscheint ein Staatsvolk unendlich höher, als jagende Horden oder herumschweifende Hirtenvölker. Es ist ein trügerisches Ideal jugendlicher Phantasie, wenn sie unter der Führung amerikanischer Romanschriftsteller in den Wildnissen der Urwälder sich ansiedelt und von Freiheit träumt. Der Geschichtsschreiber belehrt uns, um wie viel vollkommener trotz aller Bedrängnisse die ersten europäischen Ackerbauer an den Küsten des atlantischen Ozeans gewesen sind im Vergleiche zu den „glücklichen Wilden“, denen keine räumliche Schranke gezogen war. Eine Leben spendende Macht ist der Staat. Aus den spärlichen Ansiedlern, welche vor zweihundertfünfzig Jahren aus England, Holland und Frankreich nach dem nördlichen Amerika zogen, ist ein Volk von vierzig Millionen geworden, während die schrankenlos herumschwärmenden Indianerstämme heute nichts sind als zertrümmerte und dem völligen Untergange verfallene Überreste eines verkommenen Geschlechts.

Der erste, uranfängliche Staat entlegenster Jahrtausende nimmt jeden einzelnen Menschen, der ihm als Staatsbürger zugehört, völlig für sich in Anspruch; zuweilen ist sogar, wie bei den Spartanern, die Familie nichts anderes als eine Züchtungsanstalt für Staatszwecke. Jeder Einzelne fühlt, denkt, handelt wie sein Nebenmann, gleichsam dauernd in Reihe und Glied eingestellt während jener ewigen Kriege, die unter benachbarten Stämmen geführt wurden. Indem aber allmählich einzelne Staaten zur Übermacht über andere gelangen, erwacht in den Staatsbürgern das Bewusstsein, dass sie nicht mehr ganz für den Staatszweck aufgeopfert zu werden brauchen. Es entsteht der Unterschied in den Persönlichkeiten und Individuen, die Tätigkeit des Eigenwillens, die Gliederung der Gesellschaft, die Mannigfaltigkeit der Berufszweige und Gewerbe, die Teilung der Arbeit nach Anlage und Geschicklichkeit, die Schichtung der bürgerlichen Klassen, die Doppelströmung von Oben und Unten, von Hoch und Niedrig, das Verlangen, dass an die Stelle des allein gebietenden Oberbefehls, der im Kriege notwendig ist, die Mitbeschließung des Gesetzes zu friedlichen Zeiten als bürgerliches Recht der freien Genossenschaft anerkannt werde.

Wird diese Forderung nach hartem Ringen durchgesetzt, tritt an die Stelle des persönlichen Herrscherwillens der Mächtigen die Selbstgesetzgebung des Volkes, so beschreitet dieses in seiner Entwicklung eine zweite Stufe, diejenige der politischen Freiheit. In dem Worte Selbstgesetzgebung liegt aber wiederum eine weitere Tat der Selbstbeschränkung, zu der nur diejenigen Völker befähigt sind, welche die Kraft und den Willen haben, das sich selbst auferlegte Gesetz zu halten. Diese Entwicklung zur politischen Freiheit ist am klarsten im klassischen Altertum ausgeprägt, und zwar nach den beiden Richtungen der Entstehung und des Verfalls. Wie die einfachen, geraden und schönen Linien eines griechischen Tempelbaus treten uns die Bedingungen der politischen Freiheit bei Griechen und Römern anschaulich entgegen; eine Tatsache, die zu der Forderung führt, dass die in den modernen Kulturvölkern leitenden Personen notwendig mit dem Geiste des klassischen Altertums und seinen politischen Überlieferungen durch das Studium der alten Sprachen bekannt geworden sein müssen. Aus der Geschichte der Griechen und Römer ist die in ihrem Werte unvergängliche Lehre zu begründen, dass die jeweilig mächtigsten Kulturvölker auch die freiesten gewesen sind, dass aber die politische Freiheit zu Grunde geht, wenn jene Grundlage des zur Selbstbeschränkung und zum freiwilligen Gehorsam entschlossenen Rechtssinnes so weit schwindet, dass das gesetzgebende Volk sein eigenes Werk durch Willkür und Zügellosigkeit zerstört. Die politische Freiheit der Griechen und Römer ging außerdem zu Grunde, weil es diesen Völkern nicht beschieden war, zwei weitere Stufen der menschlichen Freiheit zu ersteigen, ohne deren Erreichung die politische Freiheit stets gefährdet bleibt.

