Liguria trat eines Tages plötzlich in mein Zimmer. Die Unsicherheit ihres Blickes, die Hast ihrer Bewegungen, die Unordnung ihrer Haartracht ...

Liguria trat eines Tages plötzlich in mein Zimmer. Die Unsicherheit ihres Blickes, die Hast ihrer Bewegungen, die Unordnung ihrer Haartracht und ihrer Kleidung, alles kündigte eine Verwirrung und eine außergewöhnliche Erschütterung in ihr an. Ich war noch im Bett. Sie setzte sich zu mir, sie küsste mich, sie wollte sprechen; aber sie war zu bewegt; ihr Mund stieß nur unartikulierte Laute aus. Ich hebe dieses sanfte Kind zärtlich. Ich glaubte, daß sie irgendein Unglück erfahren habe. Ich versuchte, sie durch meine Zärtlichkeiten zu beruhigen; nach und nach kam sie zu sich und, sobald sie den Gebrauch der Worte wieder erlangt hatte, rief sie aus: „Ah, meine liebe Leucosia, was habe ich Ihnen alles zu sagen! Gestern, beim Untergang der Sonne, dünkte mich, sah ich Biblis: sie näherte sich mir mit einer geheimnisvollen Miene; sie hüllte meinen Kopf in einen weißen Schleier und befahl mir, ihr zu folgen. Ich gehorchte ohne Zaudern. Sie wissen, wie ich dieser Frau vertraue. Wir schritten durch die Stadt bis zu der Stelle, wo mein Vormund wohnt; dann traten wir in eine schmale und abgelegene Straße. Das wenige des Tages, das uns bis dahin geleuchtet hatte, verließ uns gänzlich. Die Stille, die Biblis beobachtete, die Unkenntnis des Ortes, die entsetzliche Nacht, die mich umgab, durchdrangen mich mit einem geheimen Schrecken, dessen ich mich nicht erwehren konnte. ,O, wohin führen Sie mich, meine liebe Biblis?‘ fragte ich sie. Sie antwortet mir nicht. Eine Tür öffnet sich, und wir steigen in einen dunklen, unterirdischen Gang hinab, über eine gewundene Treppe.

Stellen Sie sich vor, meine liebe Leucosia, von welchem Schrecken ich erfüllt war. Nachdem mich Biblis einige Zeit in der Dunkelheit geführt hatte, verließ sie mich plötzlich. ,Sie sind‘, sagte sie, ,in dem Tempel eines Gottes! Hüten Sie sich, was immer sich ereigne, die Weihe der Mysterien durch Ihre Rufe zu stören.‘ Als sie diese Worte beendet hatte, entfernte sie sich.


Die Überraschung machte mich starr. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Von welcher Art sind denn diese Mysterien, die hier feierlich begangen werden, sagte ich zu mir selbst. Warum sie mit einer so dichten Nacht bedecken? Aber die Götter sprechen nicht aus, auf welche Art sie angebetet sein wollen. Es ist nicht an uns, in ihr Geheimnis zu dringen, denn sie hüten es eifersüchtig. Es genügt zu wissen, daß ich in ihrem Tempel bin. Ohne Zweifel achtet man die Unschuld hier, und Biblis liebt mich zu sehr, um mich irgendwelchen Gefahren auszusetzen. Diese kurzen Überlegungen haben mich beruhigt. Ich habe die Hände ausgestreckt, rings um mich her, um mich zu versichern, daß ich keinen Gefährten meines Abenteuers habe, den ich um Aufklärungen bitten könne, und ich habe mit größter Aufmerksamkeit nach jedem Geräusch gehorcht, das dienen könne, meine Schritte zu lenken.

