Die Storchenvaeter

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Storchennester, Sümpfe, Flüsse, Seen, Gewölle, Insekten, Ausmerzung, Mäuse, Frösche, Wasserkäfer, Mecklenburg, Livland, Estland,
Die Zahl der bewohnten Storchnester geht in Deutschland andauernd zurück, weil immer mehr Sümpfe trockengelegt und Flüsse kanalisiert werden. Doktor Flöricke fand bei tausendsechsundfünfzig Untersuchungen von Gewöllen, dass sich die Störche, besonders in trockeneren Jahren, bedeutend mehr Mäuse und Landinsekten als Frösche und Wasserkäfer, die ihnen eigentlich zukommen, einverleiben. Hat sich hiermit der Storch zur Freude unserer Landwirte an veränderte Verhältnisse angepasst, so scheint er sich mit der Vermehrung der Flugzeuge und vor allem der seine Flügel und sein Leben gefährdenden Starkstromleitungen, wie zahlreiche Beobachtungen lehren, nicht befreunden zu können. Er flieht nach Norden an die Küste.

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Mecklenburg hat, wie Krohn beobachtete, wieder eine kleine Zunahme zu verzeichnen, und sogar Livland und Estland, wo früher keine Störche nisteten, erfreuen sich jetzt dieser Einwanderung. Doppelt bedauerlich wird man unter diesen Umständen die bei den Störchen nach wie vor geübte Sitte der sogenannten Storchengerichte finden. Dem Zoologen Milewski gelang es kurz vor dem Kriege, in seiner Heimat an den Masurischen Seen nach mehrjährigen missglückten Versuchen, in einem Ellerngestrüpp versteckt, Ende August ein solches „Femgericht“ zu beobachten. Er sah, wie die Störche von allen Seitenheranflogen und wie dann die Schwächlinge durch Schnabelhiebe getötet wurden, worauf die ganze Schar, unter Geklapper auffliegend, die Stätte verließ.

Diese Heerschau hat den Zweck, die für die weite Reise nach Afrika Untauglichen auszumerzen, ist jedoch nach neueren Forschungen nur das Endglied eines schon mit dem Ei beginnenden Ausmerzungssystems. Diese Anfänge im Schoße der Storchenfamilie zeigen zugleich den wahren Grund und Ursprung des ganz in der Lebensweise und im Charakter unseres Storches begründeten und instinktmäßig weiterentwickelten Systems. Hat das Weibchen mehr als vier Eier gelegt, so entfernt das Männchen, wahrscheinlich während einer kurzen Abwesenheit des brütenden Weibchens, fast regelmäßig die überzähligen durch Hinauswerfen aus dem Neste. Der vererbte Instinkt hat den Storch gelehrt, nicht mehr als vier Junge ausschlüpfen zu lassen. In früheren Jahrhunderten mag es möglich gewesen sein, alle vier Jungen, die an Gefräßigkeit ihresgleichen suchen, großzuziehen, weil damals viel mehr Frösche und andere Beutetiere in den Sümpfen vorhanden waren. Jetzt ist dies nur noch sehr selten der Fall. Der Storch hält aber noch immer an der alten Vierzahl fest. Die Folge davon ist, dass den Eltern die Beschaffung der riesigen Nahrungsmenge für die heranwachsenden Jungen immer schwerer fällt. Dabei merkt dann der Vater bald, dass von seinen Kindern eins oder zwei nicht so schnelle und kräftige Fortschritte im Wachstum machen wie die andern. Diese Nesthäkchen bereiten dem an und für sich sehr reizbaren Vogel immer mehr Sorgen. Er stößt sie daher, wahrscheinlich in Abwesenheit der Mutter, aus dem Neste. Über das Verhalten der Mütter gegenüber dieser Behandlung ihrer „Sorgenkinder“ hat sich noch nichts Sicheres beobachten lassen.

In den letzten Jahren sind nun diese Ausmerzungen im Storchennest an verschiedenen Stellen des Deutschen Reiches von zuverlässigen Personen beobachtet und beschrieben worden. So hat der Oberlehrer Eger in Unterjesingen bei Herrenberg in Württemberg beobachtet, wie im Jahre 1920 von drei Jungen eins, 1921 von vier eins und 1922 von fünf Jungen eins ausgestoßen wurde. Der Lehrer Krahn in Lülgust, Kreis Neustettin in Pommern, sah, wie der Storchenvater in dem trockenen Jahr 1909 in dem Nest auf der Schulscheune auf sein drittes Junges einhackte und es schließlich hinauswarf. In Großskaisgirren in Ostpreußen zählte ein Lehrer fünf Junge im Nest und sah, wie der Vater erst eins von ihnen, tags darauf noch eins packte und nach kurzem Fluge aus ziemlicher Höhe herabfallen ließ.