Eine dritte Stufe der menschheitlichen Freiheit ist die wirtschaftliche Freiheit der Arbeit. Die vollkommensten Gemeinwesen der alten Geschichte beruhten auf Sklaverei, in welche zumal die Kriegsgefangenen versetzt wurden. Zwar bezeichnet die Sklaverei insoweit einen kulturgeschichtlichen Fortschritt, als die allerrohesten Völker den überwundenen Feind einfach vernichten und dessen Schonung zum Zwecke der wirtschaftlichen Benutzung bereits ein höheres Verständnis und eine Mäßigung jener Leidenschaften verrät, von denen der Menschenfresser oder der blutgierige Barbar knechtisch beherrscht wird. Im weiteren Verlaufe der Geschichte erweist sich aber die Sklaverei überall als ein schwerer Fluch, als Hemmnis höherer Gesittung. Sklaverei bedeutet nicht nur grausame Unterdrückung des Dienenden, sondern vielmehr Verderbnis der Herrschenden. Jede schrankenlose Gewalt über andere Menschen vernichtet das Pflichtgefühl der Herrschenden gegen das Gesetz und bringt dieses unter die Übermacht des menschlichen Eigennutzes.

Aus der Christenheit ist die Sklaverei mit Ausnahme weniger Kolonialstaaten verschwunden, obgleich das Christentum un mittelbar kein Verdammungsurteil darüber aussprach und trotz aller Rechtgläubigkeit nach der Entdeckung Amerikas christliche Staatsmänner die Negersklaverei wieder einführten, oder sogar heute den Gräueln des Kulihandels noch gleichgültiger zuschauen, als dies heidnischen Philosophen möglich gewesen wäre. In Europa vollzog sich seit dem Mittelalter schrittweise der Übergang von der Sklaverei zur Hörigkeit, zur Leibeigenschaft, zur Gutsuntertänigkeit. zur Dienstbarkeit der ländlichen Arbeiter bis zur Befreiung der wirtschaftlichen Kräfte durch die neuesten Gesetzgebungen, wobei der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Freiheit vorzugsweise in der englischen Geschichte deutlich ausgeprägt erscheint. Dass jene Befreiung langsam und allmählich vor sich ging, verbürgt ihre Gründlichkeit und Sicherheit. Und umgekehrt erklären sich die unverkennbaren Krankheitszustand mancher amerikanischer Staaten aus dem schroffen Sprung von der Emanzipation des Negers zur politischen Gleichberechtigung.

Wenn ein Volk wirtschaftliche Freiheit ohne Nachteil ertragen soll, so muss es zuvor wiederum Selbstbeschränkung gelernt haben. Die dienende Klasse muss gewillt und befähigt sein, an Stelle der ihr abgenommenen Zwangsarbeit durch, freie Arbeit höhere Leistungen zu vollbringen und größere Werte zu erzeugen. Nicht weniger, willkürlicher, unregelmäßiger, sondern fleißiger, sparsamer und treuer muss der freie Mann zu arbeiten gewillt sein, im Vergleich zum Sklaven oder Leibeigenen. Und andererseits muss auch in wirtschaftlich freien Ländern die begüterte Klasse ihrer sinnlichen Genusssucht Zügel anlegen können. Wie jener englische Prinz in seinen Wappenschild das bekannte Wort hineinschrieb: „Ich diene“, so steht gleichsam an der Eingangspforte des kaiserlichen Palastes in Berlin geschrieben: „Ich arbeite“.

