Der berühmte Abbé Prévost soupierte einst mit einigen intimen Freunden, die wie er Schriftsteller waren. ...

Der berühmte Abbé Prévost soupierte einst mit einigen intimen Freunden, die wie er Schriftsteller waren. Nachdem man die Politik, die Literatur, den Tagesklatsch erschöpft hat, kam man unmerklich auf die Moral zu sprechen.

Einer der Anwesenden bemerkte, wie der anständigste Mann nicht dafür einstehen könne, daß er nicht eines Tages Strafen unterliegen würde, wie sie Verbrechern reserviert sind.


„Fügen Sie hinzu,“ sagt der Abbé Prévost, „daß sie es auch nicht verdienen würden.“

Alle erhoben bei dieser letzten Behauptung lauten Einspruch. „Gewiß, meine Herren,“ nahm der Abbé wieder das Wort, „ich behaupte, daß sehr wohl jemand mit einem guten Herzen, das Unglück haben kann, ein Verbrechen zu begehen, das aufs Schafott führt.“ Man sagte, dies sei unmöglich. — „Meine Herren,“ fuhr der Abbé fort, „Sie alle sind meine Freunde; ich kann auf Ihre Verschwiegenheit rechnen und Ihnen in aller Sicherheit ein Bekenntnis machen, das ich noch zu niemandem gewagt habe. Sie halten mich alle für einen anständigen Menschen?“ Jeder sagte, daß er keineswegs an seiner Rechtschaffenheit zweifle.

„Und dennoch,“ fährt der Abbé fort, „habe ich mich eines der größten Frevel schuldig gemacht, und wenig hätte gefehlt, daß ich eines schmachvollen Todes umgekommen wäre.“ Ein jeder meinte zuerst, er scherze. — „Nichts“, sagte er, „ist ernsthafter.“ Man betrachtete sich mit Erstaunen.

„Also, ich habe meinen Vater getötet.“ Man weiß nicht, was man glauben soll, und drängt, dies Rätsel zu erklären. Er fährt in seiner Geschichte fort: „Als ich das Collège verließ, verliebte ich mich, in eine kleine Nachbarin meines Alters; ich machte sie in mich verliebt und erlangte alles, was ein Liebhaber sich wünschen kann. Schließlich stellten sich auch die Folgen ihrer Schwäche ein. Ich war trunken vor Liebe. Ich wünschte, ohne Unterlaß ihr zur Seite zu sein. All meine Zeit verbrachte ich mit ihr. Meine Eltern drängten mich, einen Beruf zu wählen. Ich wünschte nichts als die Lust, im geheimen meine Mätresse anzubeten. Jede andere Beschäftigung schien mir unerträglich. Mein Vater, den einiger Argwohn über meine Gleichgültigkeit erfaßte, spähte mir nach, folgte mir, und es gelang ihm, meine Liebschaft zu entdecken. Eines Tages kam er zu meiner Mätresse, die seit drei oder vier Monaten schwanger war, im selben Moment, als ich dort weilte. In meiner Gegenwart machte er ihr bittere Vorwürfe über die verbrecherische Liaison, die sie mit mir unterhielt. Ich wahrte Schweigen. Er warf ihr auch vor, daß sie mir ein Hemmnis zum Erfolge sei. Sie wollte sich rechtfertigen. Er überhäufte sie mit Schmähungen; sie brach in Tränen aus. Ich verteidigte sie; mein Vater geriet in Wut und erhitzte sich schließlich derart, daß er sich soweit vergaß, die Unglückliche zu schlagen. Er versetzte ihr selbst einen Fußtritt in den Leib; sie stürzte ohnmächtig zusammen. Bei diesem Anblick verlor ich den Kopf und warf mich auf meinen Vater; ich warf ihn die Treppe hinunter. Der Fall verletzte ihn so schwer, daß er am selben Abend starb. Er war großmütig genug, mich nicht zu denunzieren. Man nahm an, er sei von selber gefallen. Man begrub ihn, und sein Schweigen rettete mich vor Schande und qualvollem Tod. Dennoch fühlte ich nicht weniger die Ungeheuerlichkeit meiner Schuld. Ich habe lange einen dumpfen und schweigsamen Schmerz bewahrt, den nichts zerstreuen konnte. Ich beschloß, in der Einsamkeit eines Klosters meine Trauer und Betrübnis zu begraben und ich wählte den Orden zu Clugny. Vielleicht schulde ich der tiefen Melancholie, die diese erste jugendliche Verirrung über den Rest meines Lebens gebreitet hat, den Hang zum tragischen Ereignis, zur schrecklichen Situation, zum düsteren und unheimlichen Kolorit, das meine Ar- beiten, die ich veröffentlicht habe, erfüllt. Die Freunde des Abbé hörten dies Geständnis mit einer Spannung an, in der Schrecken und Erstaunen sich mischten. Sie wollten sich von seiner Wahrheit nicht überzeugen lassen. Sie bildeten sich ein, daß der Abbé Prévost ihnen diese Begebenheit, die er in einem Romane verwenden wollte, versuchsweise erzählt habe, um ihren Eindruck zu beurteilen. Sie haben wiederholt auf Bestätigung dieses Erlebnisses bestanden. Er hat ihnen immer von neuem dessen Wahrheit beteuert.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Sitten des Rokoko.