Aus der tiefen Stille, die rings um mich herrschte, entflohen von Zeit zu Zeit Seufzer, aber nicht von jenen schmerzvollen Seufzern, die uns ein quälendes Gefühl entlockt. Sie drangen bis an mein Herz, aber sie erregten dort weniger Mitleid als eine gewisse süße Empfindung, die durch meine Adern ein zartes Feuer rinnen ließ. Ich empfand ein nie gekanntes Gefühl. Ich war außer mir; ich wünschte, ich fürchtete, ohne die Ursache meiner Wünsche und meiner Ängste zu kennen. Ein leises Geräusch, das sich hören ließ, zwang mich, meine Aufmerksamkeit zu verdoppeln. Es war das eines leichten und zögernden Schrittes. Das Geräusch schien sich mir zu nähern: in dem Augenblick ergriff man eine meiner Hände. Sie kennen meine Schüchternheit, meine liebe Leucosia. Allein an einem Ort, an dem alles mir unbegreiflich schien, da habe ich gefühlt, daß eine fremde Hand die meine ergriff — sollte ich nicht aufschreien? — Ich habe Anstrengungen gemacht, um mich zu befreien. ,Warum fürchten Sie mich, entzückende Liguria?‘ sagte eine tiefe Stimme zu mir, zu stark, um die einer Frau zu sein; aber so wohlklingend, so sanft, so rührend, daß sie nicht die eines Sterblichen sein konnte. ,Warum ängstigen Sie sich? Warum fürchten Sie meine Zärtlichkeiten und mein Entzücken? Ich bin der Gott, den man an dieser Stätte verehrt. Ach, was nützen mir Weihrauch, die Opfer, die man mir bringt, die Ehren, die mich niederdrücken, wenn ich nur nach dem Glück atme, geliebt zu werden, ohne es erlangen zu können?‘ ,Sie sind ein Gott?’ habe ich noch erschreckter geantwortet. ,Was fordern Sie von mir, außer der Scheu und der Furcht?‘ ,Wenn sie mir gebühren, so fordere ich sie nicht von Ihnen; von Ihnen, von der mein Glück abhängt; Sie, deren Besitz mich tausendmal glücklicher machen würde als selbst die Unsterblichkeit. Halten Sie die Glückseligkeit eines Gottes fest, liebenswürdige Liguria, verscheuchen Sie sie nicht durch Ihre Kälte. Dieser Gott wird Ihnen nach bestem Vermögen dienen, um Sie glücklich zu machen, wenn Sie der Gegenstand seiner Liebe sein wollen.‘

Stellen Sie sich meine Verwirrung vor, meine liebe Leucosia. Was konnte ein Mädchen ohne Erfahrung einem mächtigen Gott antworten, der in sie drang? Denn ich zweifele nicht, daß dieser ein Gott war. Es gibt nichts Menschliches in meinem Abenteuer. ,Glauben Sie denn,‘ habe ich geantwortet, ,daß ich mich so über das schwache Vermögen meiner Reize täusche? Sie sind ein Gott, mein Herz sagt es mir. Niemals hat die Nähe eines Sterblichen mir eine solche Bestürzung verursacht, wie ich sie jetzt fühle. Aber Ihre Macht erschreckt mich mehr, als daß sie mich beruhige. Was habe ich zu erwarten, wenn ich mich Ihren Zärtlichkeiten hingebe? Bin ich der Spielball einer vergänglichen Laune, heute die Ursache Ihrer Wünsche, morgen die Ihrer Gleichgültigkeit, vielleicht Ihrer Verachtung, wenn ich einwillige, Ihnen zu gehören? Und wenn sich die Liebe meiner bemächtigt — welcher schrecklichen Verzweiflung werde ich ausgeliefert sein? Weiß ich, wie Götter lieben? Verpflichten ihre Liebesschwüre mehr als die der Menschen?‘ ,Ah,‘ hat mir die Stimme geantwortet, ,beurteilen Sie meine Gefühle nicht nach denen der anderen. Zwingen Sie mich nicht, die Erhabenheit zu verabscheuen, die mir den Weg zu Ihrem Herzen versperrt. Die Glut, die ich empfinde, meine liebe Liguria, hat niemals ihresgleichen gehabt, weder in den Himmeln noch auf der Erde. Fordern Sie Beweise! Ah, was würde ich nicht tun, um mich Ihres Besitzes zu versichern? Ja, ich schwöre, bei Ihren Reizen, bei dem feurigen und heftigen Verlangen, das mich fortreißt, bei der brennenden Glut, die mich verzehrt: Sie allein können mein Glück ausmachen. Und wenn Ihr Herz meine Empfindungen nur etwas erwidern würde, mein Glück würde keine Grenzen kennen. Aber Sie sind stumm, und meine flammende Liebe selbst vermag nicht, Sie zu rühren. Ah, grausames Geschick, ich sehe mein Unglück nur zu klar. Ich habe bis zu diesem Tag gekämpft, um Ihnen eine vergebliche Neigung nicht zu zeigen; aber meine Leidenschaft erklärte sich endlich besiegt durch ihre ungeheure Stärke. Juno begünstigt mich; sie selbst hat sie in der Erscheinung der Biblis an diesen Ort geführt, der meiner Liebe so günstig schien; an diesen Ort, der für Sie und für mich der Schauplatz der reinsten Freuden sein könnte, und an dem ich nur meine Qualen vergrößert fühle. O, meine Göttin! Sehen Sie den Zustand, dem Sie mein Herz unterworfen haben, und wenn das Ihre der Liebe verschlossen ist, öffnen Sie es wenigstens dem Mitleid.‘