Messen wir die Höhe unserer Entwicklung an dieser Forderung der allgemeinen Arbeitspflicht, so müssen wir bekennen, dass wir in Deutschland allen Grund haben, bescheiden zu sein und in uns zu gehen. Die Gesetzgebung des norddeutschen Bundes, welche uns mit Freizügigkeit und Gewerbefreiheit beschenkte, fand uns nicht in derjenigen Reife, welche die Besten unseres Volkes vorausgesetzt hatten. Das Kennzeichen wirtschaftlich freier Völker, welches darin besteht, dass die Arbeit als Ehrenschmuck des Mannes gilt, war vielfach bei denen abhanden gekommen, welche die höchste Tugend darin setzten, in möglichst kurzer Zeit für möglichst hohen Lohn möglichst schlechte Arbeit zu verrichten oder auch ohne Anstrengung im Börsenspiel reich zu werden.

Die vierte und höchste Stufe der menschheitlichen Freiheit ist religiöse Freiheit. Alle Völker der vorchristlichen Zeit waren wenigstens soweit, als die Volksmassen in Betracht kamen, in sittlicher Knechtschaft befangen. Sklaverei des inneren Menschen auf sittlichem Gebiete ist dann vorhanden, wenn dieser unter dem Bann des Aberglaubens oder aus Furcht vor dem Zorn der Gottheit den überlieferten Geboten der Priesterherrschaft blindlings gehorcht. Abergläubische Furcht beherrschte das Tun und Treiben der Griechen und Römer. Die Religion Mose war eine Religion der Furcht vor dem göttlichen Zorn, ein Glaube an Opfer und Zeremonien.

Angesichts eines in abergläubischen Vorstellungen befangenen Volkes liegt es nahe zu meinen, dass der ängstliche Furchtglaube durch naturwissenschaftliche Aufklärung oder verstandesmäßige Moralphilosophie vernichtet werden könnte. Wie aber Gottesleugnung nicht zur sittlichen Freiheit des Menschen führt, zeigt wiederum der Ausgang der griechischen Philosophenschulen in ewig mustergültiger Weise. Die Philosophie war im Altertum eine größere, weiterreichende Macht, als bei uns. Trotz ihrer unsterblichen Verdienste vermochte sie nicht, den Zusammensturz und den sittlichen Verfall der alten Welt aufzuhalten.

Erst mit dem Christentum trat das Prinzip der religiösen Freiheit in die Welt und zwar wiederum mit der Bedeutung der höchsten Selbstbeschränkung. An Stelle der Furcht vor ewigen Strafen tritt nun als tiefster Beweggrund des sittlichen Handelns jene Gottes- und Nächsten-Liebe, die unabhängig von Zeremonial-Vorschriften, Opfern und Kasteiungen, frei vom Buchstaben des Gesetzes und dem Machtgebot des Priesters, sich selbst schlechthin nach dem Vorbild Christi an den Willen Gottes in freiwilliger Unterwerfung bindet. Zwar fordert auch das Christentum Gottesfurcht, aber diese ist nichts anderes, als ehrfurchtsvolle Scheu des kindlichen Emporblickens. In der höchsten Liebe zu Gott wird immer die letzte Spur der Furcht getilgt sein.

Solche Völker, deren sittliches Leben in Familie und Staat von Priestern wesentlich mit den Motiven der Furcht vor ewiger Strafe beherrscht werden kann, haben auf den Namen der Freiheit keinen Anspruch; sie befinden sich, mögen sie heißen, wie sie wollen, im Zustande sittlicher Sklaverei oder auf der Stufe kindlicher Unreife; aber freilich stehen sie immer noch höher, als die Klasse derjenigen, welche den Beruf zur sittlichen Freiheit selbst leugnen und in ihrem angeblichen Aufklärungswahn sittliches Handeln als Torheit bezeichnen und auch den Geist von dem Naturgesetze der Materie beherrscht sein lassen. Trotz aller sogenannter Christlichkeit stand auch das Mittelalter in sittlicher Hinsicht niedriger als die besten Zeiten des heidnischen Altertums. Wenn dieses auch nicht die erhabensten Muster der Menschenliebe kannte, welche in den ersten Anfängen des Christentums hervorleuchten, so fehlte ihm doch auch jene priesterliche Verfolgungswut, welche durch Ketzerverbrennungen die Welt in Schrecken setzte und hinterdrein mit ruhiger Überlegung sogar menschen-mörderische Inquisitoren heilig zu sprechen wagte.

