Die Sozialdemokratie und der Krieg. Eine Zeit- keine Streitfrage.

Ein Wort an die Arbeiterschaft
Autor: Schreyer, Paul (1887-1918) Journalist, Zeitungsherausgeber, Antimilitarist, Erscheinungsjahr: 1914

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Krieg, Krieger, Gesellschaft, Angst vorm Krieg, Kriegsherr, Feldherr, kriegsbeginn, Kriegsführung, Kriegsfolgen, Elend, Not, Tod, Qualen, Sorgen, Heldentum, Macht, Sieg, Brutalität, Friedenszeit, Kriegshandwerk, Weltkrieg, Befreiung, Frieden, Gefangene, Gefallene, Verderben, Lorbeer, Ruhm, Ehre, Sozialismus, Sozialdemokraten, Sozialdemokratie, Proletarier, Weltkrieg, Nationalismus, Arbeiterschaft, Massenmord, Unabhängigkeit, Wirtschaft, Markt, Kolonien
I. In ernster Stunde.

Schwere, dunkle Wolken lagern über Europa. Der solange befürchtete Weltkrieg ist zur Wirklichkeit geworden. Unter seinen vernichtenden Schlägen sinkt die heutige Kultur in Trümmer. Jedoch nicht nur die heutige „Kultur“, die auf der Ausbeutung der schaffenden Bevölkerung und der Unterdrückung des besitz- und rechtlosen Volkes beruht, vernichtet ihre eigenen Schöpfungen auf den Schlachtfeldern Belgiens, Frankreichs, Polens, Galiziens u. s. w. Auch die neue Kultur, die das werktätige Volk durch seine Kämpfe, sein Ringen, geführt und verkörpert durch die sozialdemokratische Bewegung, sich schaffen wollte, ist vom Brausen des Weltkrieges, vom Sturm des Nationalismus, der Völkervernichtung, des Massenmordes hinweggefegt worden.

Schon immer haben wir Anarchisten die Arbeiterschaft darauf hingewiesen, dass es so kommen würde, dass bei einem drohenden Kriege die Sozialdemokratie keine Bürgschaft für den Frieden bieten würde, ja, dass dieselbe bei einem ausgebrochenen Krieg denselben selbst unterstützen würde, also auf Seite der Herrschenden gegen die Proletarier der anderen Länder ins Feld ziehen würde. Deshalb wurden wir als Verleumder hingestellt, deren Behauptungen nicht zu beweisen seien. Vertraute doch die Arbeiterschaft zu sehr auf die Friedensbeteuerungen, die ihnen von den sozialdemokratischen Führern so reichlich geboten wurden.

Und nun diese Ernüchterung! Jetzt, wo tausende und abertausende junger Männer ihr Blut verspritzen sollen und schon verspritzt haben, wo Lazarette, Krankenhäuser, Hilfslazarette u. s. w. von hunderttausenden verwundeter, verkrüppelter Männer überfüllt sind, wo fast jede Familie ein Opfer des Krieges zu beklagen hat, wo die fruchtbaren Gefilde im Osten und Westen riesige Totenfelder und Trümmerhaufen geworden sind, da pochen die knöchernen Finger der Verzweiflung an die Hirne der Arbeitermassen. Sie erkennen den furchtbaren Irrtum, dem sie zum Opfer gefallen sind mit ihrem Glauben, dass die Sozialdemokratie ein Fels sei, an dem die Wogen des Krieges zerschellen würden. Sie hofften in der Sozialdemokratie die Führerin im Kampf, gegen den Krieg zu haben. Und nun erkennen sie, wie unsere gegenteiligen Behauptungen sich bewahrheiteten.

Nicht einmal versucht hat es die Sozialdemokratie, sich ernstlich dem drohenden Sturm des Weltkrieges entgegenzustemmen. Im Gegenteil, sie bot alles auf, auch den Arbeitern den Krieg schmackhaft zu machen. Sie bemühte und bemüht sich noch, alles zu fördern., was dem Lande, d. h. der Regierung, den Sieg versichern könnte. Die Scharen der besitz- und rechtlosen Proleten, die bisher in dem Glauben waren, dass sie kein Vaterland besitzen, welches sie verteidigen müssten, dass sie nur einen Feind zu bekämpfen haben, das internationale Ausbeutertum, diese wurden nun von der „internationalen“ Arbeiterpartei aufgefordert, ihre Pflicht gegenüber demselben Vaterlande zu tun, das sie bisher unterdrückte und in Elend und Not erhielt. Die nationale Leidenschaft feiert Triumphe in der Arbeiterpresse, in den Parteikundgebungen. Und dies ist nicht nur in Deutschland der Fall, auch die anderen Länder bieten dasselbe Bild. Vanderfelde wird Verteidigungsminister in Belgien, Guesde und Sembat werden Mitglieder des Ministeriums der nationalen Verteidigung in Frankreich. In der Schweiz, in Holland, in Skandinavien bewilligen die Sozialdemokraten die Militärkredite zur Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit.

