Die Stadt im Wasser. Ein Spaziergang durch Venedig

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Ernst Hoferichter, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Italien, Venedig, Kanäle,
Jenseits der Alpen liegt meerumschlungen eine der interessantesten Städte der Erde, eine Stadt, die nicht ihresgleichen hat. Marmorpaläste steigen dort in die Höhe, Glocken mit fremden Klängen läuten in ein sonst nie geschautes Himmelsblau hinein. Venedig heißt die Stadt, die mitten im Wasser in aller Märchenpracht aufgebaut ist!

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Gondeln fahren wie schwarze Särge vorüber, Säulengänge und Portale laden zum Eingang ins Traumland vergangener Zeiten ein, wo noch nicht Dampfschiffe, Motorboote, Zeitungsverkäufer und Engländerinnen mit Hornbrillen auf den Nasen den Zauber dieser Stadt der tausend Wunder zerstörten. Aber lassen wir uns durch diese poesiefeindliche Gegenwart nicht den Ruf vergangener Jahrhunderte übertönen, der uns hier aus jedem Torbogen und aus jeder Fensternische entgegenschallt und von heimlichem Geschehen wunderliche Geschichten erzählt.

Vor mehr als anderthalb Jahrtausenden lagen am Ufer des venezianischen Meerbusens zahlreiche kleine Inseln, die öde und unbewohnt waren und von den Bewohnern des Festlandes nur bei Fischzügen betreten wurden. Da kam der gefürchtete Attila, vertrieb diese Veneter auf die Inseln, wo sie sich nun, von allen Seiten schützend vom Wasser der Lagune umgeben, Häuser auf Eichenpfählen erbauten. Schon im neunten Jahrhundert war aus dieser Notsiedlung eine ansehnliche Stadt geworden, die durch Handel und Schifffahrt sich zur Vermittlerin von Morgen- und Abendland aufschwang. Die einzelnen Stadtteile wurden von Dogen verwaltet, die mit ihren Familien bald die Herrschergewalt an ich rissen und aus denen dann später die Vornehmen und Adeligen der Renaissancestadt hervorgingen.

Nachdem die Rivalin Genua besiegt war, begann mit dem Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts Venedigs Pracht- und Blütezeit. Es erstand die Zeit der allmächtigen Patrizier, der himmelstürmenden Poeten und Maler und der Schönsten aller Schönen, die wir vor uns sehen, wenn wir uns in Venedigs Liebesgeschichten, Seufzerbrückenromane und Bleikammerabenteuer vertiefen. Damals waren all die Türme, Brücken und Paläste dazu da, Venedigs Größe der Mitwelt vor Augen zu führen. Damals war alles Selbstzweck. Im Überschwang von Lebensfülle, ohne spekulative Absicht wurde Kunst geschaffen, wurde das Leben dieser Stadt gelebt. Byzantinische, romanische und gotische Stilarten wechseln bei jeder Mauerecke mit alter und neuer Renaissance, so dass man das Gefühl hat, eine ganze vielbändige Kunstgeschichte sei reich und farbig illustriert, lebendig und mit Sprache begabt vor uns aufgebaut.

Da reißt uns der Pfiff eines Lidodampfers aus dem bunten Reich alter Geschichte zurück in die umgebende Wirtlichkeit. Aber noch steht genug Lebendiges und Lebensvolles, um auch ohne geschichtliche Versenkung in Vergangenes wie in einem Traume wandeln zu können.

Jetzt sind wir in der Mitte des weltberühmten Markusplatzes. Und wir erleben einen der schönsten Punkte der Erde. Er ist von dem Marmor des sonnenüberzogenen Dogenpalastes überragt und vom nahezu hundert Meter hohen Glockenturm, dem Kampanile. Die Piazzetta schließt mit den beiden Säulen als Wahrzeichen Venedigs den schönsten Rahmen, der je zusammengefügt wurde.

Tauben umflattern unsere Hände, Eishausierer drängen uns ohne Aufforderung Gefrorenes auf, und Glaskettenhändler geben falsche Lirescheine heraus. Glanz und Schwindel, Schönheit und Fremdenkitsch feiern hier eine eigenartige Vermählung. Gondeln und kleine Dampfer, die in Venedig die Droschke und Straßenbahn ersetzen, kommen vom Canale Grande her, wo Palast an Palast als Ehrenkompanie den Fremden erwartet, der - schon des Schauens müde - am Molo ausgeladen wird, um von da aus die mehr als hundert Inseln, hundertsiebzig Kanäle, vierhundert Brücken und die zweieinhalbtausend Gassen und Gässchen zu durchwandern.

