Fortsetzung (2)

Dringlicher war aber die Finanzfrage. Vielleicht, dass der Minister hier eine günstigere Stimmung fand und auf den Resultaten des vorigen Jahres fortzubauen im Stande war. Um die Abschaffung des Zwangskurses der Banknoten herbeizuführen und das Kirchengütergeschäft in Fluss zu bringen, hatte Cambray-Digny im März einen neuen Vertrag mit Rothschild abzuschließen versucht, war aber gescheitert und verzichtete nunmehr auf die Heranziehung des ausländischen Kapitals. Am 21. April trat er mit einer neuen Finanzdarlegung vor die Kammer, auf deren Grund er folgende Operationen vorschlug: 1) sollte der Verkauf der Kirchengüter, der unter der Initiative der italienischen Kreditbank gebildeten banaa pei beni domaniali übertragen werden, und diese die Summe der noch übrigen 300 Mill. vorschussweise leisten. Es waren nämlich von dem Gesamtbetrage von 400 Mill. allmählich doch 100 Mill. Obligationen vertrieben worden; trotz der Zahlung der Zinsen in italienischem Papiergeld hatte sich seit Cambray-Dignys Geschäftsführung der italienische Staatskredit nicht unbeträchtlich gehoben; für die übrigen 300 Mill. aber, deren Vertrieb jetzt bei dem bis auf 85 gestiegenen Kurs ins Stocken geriet, sollte nun das Pauschalgeschäft mit der Domänengüterbank helfen; 2) sollte der Dienst des Staatsschatzes der Nationalbank übertragen und mit der letzteren die Bank von Toscana verschmolzen werden. Endlich aber verlangte der Minister 3) die Ermächtigung zu einer Zwangsanleihe von 320 Mill. Fr.

Um für diese Finanzoperationen eine Kammermehrheit zu erlangen, versuchte das Ministerium zunächst eine Operation im Parteiwesen der Kammer, die, wiederholt versucht, immer an der Unversöhnlichkeit der Gemüter gescheitert war, jetzt aber angesichts der Finanznot und angesichts der bedrohlichen Stockung der parlamentarischen Arbeiten eine letzte Anstrengung herausforderte. Es handelte sich um nichts Geringeres als um die Versöhnung der grollenden Piemontesen. Keine der frondierenden Parteien hatte mehr geschadet als diese; aus Groll über die Verlegung der Hauptstadt hatten die von Hause aus konservativen Piemontesen, welche bis zum Herbst 1864 ein Hauptbestandteil der ministeriellen Partei gewesen waren, ein unnatürliches und unmoralisches Bündnis mit der Linken abgeschlossen. Sie hatten nicht nur aus Hass gegen die Hauptstadt Florenz in das unvernünftige Geschrei Roma capitale eingestimmt, sondern außerdem auch in allen inneren Fragen den seither gefolgten Ministern hartnäckige Opposition gemacht. Kein Appell an den Patriotismus hatte die Verbitterung zu überwinden vermocht, welche die Hauptschuld an der unerquicklichen Zerklüftung der Parteien trug. Wenn Cambray-Digny die Versöhnung der „Permanenten“ gelang, so war dies offenbar ein Erfolg von entscheidender Bedeutung, die Bedingung späterer Erfolge. Schon als er sein neuestes Exposé der Kammer vorlegte, hatten vertrauliche Verhandlungen mit den Führern der Permanenten begonnen, selbstverständlich nicht ohne dass man ihnen einen Antheil an der Regierung in Aussicht stellte. Wirklich kamen sie diesmal dem Wunsch einer Verständigung entgegen, sie schienen ihrer bisherigen Rolle überdrüssig, von der Mitwirkung zur Herstellung einer geordneten Finanzverwaltung wollten sie sich nicht länger ausschließen, vielleicht trug auch noch das in derselben Zeit entdeckte mazzinistische Komplott zu Mailand bei, ihnen über ihr Kokettieren mit der Linken das Gewissen zu schärfen — kurz, Ende April erfuhr man, dass die Verhandlungen mit dem Turiner Advokaten Ferraris, dem parlamentarischen Führer der Permanenten, zum Abschluss gediehen seien. Die Aussöhnung wurde besiegelt durch die Neubildung des Ministeriums vom 13. Mai, dessen Zusammensetzung die Union aller Parteien der Rechten darstellen sollte. Denn auch die dritte Partei sollte jetzt für ihre Unterstützung des Ministeriums Menabrea belohnt werden, und selbst für die seit dem Septembervertrag von 1868 verfehmten Männer der Consorterie schien die Zeit gekommen, wieder an den Geschäften Teil zu nehmen. Es war wirklich das sprechendste Symbol der wiedergefundenen Eintracht, wenn Ferraris, das Haupt der Permanenten, in Einem Kabinett saß mit Minghetti, der jenen Vertrag über die Verlegung der Hauptstadt abgeschlossen und damit den Ausbruch des Turiner Munizipalgeists veranlasst hatte; Menabrea behielt das Auswärtige, wie Cambray-Digny die Finanzen. Ferraris erhielt das Ministerium des Innern. Von der dritten Partei traten ein Bargoni und Mordini, jener für den Unterricht, dieser für den Handel. Minghetti übernahm das Ministerium des Ackerbaus und der öffentlichen Arbeiten. So schien die alte Mehrheit zunächst in den Führern wiederhergestellt und man durfte auch in der Kammer auf eine kompakte Regierungspartei gegenüber der eigentlichen Linken und damit auf eine rasche Förderung der gesetzgeberischen Arbeiten rechnen.


