Ist ein junges Mädchen nicht stark genug, ihre Natur und eine Leidenschaft, die mitunter nichts Sträfliches birgt, ...

Ist ein junges Mädchen nicht stark genug, ihre Natur und eine Leidenschaft, die mitunter nichts Sträfliches birgt, zu bekämpfen, so geschieht es selten, daß sie kein Mittel fände, die Folgen ihrer Schwäche zu zerstören. Ist das Unglück einmal geschehen, sollten vorsichtige und weise Eltern für das Opfer von Liebe und Konvention Partei nehmen: man muss warten, bis der Rausch verflogen ist, ehe man dem Manne Vorhaltungen macht, der sich dem Wein zu sehr ergibt, und da nichts einer Herzensaffäre mehr schadet als Öffentlichkeit, sind zornige und aufbrausende Eltern, die ihr nicht helfen, ihre Schuld zu verheimlichen, viel mehr zu tadeln, als das empfindsame Mädchen, dem es an Erfahrung fehlt.

So denkt auch Mme B., eine ehrenhafte, von ihren Kindern vergötterte Frau, doch ist sie mit einem Manne vereint, dessen Prinzipien weit anders lauten.


Eines Tages kam sie einem Geheimnis auf die Spur, das ihre Tochter ihr vergeblich hatte verstecken wollen; sie empfing ihr Geständnis; ein einfaches, unschuldsvolles Herz vermag einer zärtlichen und geliebten Mutter nichts lange zu verheimlichen.

Mme B. trocknet die Tränen ihrer Tochter und verspricht ihren Beistand, um einem gefürchteten Vater dies Abenteuer zu verbergen. Die unvergleichliche Mutter gibt vor, selbst schwanger zu sein, und der Gewohnheit gemäß, die sie bei sich eingeführt hat, verwehrt sie ihrem Mann ihr Schlafgemach zu all den Stunden, die ihm das Geheimnis hätten enthüllen können; geschickt benutzte Kleidungsstücke, tausend kleine gesundheitliche Sorgen und Bemühungen aller Art lassen die Welt von Mme B.s Schwangerschaft wissen. Der fatale Moment nähert sich; diese bewunderungswürdige Mutter findet es wünschenswert, daß ihre Tochter Zeugin der Entbindung sei, gleichsam, um ihr eine nützliche Lektion zu geben; der Chirurg ist Mitwisser. Als der Vater eintreten darf, sieht er ohne Erstaunen im Bett neben der vermeintlichen Wöchnerin seine Tochter, die angibt, durch das aufregende Schauspiel, dem sie beigewohnt hat, krank geworden zu sein; er erweist seinem Enkelkind, das er für sein eigenes hält, tausend Zärtlichkeiten; seine wirkliche Mutter erfreut sich wenigstens des Trostes, ihr Kind als ihren Bruder herzen zu dürfen.

Heute darf sie es betrachten, ohne erröten zu müssen, da sie mit dem vereint ist, der ihm das Leben gab. Sie ist tugendhaft geblieben, obschon sie ein Verbrechen gegen die Tugend begangen hat. Wie schrecklich hätten aber die Folgen einer in so mancher Hinsicht entschuldbaren Torheit werden können, wenn sie eine andere, weniger nachsichtige Mutter gehabt hätte!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.