Bis zum heutigen Tage bleibt die geschichtliche Wahrheit bestehen, dass ohne religiöse Freiheit in dem doppelten Sinne der Unabhängigkeit der Völker von den Fesseln der Priesterherrschaft und außerdem der Selbstbeschrmckung des Gewissens durch unmittelbare Hingabe an Gott weder wirtschaftliche noch auch politische Freiheit auf die Dauer Bestand haben könne. Der Name einer Staatsverfassung thut dabei gar nichts zur Sache, Wenige Gemeinwesen befinden sich in einem solchen Zustande politischer, religiöser und wirthschaftlicher Verwahrlosung wie die Mehrzahl der südamerikanischen Republiken.
Den bedeutsamsten Fortschritt auf der Bahn zur Befreiung unseres Volks erkennen wir in der Reformation. Sie heißt in ihrem innersten Grunde: Selbstverwaltung der an die Nachfolge Christi gebundenen Gewissenspflichten ohne priesterschaftliche Vermittlung; allgemeines Priestertum in Haus und Gemeinde, allgemeine Wehrpflicht in dem Gebrauch des Schwertes, das Christus nach seinen eigenen Worten zur Überwindung des Bösen in die Welt gebracht hat; Verwerfung jeder Stellvertretung in diesem Heerdienst der Liebe. Was bedeutet Priesterherrschaft Anderes als Stellvertretung Gottes in irdischen, des menschlichen Gewissens in göttlichen Dingen?
Freilich ist mit diesen Grundsätzen der in ihrer Jugendfrische aufleuchtenden Reformation fast nirgends Ernst gemacht worden. Wie man die Herrschaft des mittelalterlichen Papsttums einen großartigen Fürstenstaat über die menschlichen Seelen nennen darf, so nenne ich die Glaubensherrschaft protestantischer Konsistorien und ihrer theologisch verknöcherten Bekenntnisformeln den Feudalismus des kirchlichen Kleinstaatentums. Den innigen Zusammenhang zwischen religiöser und politischer Volksfreiheit hat insbesondere der Dichter des verlorenen Paradieses nachdrücklich hervorgehoben. Milton, in gleichem Grade fromm und freisinnig, sagte: „Ein Geistlicher, der sich blindlings und unbedingt auf Bekenntnisschriften verpflichtet, sollte seinem Vornamen als den ihm zukommenden Geschlechtsnamen das Wort „Sklave“ hinzufügen!“ Und ein anderes Mal: „Ketzer ist auch derjenige, welcher zwar das an sich Richtige glaubt, aber nur aus dem Grunde, weil es ihm der Priester befohlen, ohne dass er selbst die Wahrheit geprüft hätte.“
Die Unvollkommenheiten der wirtschaftlichen und politischen Freiheiten im gegenwärtigen Zeitalter erklären sich wesentlich daraus, dass die Macht der in religiöser Überzeugung wurzelnden Gewissenspflichten und ihre Gewalt über das Volksleben von den gebildeten Mittelklassen am meisten verkannt wird. So schwankt die Welt zwischen dem Drucke der Priesterherrschaft und einer auf eine einseitige Verstandesschärfung hinarbeitenden, um das Gemütsleben unbekümmerten Aufklärung, welche aus berechtigter Abneigung gegen das altkirchliche Formelwesen auch die religiösen Triebfedern der Menschheit verwirft. So geschieht es, dass Viele aus Hass gegen die Priesterherrschaft der tierisch magnetischen Kraft materialistischer Genusssucht verfallen und Andere aus Furcht vor einem alles Sittliche leugnenden Materialismus sich unter das schützende Dach einer verrotteten Priesterherrschaft zu flüchten suchen.
Nur solche Völker können niemals zurückfallen in politische Knechtschaft, denen der Glaube an ihre göttliche Bestimmung ewiges Leben spendet und damit die Befreiung wird von feiger Furcht vor den Gewaltmitteln der Unterdrückung. In den also befreiten Völkern wird die heilige Dreieinigkeit der politischen, wirtschaftlichen und sittlich-religiösen Freiheit immer mit und durch einander zusammen bestehen und in jedem Einzelnen die dreifache Pflicht der Selbstbeschränkung stets gegenwärtig und tätig erhalten: als Staatsbürger durch die Mitarbeiterschaft in der Übung der vom Volke freiwillig zu übernehmenden Pflichten gesetzlichen Gehorsams; als Haushalter in der Mehrung der nationalen Geistesschätze, wobei jede Arbeit als ein Beitrag zu den Gemeingütern begriffen werden muss; als Weltbürger durch die Macht, welche in dem Gebote der Nächstenliebe ruht.