Diese Hoffnung wurde rasch zertrümmert. Die Zersetzung der Parteien war doch tiefer, als dass ein Kompromiss von Führern mit einem mal den schlimmen Nachwirkungen hätte Einhalt tun können. Zunächst zeigte es sich, dass nicht alle Piemontesen ihren Führer bei seiner Schwenkung begleiteten. Einige blieben unversöhnlich, wie es im Ganzen die Turiner Munizipalpresse blieb; Lanza stellte sich ironisch bei Seite und spottete, die scheinbare Versöhnung sei nur eine neue Zweideutigkeit. Aber auch auf der Rechten war die Freude über den Eintritt der Permanenten in das Ministerium gemischter Natur. Man begriff nicht, wodurch die bisher Grollenden solches verdient hätten. Die Persönlichkeit von Ferraris flößte wenig Vertrauen ein; zumal ein so wichtiges Ministerium wie das des Innern, sah man ungern in den Händen eines Mannes, dessen Ministerrede weder über die bisherige noch über die künftige Haltung der Piemontesen genügende Aufklärungen gab. War man einverstanden mit der Aussöhnung, so war man es nicht ebenso mit der Art und Weise, wie sie ins Werk gesetzt wurde, ohne ein klar definiertes Programm und durch die Zusammensetzung eines ungleichartigen Kabinetts. Die ausgeschiedenen Minister waren missvergnügt und besaßen ihren Anhang; die Consortorie ihrerseits war unzufrieden, dass Minghetti, dem sie als einem alten Mitarbeiter Cavours das Auswärtige zugedacht hatte, sich mit einem verhältnismäßig untergeordneten Portefeuille begnügen musste. Kurz, der offizielle Jubel verstummte bald. Eine kleinliche Personenfrage — dies war doch schließlich die praktische Pointe des großen Versöhnungsfestes gewesen. War es auch den neuen Ministern unzweifelhaft Ernst mit ihrer gemeinsamen Aufgabe, so fehlte es ihnen doch an der nötigen Autorität über die Kammer, in welcher in der Tat nichts verändert war. Cambray-Digny sollte darüber in Bälde belehrt werden.

Am 24. Mai legte er der Kammer seine vielgenannten drei Conventionen vor:
1) wegen der Übertragung des Schatzdienstes an die Nationalbank und die Bank von Toscana; 2) wegen Verschmelzung dieser beiden Banken; 3) den Vertrag mit der Staatsgütergesellschaft zur Übernahme des Kirchengütergeschäfts.
Die Stimmung der Kammer war sofort die feindseligste. Am 1. Juni wies das Privatkomitee nach eintägiger Sitzung die Vorschläge Cambray-Dignys zurück, es wurde ein Ausschuss gewählt, der fast nur Mitglieder der Opposition enthielt, und am 15. Juni beantragte auch der Ausschuss die Verwerfung der Konventionen. Zwei Tage darauf erfolgte die Vertagung. Positive Gegenvorschläge waren, wie immer, von der Opposition nicht gemacht worden. Offenbar war die schroffe Haltung wesentlich der Ausfluss einer allgemeinen Abneigung gegen die Bankinstitute, deren wachsende Bedeutung man fürchtete und deren Gewinn man missgönnte, aber ohne dass man Mittel und Wege wusste, wie der Staat bei seinen dringlichen Vorschussgeschäften billigere Bedingungen erhalten könne.