Als der Gott zu mir sprach, hielt er mich unmerklich umschlungen; ich dachte nicht, mich zu wehren. Ein Kuss, den er mir gab, riß mich aus meiner Zerstreutheit. Ich wollte seinen Armen entschlüpfen, aber das Feuer seiner glühenden Lippen war schon in meine Seele gedrungen. Ich zwang mich, mich seinen Umarmungen zu entziehen, und ich fand nur die Kraft, sie zu erwidern. Bezaubert durch eine Unruhe, die noch größer wurde durch das Ungestüm seiner Zärtlichkeiten, hat er mir sein Entzücken durch tausend neue Küsse bezeigt, die aus Nektar und Ambrosia gemischt waren. Nein, die Liebe selbst würde sie nicht besser geben können. Ich will es dir nicht verbergen. Wenn das Verlangen meines Liebhabers, mit seinem Erfolg zufrieden, auf meinen Lippen hingeschwunden und nicht größer geworden wäre, meine Arme hätten niemals die Kraft gehabt, um ihn zurückzuhalten. Aber seine unbesonnenen Aufwallungen haben mich bald zu mir selbst gebracht. ,Grausamer‘, habe ich zu ihm gesagt, zusammenraffend, was mir an Kräften blieb, um mich zu verteidigen und zu ihm zu sprechen, ,was versuchen Sie zu tun? Sie können ohne Zweifel Schwäche einflößen, wollen Sie daraus Nutzen ziehen, um mich zu verführen? Ich bin unschuldig, Sie sind ein Gott, achten Sie mich, achten Sie sich selbst, lassen Sie mich fliehen . . ‘ ,Sie fliehen, — Undankbare,‘ antwortete er mir, ,da ich die Himmel für Sie verlassen habe! Ist Ihnen dieses Opfer nichts wert? Kann ich größere bringen? Und verdiene ich Ihre zärtlichsten Gefühle nicht? Welche ist, außer Ihnen, die Sterbliche, die sie mir verweigern würde?‘ ,Ah,‘ habe ich ausgerufen, ,lassen Sie sich an meiner Zärtlichkeit genügen! Welche andere könnte Sie mehr lieben als ich? Ich rufe die Götter, die ich fürchte, zu Zeugen an: ich habe niemals, was ich für Sie empfinde, je gefühlt. Das ist genug, um Ihnen zu sagen, daß in der Verwirrung, in der ich bin, ich keine Kraft mehr habe, um mich zu wehren. ,Sie lieben mich, Liguria?‘ hat mein Liebhaber erwidert. ,O, Bekenntnis, das mich entzückt. Sie lieben mich, o, sagen Sie es mir noch einmal . . . Sie lieben mich? . . .‘ Der Gott, durch das Übermaß seiner Dankbarkeit hingerissen, hat mich mit einerneuen Flut seiner Zärtlichkeiten überschüttet, die meine Vorwürfe zurückgehalten hatten. Ich habe alles getan, was ich konnte, um ihm zu widerstehen, aber endlich: was konnte ich tun? Er ist ein Gott, und ich bin nur eine schwache Sterbliche.

Wie soll ich dir alles schildern, meine liebe Leucosia? Diese brennenden Liebkosungen, diese zärtlichen Bekenntnisse meines Geliebten? ,Süße Liguria,‘ sagte er zu mir, ,ich schwöre es beim Styx, ich werde Sie immer lieben. Aber was soll aus mir werden, wenn ich Sie verlieren müsste? Welche Marter für mich! Schließen Sie auf meine künftige Verzweiflung aus meinem gegenwärtigen Entzücken. Würde ich nicht beklagen, nicht mit Ihnen sterben zu können? Meine Ruhe ist mir genommen. Die Götter werden mir diese Gnade nicht verweigern: Sie werden Ihnen Unsterblichkeit verleihen, denn Ihr Liebreiz hat Sie dessen würdig gemacht.‘

,Wie, ich werde unsterblich sein?’ habe ich, außer mir vor Freude, zu ihm gesagt. ,Ah, mein süßer Geliebter, ich werde Sie doch immer lieben.’ — Als ich diese Worte aussprach, ließ sich ein dumpfes Geräusch hören, der Gott entwand sich meinen Armen. ,Ich verlasse Sie,’ sagte er zu mir, ,aber nur, um Sie bald wiederzusehen und Sie unsterblich zu machen. Ich werde mit Jupiter sprechen.’ Und im Augenblick hat er sich zurückgezogen.