Das Maß und der Höhengrad der politischen Freiheit, deren ein Volk fähig ist, lässt sich durch geschichtliche Untersuchung ermitteln. Es entspricht durchaus der Stärke des im Volke vorhandenen Gemeinsinnes, dem Maße freiwilliger Gesetzlichkeit, der Tiefe seiner religiösen Beweggründe, dem Verständnisse für die Regel der Gegenseitigkeit der Dienstleistungen im wirtschaftlichen Leben. Nur in demselben Maße, als diese Befähigung zur Freiheit wächst, können die äußeren Machtmittel der Staatsregierungen ohne Gefahr verringert werden. Und alles Wachsen geschieht langsam. Anfangs unfrei geboren, wie jedes Kind noch heute völlig abhängig von seiner nächsten Umgebung, ist die Menschheit dem gewaltigen Schulzwang des Staates unterworfen worden, um, durch die große Erzieherin Weltgeschichte fortgebildet, die Bedingungen ihres Wohlseins selbstständig erkennen und üben zu lernen.
Das geschichtlich beurkundete Zeugnis der Reife kann nur dasjenige Volk empfangen, welches gewillt ist, die Freitreppe zu dem Heiligtum seiner staatlichen Kultur aufzumauern aus der unzerstörbaren Zusammenfügung jener drei Stufen der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Freiheit und keine dieser Stufen baufällig werden zu lassen. Dieser Wille, welcher gleich ehernen Bildsäulen von jenem edlen Roste der Überlieferung bekleidet sein sollte, den des Künstlers Auge mit Wohlgefallen betrachtet, besteht aber nur dann gegenüber den Gesetzen der Verwitterung, wenn wir alltäglich an der Mehrung und Erhaltung politischer, wirtschaftlicher, sittlich-religiöser Geistes- und Charakterbildung im Volke arbeiten und nicht lediglich darauf vertrauen, dass die Staatsregierungen allein oder Andere für uns in den Kampf ziehen zur Abwehr der unserm Volksleben feindlichen Mächte.
Rom und das Mittelalter können nicht lediglich durch die juristische Macht der Gesetzesparagraphen auf die Dauer überwinden werden; denn ähnliche Gesetze haben auch in früheren Jahrhunderten bestanden, ohne dass die Priestermacht daran zu Grunde gegangen wäre. Alles, was bis jetzt von staatlicher Seite gegen die Hierarchie unternommen wurde, bedeutet nur ein Vorpostengefecht. Der Entscheidungskampf wird nur in der Volksschule ausgefochten werden. Den endlichen Sieg verbürgt uns nur der heilige Geist, welcher durch die Seele des ganzen Volkes hindurchflammend und hindurchströmend auch auf dem religiösen Gebiete zum Befreiungskämpfe treibt, um unser Volk zu einem reinen, formelfreien Christentum emporzuheben.
Auf dem Punkte, wo wir stehen, überblicken wir hinter und vor uns die Schlachtfelder, auf denen die Schatten der Erschlagenen mit uns kämpfen für die Erstürmung jener Höhen, welche die schwer gepanzerten Scharen der Herrschsucht, des Eigennutzes, der Heuchelei, sowie sämtliche Abgötter der rohen und der verfeinerten Gewinnsucht besetzt halten. Ehe wir diese Höhen nicht gewonnen haben, kann auch Pfingsten nicht das liebliche Fest der Maien für Deutschland wieder werden. Und den Frieden der Menschheit bringt nur der germanische Nordwind, welcher auf den Flügeln eines reineren, menschheitlichen Glaubens den seelendorrenden Scirocco der römischen Priestermacht über die Alpen in seine Wüste zurückjagt.

Holtzendorff, Franz von (1829-1889) Jurist und Hochschullehrer (2)

Holtzendorff, Franz von (1829-1889) Jurist und Hochschullehrer (2)