Es war nicht bloß die Verwerfung der ministeriellen Finanzpläne, welche die Vertagung der Kammer herbeiführte, sie wurde geradezu unaufschiebbar durch die inneren Vorgänge, welche den Saal der Fünfhundert in den letzten Wochen ausschließlich beschäftigt hatten. Die Beschuldigung gegen einige Abgeordnete der Rechten, dass sie in der Tabaksregieangelegenheit ihr Votum für den von der Regierung vorgelegten Vertrag verkauft und in unrechtmäßiger Weise sich an dem Geschäft beteiligt hätten, eine Beschuldigung, die zuerst in der radikalen Winkelpresse auftauchte, und hier mit gerichtlicher Verurteilung beantwortet, dann aber mit Berufung auf gestohlene Privatpapiere von Abgeordneten in die Kammer selbst gebracht wurde, das geheimnisvolle Attentat auf den Abgeordneten Major Lobbia, über das die gerichtliche Untersuchung erst noch die Wahrheit an den Tag bringen soll, die unüberlegte Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission und deren zweideutige Entscheidung, die abenteuerlichen Sensationserfindungen der Presse und die politischen Zweikämpfe,— alle diese peinlichen Vorgänge, die noch in frischer Erinnerung sind, legten klar vor Augen, wie weit es mit einer Landesvertretung gekommen war, die sich, einer autoritätsvollen Leitung entbehrend, lieber in Skandalgeschichten privater Natur vertiefte, als mit ernstem Willen an der Heilung der Schäden des Staatswesens beteiligte. Auf der einen Seite hatte sich ein Fanatismus der Verfolgungssucht und Verleumdung, auf der andern ein Mangel an moralischem Mut gezeigt, welche im Interesse der Kammer selbst und der schwer geschädigten parlamentarischen Einrichtungen die Schließung der traurigen Bühne verlangten. Auf diese Vertagung folgte am 20. August der Schluss der unerquicklichen fruchtlosen Session.

Und was nun? Noch ist über die Ergebnisse der zahlreichen, seither gehaltenen Ministerberatungen nichts Zuverlässiges in die Öffentlichkeit gelangt. Noch bleibt abzuwarten, mit welchen Entwürfen und Vorlagen die Regierung bei Eröffnung der neuen Session hervortreten wird. Darin stimmt Alles überein. dass das dringendste Bedürfnis ist, das Ansehen der Regierung und der Gesetze zu heben. Durch welche Mittel aber dies geschehen soll, darüber scheint in dem wenig homogenen Ministerium schwer eine Einigung zu erzielen. Inzwischen hat der Justizminister Pironti einige Verordnungen erlassen, welche zeigen, dass die Minister, durch den Strike der Kammer im Stich gelassen, ihrer Verantwortlichkeit gegenüber dem Lande wohl bewusst sind. Ein Rundschreiben an die Justizbehörden fordert zu strenger Handhabung des Gesetzes bei Pressevergehen auf und einige Mitglieder des Richterstandes in Mailand und Bergamo sind auf dem Verordnungswege auf andere Posten versetzt worden, weil sie sich bei der Instruierung von politischen Prozessen schwach und unzuverlässig gezeigt hatten. Damit ist die Hand an zwei der allerwundesten Flecke gelegt. Die Rechtspflege ist bei Verbrechen politischer Natur vielfach geradezu illusorisch geworden. Von Mordtaten, die auf politischen Motiven beruhen, bleiben die meisten unentdeckt, viele unbestraft; schon weil in der Regel Zeugenverhöre nicht herzustellen sind. Es hängt dies zusammen mit jenem Mangel an moralischem Mut, der vor Allem den gemäßigten Elementen der Gesellschaft anhaftet. Auch in Italien wird das Bürgertum erst durch Schaden belehrt werden, dass ein freisinniges Staatswesen die höchsten Anforderungen an den Bürgermut stellt, wenn es nicht den anarchischen Parteien anheimfallen soll. Im absoluten Staat sorgt die Behörde für den Bürger, im freien Staat muss er selbst für sich sorgen und sich seiner Haut wehren. So fehlt es auch noch ganz an einer energischen Gegenwirkung gegen die kleine Skandalpresse, die in der Tat in Italien einen äußersten Grad von Frechheit und Niedrigkeit erreicht hat und bei einem so leicht entzündlichen, dem albernsten Gerede zugänglichen Volk doppelt korrumpierend wirkt. Dass wenigstens die bestehenden Gesetze mit Strenge angewendet werden, ist das Mindeste, was im Interesse der Selbsterhaltung der Gesellschaft geschehen muss. Und nicht Wenige sind der allerdings bedenklichen Meinung, dass das Pressedikt vom Jahr 1848 unzureichend sei und durch ein neues Gesetz ersetzt werden müsse, das insbesondere den Begriff der Verantwortlichkeit — den Gesetzen in anderen konstitutionellen Ländern entsprechend — schärfer definierte und den Behörden in Fällen von systematischer Schmähung der Staatseinrichtungen einen weiteren Spielraum gewährte.