In manchen Storchfamilien scheint sogar eine bestimmte Überlieferung zu herrschen. So bei der des Dorfes Markowsken, fünf Kilometer von der polnischen Grenze. Dort hat ein Herr Jenico in seiner Jugend lange Jahre das Tun und Treiben desselben Paares auf dem Scheunendach beobachtet. „Wir hatten genau ausspioniert,“ so schreibt er, „auf wieviel Eiern die Mama brütete; es waren meistens drei, manchmal auch vier. Wir wussten auch genau, dass erst kurz vor Beendigung der Brut meist ein Ei aus dem Nest herausgeworfen wird, wenn vier bebrütet waren. Später, etwa nach zwei Wochen, folgte ein junger Storch nach, der meist tot war, als wir ihn fanden. Mehr als zwei Junge wurden nie aufgezogen.“

Trotz alledem ist der Storchenvater im allgemeinen kein schlechter Familienvater, ja, er ist zuweilen von einer überraschenden Besorgtheit. Hatte da im Mai 1925 auf dem Dekanatshaus zu Neuenstadt am Kocher der Dachdecker verschiedene Schäden auszubessern. Dabei kam er auch dem hier befindlichen Storchennest zu nahe und sah, dass es kurz vorher Kindersegen erhalten hatte. Wütend ob der Störung hieben Vater und Mutter mit ihren Schnäbeln auf den schleunigst sich zurückziehenden Meister ein. So tapfer verteidigt ein Storchenvater noch heute sein Nest und seine Familie! Im April 1924 bezog ein Paar sein Nest auf dem Schornstein einer stillgelegten Fabrik in Elbing. Die Eltern waren ungemein zärtlich miteinander. Aber ihr Eheglück wurde gestört. Als das Weibchen brütete, erschien ein zweites Storchenpaar auf der Wohnungssuche. Vielleicht hatte der betreffende Gatte schon vorher ein Auge auf den schönen Schornstein geworfen; kurz, er machte einen wütenden Angriff nach dem anderen, besonders in den Abendstunden und schließlich sogar in einer sternklaren Nacht um die Geisterstunde. Auf beiden Seiten flogen Federn und setzte es Wunden, aber der rechtmäßige Besitzer blieb Sieger. Es ist sogar schon dagewesen, dass der Storchenvater fremde Kinder adoptierte. Doch kommt es hierbei immer auf die Individualität und Umstände an. Aber gegen Junge, die zur Ausmerzung bestimmt sind, scheinen die Störche unerbittlich zu sein. So ließen in einem Fall die Eltern ein ausgemerztes Sorgenkind im Nest verhungern; dieses Nest wurde im nächsten Jahr nicht wieder bezogen. Nur selten entgehen die Todgeweihten ihrem Schicksal. So sah man einen solchen Jungstorch noch um die Weihnachtszeit des Jahres 1912 die Wiesen um Lehnin bei Wittenberg nach Futter absuchen. Er wurde später in häusliche Kost und Pflege genommen, wo er auch vor der Verfolgung durch Feine „Femrichter“ geschützt war. Manchmal wird das Benehmen der Altstörche so gedeutet, als ob sie scheinbar das Junge abholen wollten. In einem solchen Falle, wo der Alte noch einmal kurz vor dem Aufbruch nach Afrika auf dem Dache erschien und unaufhörlich klapperte und gestikulierte, trug man schließlich den ruhig im Hofe herummarsschierenden Jungstorch in den Garten. Aber der Junge flog schnell über die Mauer in den schützenden Hof zurück, bevor sich dort der Alte auf ihn stürzen konnte. Nicht so leicht gab sich das Storchenfemgericht in Tübingen zufrieden. Diese biologisch hochinteressante Beobachtung verdanken wir dem 1727 bis 1729 als Mentor und Erzieher zweier Junker auf der Universität weilenden Gelehrten I. G. Keyßler. Dort hatte man einem solchen zurückgelassenen Storchenkind die Flügel beschnitten und ließ es frei im Hof umherlaufen. Im folgenden Sommer stellte sich dort ein Altstorch ein und ging dem Jungen zu Leibe. Diese Angriffe wiederholte er, immer von Zuschauern vertrieben, hartnäckig den ganzen Sommer hindurch. „Im folgenden Frühjahr,“ so berichtet Keyßler weiter, „kamen anstatt eines einzelnen Storches auf einmal vier, die ohne vorgängige Weitläufigkeit in den Hof des Kollegii herunterflogen und den zahmen Storch feindlich angriffen. Dieser tat zwar in Gegenwart vieler Zuseher, so auf den Galerien stunden, übermenschliche Dinge, wenn ich also reden darf, und wehrte sich mit seinen von der gütigen Natur verliehenen Waffen aufs äußerste; allein die Menge der Widersacher begann dennoch der gerechten Sache obzusiegen. Mut und Kräfte verließen den zahmen Ritter, und es schien um ihn getan zu sein, als sich eine unvermutete Hilfe hervortat. Die im Hofe vorhandenen Hähne und Hühner, Enten und Gänse dessen Freundschaft sich der Storch ohne Zweifel erworben hatte, scheuten keine Gefahr, sondern schlugen um ihn eine Wagenburg, unter deren Schutz er sich mit Ehren aus dem ungleichen Gefechte zurückziehen konnte. Man gab hierauf fleißiger auf solche verräterischen Unternehmungen der fremden Störche acht, und es wurde kein Blut mehr vergossen, bis endlich zu Anfang des dritten Frühjahrs über zwanzig Störche mit größter Furie in den Hof hineinstürzten und, ehe weder Menschen noch die getreue Leibwache das Ihrige tun konnten, den armen Storch ums Leben brachten, welches er durch seine tapfere Gegenwehr noch teuer genug zu verkaufen suchte.“

Der Storchenvater, vom Nest abfliegend
Kämpfe um das besetzte Nest Nach einer Zeichnung von P. Brockmüller
Junger Storch, anfliegend

Vögel, Der Storchenvater vom Nest abfliegend

Vögel, Der Storchenvater vom Nest abfliegend

Vögel, Junger Storch anfliegend

Vögel, Junger Storch anfliegend

Vögel, Kämpfe um das besetzte Nest

Vögel, Kämpfe um das besetzte Nest