Wir steigen auf den Kampanile in der Hoffnung, dass er nicht wieder, wie im Jahre 1902, einstürzen wird. Von da aus übersieht man das ganze Gewirr der Kanäle und Gässchen, bis hinüber zum Lido, dem besuchtesten Badestrand Italiens. Mit der Stadt Venedig ist er wie ein Bruder verbunden, und der Fremde kann nicht an Venedig denken, ohne sogleich das Wort „Lido“ in den Sinn zu bekommen. Aber internationale Hotels, eintönigen Meeresstrand und Salzwasser gibt es auch in anderen Seebädern. Wandern wir lieber durch Venedigs spielzeugkleine Gassen, wo vom Himmel herab ein leiser Regen tropft. Über unseren Köpfen hängt wie ein Gewölk weiße nasse Wäsche, von Fenster zu Fenster quer über die Gasse gespannt. Müde liegen in Santo Spirito alte Segler an der Hafenwand, um auf einen günstigen Wind zu warten.

Hier beginnt ein anderes Venedig. Die Stadt der Paläste, Marmortreppen und Luxusgaststätten liegt verdeckt hinter uns. Die venezianische Vorstadt wird Ereignis! Ohne auf Fremde zu warten, geht hier der Italiener seiner Arbeit nach. Hier gibt es keine Sehenswürdigkeiten im Sinne Baedekers, hier fehlen die Mokkadielen und Tanzbars, hierher kommt nur selten eines Fremden Lackschuhsohle.

Das Elend aller italienischen Vorstädte haucht da seinen dumpfen Atem die leblosen Kanäle entlang, Nähmaschinen stehen surrend an den Haustüren und zuweilen mitten auf der Gasse, Früchtehändler schnarchen aus ihren offenen Ladenhöhlen, aus einer Spelunke (Osteria) schnauft eine asthmatische Ziehharmonika, halbtote Fische springen mit letzter Kraft aus den Marktkörben übers Pflaster hin, dass die Sonne bis zur Glut erhitzt hat.

Eine Schar von halbgekleideten Kindern spielt im Müllhaufen „Verstecken“, oder sie reißen sich um eine alte Sardinenbüchse die Haare aus. Der hundertfältig abgestufte Wohnungsgeruch aus verbrannten Spaghetti, verschüttetem Rotwein, verdorrtem Gemüse und geronnenem Fett kommt aus Türen und Fenstern. Es wäre noch so viel zu sagen über dies „unbekannte Venedig“, aber schon werden die Schatten der Häuser lang wie Diebesfinger und stehlen die letzten Reste des Tages.

Und die venezianische Nacht, die Nacht aller Nächte, beginnt ...! Die Sterne spiegeln sich zu Haufen im schwarzen Lagunenwasser, aus allen Kanälen strömt Gesang, lampiongeschmückte Barken fahren lautlos wie ein Traum der Piazzetta zu, und es ist, als wären alle Märchenwunder der Welt und alle Zauberbilder der Literatur hier über den stillen Wassern auf einmal in Erfüllung gegangen.

Wein funkelt aus erhobenen Gläsern. Wie Magnesiumlicht blitzt es aus den Augen schöner Venezianerinnen. Wie einst tönt von den Balkonen der Paläste Lautenspiel herab, und die tausend und aber tausend Lichter am Markusplatz wachen zum Leben auf.

Kein Rad rollt und kein Tier schreit in dieser Stadt durch die Nacht. Weil die Straßen und Gassen meist aus Wasser gemacht und mit Wasser gepflastert sind. Nur Musik kommt als Überschwang aus den hellerleuchteten Caféhäusern. Troubadourmelodien fließen über die Piazza: wir drücken die Augen zu, um aus diesem Traum in den Traum des Schlafes zu verfallen.

Aber in dieser Stadt gibt es keinen Schlaf. Zeitlos wie ihre Märchen und Wunder scheint alles Erleben zu sein. Und zu Märchen und Wunder werden die Bilder nur solange, als man sie bewundert. Kritisch betrachtet tragen sie viel Falschheit und Verfall in sich, wenn man länger, als es einem eiligen Reisenden die Zeit erlaubt, unter ihnen verweilt.

Denn es ist nicht alles ferne Glänzende auch Gold, zumal dann nicht, wenn Mussolinis Reden uns in die Wirklichkeit zurückführen.

Die Piazzetta in Venedig. Nach einer Radierung von Sepp Frank. Bavariaverlag, München
Alter Palazzo in Venedig. Nach einer Radierung von Sepp Frank. Bavariaverlag, München
Bogengang am Dogenpalast. Nach einer Radierung von Sepp Frank

Venedig, Die Piazetta in Venedig

Venedig, Die Piazetta in Venedig

Venedig, Alter Palazzo

Venedig, Alter Palazzo

Venedig, Bogengang am Dogenpalast

Venedig, Bogengang am Dogenpalast

Venedig, Kanal

Venedig, Kanal