Die Arbeiterschaft wird teils mitgerissen von diesem Chauvinismus, teils fügt sie sich in stumpfer Verzweiflung wie in ein Unabänderliches. Große Kreise der Proletarier fragen sich aber nach den Gründen dieser Haltung ihrer Partei, der Sozialdemokratie. Und sie glauben, verschiedene zu finden. Da sind die einen, die da sagen, die Massen seien nicht reif gewesen, die nationale Idee hätte diese mit fortgerissen, und so konnten die Führer nicht anders handeln. Da sind die anderen, die da behaupten, die Führer seien zu feige gewesen und hätten aus Furcht vor dem Gefängnis in das patriotische Horn gestoßen, die seien gekauft oder übertölpelt worden. Da sind dritte, die glauben, dass die Arbeiterschaft, vom imperialistischen Interesse erfüllt, glaubte, durch einen Sieg Kolonien, und damit größere Absatzmöglichkeiten für das heimische Wirtschaftsleben gewinnen zu können, wodurch auch das werktätige Volk eine Besserung in seiner Lebenshaltung erhalten würde. Gewiss, eine Anzahl Gründe, deren jeder einzelne an sich schon einer Bankrotterklärung der bisherige Tätigkeit der sogenannten modernen Arbeiterbewegung gleichkommt, die aber doch nicht den Kern der Frage treffen, der darin besteht, dass die Sozialdemokratie so handeln musste, als es geschah und noch geschieht, dass die Stellungnahme für den Krieg nichts weiteres ist, als logische Konsequenz sozialdemokratischer Anschauung und die zwingende Fortsetzung ihrer Tätigkeit.

Dass die Arbeiter etwas anderes erwarteten von der Sozialdemokratie, ist nur ein Zeichen dafür, dass denselben bisher nicht die klare Erkenntnis über das wahre Wesen der Sozialdemokratie zum Bewusstsein gekommen ist. Heute, in der erschütternden Wucht des Weltbrandes, zeigt sich der Unterschied zwischen sozialdemokratischen Anschauungen und Arbeiter-Hoffnungen, zwischen den sozialdemokratischen Parteizielen und Parteiinteressen und den Zielen und Interessen des werktätigen Volkes

Heute, in diesen ernsten Stunden, wo mehr als eine Welt in Trümmer geht, hat deshalb die Arbeiterschaft alle Ursache, nüchtern, aber scharf zu prüfen, was sie aus der Gegenwart lernen muss, und darnach in der Zukunft zu wirken, damit sie nicht nochmals dazu verdammt sei, nach Jahren, des Friedens wiederum das Blut ihrer kräftigsten Söhne im Interesse der Volksausbeuter und Volksunterdrücker dahin zu geben.

B004 Französische Karikatur auf den König von Preußen. 1870

B004 Französische Karikatur auf den König von Preußen. 1870

B006 Der Nordische Koloss. Französiche Karikatur von Honoré Daumier auf Kaiser Nikolaus I. und den Krimkrieg. 1854

B006 Der Nordische Koloss. Französiche Karikatur von Honoré Daumier auf Kaiser Nikolaus I. und den Krimkrieg. 1854

B007 Die englische Klaue. Französische Karikatur von J. Laurian. 1899

B007 Die englische Klaue. Französische Karikatur von J. Laurian. 1899

B008 Der Korse und seine Bluthunde schauen von einem Balkon der Tuilerien auf Paris hinab. Symbolische Karikatur von Thomas Rowlandson auf Napoleon I. 1815

B008 Der Korse und seine Bluthunde schauen von einem Balkon der Tuilerien auf Paris hinab. Symbolische Karikatur von Thomas Rowlandson auf Napoleon I. 1815

B002 Karikatur von Th. Th. Heine. Simplizissimus

B002 Karikatur von Th. Th. Heine. Simplizissimus

B009 Die Bluternte von 1870. Französische Karikatur von Faustin. 1871

B009 Die Bluternte von 1870. Französische Karikatur von Faustin. 1871

B010 Der Totenwagen. Aus dem Burenkrieg. Kohlezeichnung von Max Slevogt

B010 Der Totenwagen. Aus dem Burenkrieg. Kohlezeichnung von Max Slevogt

B012 Preußischer General. Französische Militärkarikatur von Draner. 1862

B012 Preußischer General. Französische Militärkarikatur von Draner. 1862

B019 Der großmütige Verbündete. Englische Karikatur von James Gillray auf den Kaiser Paul von Russland und seinen Vertragsbruch gegenüber England.

B019 Der großmütige Verbündete. Englische Karikatur von James Gillray auf den Kaiser Paul von Russland und seinen Vertragsbruch gegenüber England.