Welche Trennung! Was habe ich gelitten, meine teure Leucosia! Alle Freuden haben mich mit meinem Geliebten verlassen. Sie haben in meinem Herzen nur eine schreckliche Leere gelassen. Das Entsetzen der Finsternis, die mich umgab, hat sich verdoppelt, und um meine Verzweiflung aufs äußerste zu steigern, haben Gewissensbisse sich fühlbar gemacht. Denn, obgleich ich schuldlos war, fand ich nichts, um mich von ihnen zu befreien. Zweifellos beklagt die Tugend immer, daß irgendwelche Rücksicht genommen wurde, um sie zu stützen, und die Schamhaftigkeit beunruhigt sich sogar über den Genuss erlaubter Freuden. Wie dem auch sei: jetzt mache ich mir keine Vorwürfe. Wenn ich den Zärtlichkeiten des Gottes mich ergab, so ergab ich mich ihm nur als Gattin; ich habe als Gewähr seiner Treue seine Schwüre, ich kenne seine Aufrichtigkeit und seine Liebe. — Er hatte mich kaum verlassen, als eine unbekannte Stimme mich mit meinem Namen anrief. Ich habe mich nach der Seite vorwärts bewegt, von der sie kam. Man hat meine Hand ergriffen, und ich bin aus dem Tempel durch die Tür hinausgegangen, durch die man mich hereingeführt hatte . . .“ Liguria ist keine andere als ein Fräulein Forestier, eine hübsche Putzmacherin von vierzehn bis fünfzehn Jahren, in die der Herzog D . . . heftig verliebt war. Biblis ist die Dubuisson, eines der geschicktesten Werkzeuge, die die berühmte Gourdan je gehabt hat. 9) Leucosia ist eine gute Freundin der kleinen Forestier. Der Tempel ist nur ein Zimmer des kleinen herzoglichen Hauses. Kaum hatte Liguria, oder, um unverhüllt zu sprechen: Fräulein Forestier, aufgehört zu erzählen, als sie in den Augen ihrer Gefährtin suchte, was jene über dieses erstaunliche Abenteuer denke. Als jene eben anfing, ihr ihre Gedanken darüber mitzuteilen, hörte man wiederholt an die Tür klopfen. Die Gefährtin öffnete zitternd ... Es war die Dubuisson, die sich selbst durch Händeklatschen und durch schallendes, unbändiges Gelächter ankündigte. Sie flog der jungen Liebhaberin um den Hals. „Ja“, sagt sie zu ihr, „wir haben in Ihnen eine Göttin mehr: jener gewisse Olymp konnte keine bessere Erwerbung machen. Treten Sie ein, entzückender Gott,“ rief sie dem Herzog, der ihr folgte, zu, „kommen Sie, um Ihrer Göttin neue Versicherungen Ihrer Liebe, die Sie ihr geschworen haben, zu geben und um ihr das Geschenk der Unsterblichkeit zu bestätigen.“ Der Herzog fällt der getäuschten Schönen zu Füßen, die endlich begreift, daß man sie zum Narren gehalten hat. Die Scham und die Schande bedecken ihre Wangen mit tiefer Röte, und vor Verdruss ist sie in Tränen gebadet. Sie will ihrem Liebhaber sich entziehen, aber ihre Kräfte verlassen sie. „Bestrafen Sie mich! Nehmen Sie mein Leben,“ sagt der Herzog, sie fest in seinen Armen haltend, „ich bin ein Unverschämter, ich bekenne es. Aber verzeihen Sie: wenn ich Sie für wenige Augenblicke getäuscht habe, so geschah es, um Sie nie mehr zu täuschen. Die Liebe, die mich verzehrt, sei meine einzige Entschuldigung. Kann sie mir Verzeihung erwirken? . .“ Der Herzog sprach voll Anmut; er ist gut gewachsen, jung, galant. Er seufzte, er vergoss selbst Tränen, die ganz ehrlich schienen. Schließlich war er so, wie man sein muss, um die Frauen zu gewinnen; zudem war seine Schöne verliebt, ohne Erfahrung, und der Zorn dauert in den Herzen der jungen Mädchen nicht lange. Der Herzog benahm sich so gut, daß die Tränen des jungen Mädchens nach und nach versiegten. Sie können sich denken, daß man nicht gezögert hat, die kleine List zu verzeihen und daß man die Vergebung durch so leidenschaftliche Zärtlichkeiten bekräftigt hat, daß die alte Dubuisson, die Zeugin davon war, lebhaft bewegt schien, so abgestumpft sie sonst ist. Seit dieser Zeit hat die junge Putzmacherin einen Wagen, Spitzen, Diamanten und ein hübsches, gut ausgestattetes Haus.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.