Wie die radikale Presse über diese ersten Symptome einer Ermannung des Ministeriums herfiel und im Besonderen über die „abtrünnigen Verräter“ — Pironti war einst nebst den Poërio an die bourbonischen Galeeren geschmiedet — lässt sich denken. Allein im Ministerium selbst kamen bei diesem Anlass innere Differenzen zu Tag und konnten nur mit Mühe beigelegt werden. Ebenso gingen die Meinungen über die Opportunität der Kammerauflösung auseinander, die von Ferrara als dem hierbei zunächst beteiligten Minister bis jetzt energisch bekämpft wurde, obwohl an ein gedeihliches Zusammenwirken mit der gegenwärtigen Kammer nicht mehr zu denken ist. Auch andere Vorschläge, die in dieser Krisis aufgetaucht sind, hatten unter der Unschlüssigkeit eines disparaten Ministeriums zu leiden. Cambray-Digny wollte einige Gesetze, die ihm dringlich schienen, aber noch nicht sämtliche Stadien durchgemacht hatten, provisorisch auf dem Verordnungswege promulgieren, mit dem Vorbehalt späterer Indemnität, so das Gesetz über die veränderte Steuererhebung, das von der Kammer, aber noch nicht vom Senat genehmigt ist, und das Verwaltungsgesetz, so weit es von der Kammer beraten wurde. Ein anderes Projekt, das erörtert wurde, ist dies: die Zahl der Abgeordneten, von denen in der Regel die Hälfte durch Abwesenheit glänzt, zu vermindern und dagegen das jetzt bestehende Wahlrecht erheblich auszudehnen, um damit die Masse des Volks mehr als bisher für das öffentliche Leben zu interessieren. Auch die Art und Weise, wie große Gesetzgebungsarbeiten vom Parlament behandelt werden, ist dringend einer Reform bedürftig. Die in ermüdender Weise fast ununterbrochen fortdauernden Sessionen sind darum so ergebnislos, weil die Grenzen der parlamentarischen Action ganz falsch gezogen sind. Es ist fast unvermeidlich, dass Gesetzesvorlagen scheitern, die aus 200 Paragraphen bestehend zur Detailberatung einer Kammer von 400 Mitgliedern überantwortet werden, welche zum großen Teil aus Advokaten zusammengesetzt ist, deren Streitlust und ungehemmter Redeschwall jeden Morgen aufs Neue beginnt.

Freilich ist vorauszusehen, dass alle diese oder andere Mittel, zu denen das Ministerium greisen mag, wenig nützen oder wenigstens keine gründliche und rasche Heilung herbeiführen werden. Jahrzehnte lang wird Italien noch an den Finanz- und Verwaltungskalamitäten dieser Übergangszeit laborieren, denn sie beruhen auf Ursachen, die, wie sie nicht plötzlich eingetreten sind, auch nicht plötzlich verschwinden können. Bis jetzt ist das konstitutionelle Regiment, das alle Entscheidungen von wechselnden Majoritäten abhängig macht und überdies unendlich verzögert, eher ein Hindernis als ein Mittel der inneren Konsolidierung gewesen. Nur die Zeit vermag dem Volk allmählich die politische Reife zu geben, die zu einer parlamentarischen Regierungsweise befähigt. Das Volk ist zum Herrn seiner Geschicke geworden, zu einer Zeit, da noch alle Grundbedingungen dafür fehlten, und die heutige Lage Italiens mit dem Bankerott seines Konstitutionalismus, den doch immer die Volksvertretung selbst verschuldet, wäre eine wahrhaft trostlose, wenn nicht neben dem politischen Italien, das so widerliche Szenen in den letzten Monaten aufwies, ein anderes Italien existierte, das, um das öffentliche Leben nur allzu unbekümmert, ruhig seinen Geschäften lebt, das arbeitet, und so in der Stille in kleinen Bruchteilen die Elemente jenes Nationalwohlstandes sammelt, der nicht durch Finanzgesetze hervorgerufen werden kann, sondern erst die Basis einer gesunden Finanzpolitik werden wird. Die Existenz des Nationalstaats selbst ist bei all diesen Kalamitäten gar nicht in Frage. Für sämtliche Parteien ist die Einheit selbstverständliche Voraussetzung, und Niemand denkt daran, dass sie durch die häufig wiederkehrenden inneren Krisen gefährdet werden könnte. Niemals sind in dem heftigen Krieg der Parteien Bestrebungen hervorgetreten, deren Ziel die Auflösung der Staatseinheit wäre. Es gibt keine Partei der Depossedierten. Wohl zeigt die Skandalpresse ein Temperament, das selbst uns Deutschen, die wir doch seit drei Jahren an Starkes gewöhnt sind, unerhört erscheint. Allein auch für die äußersten Parteien in Italien gibt es eine Grenze, wo ihnen das Bewusstsein der nationalen Ehre wiederkehrt. Es kommt ihnen zu statten, dass am Werk der Wiedergeburt ihre Häupter aktiv beteiligt sind und diese Erinnerungen würden wieder durchschlagen, sobald eine große Gefahr im Anzuge wäre; vollends aufs äußerste verächtlich erschiene es, im inneren Kampf der Parteien auf auswärtige Freundschaften oder Eventualitäten zu spekulieren. Das mögen wir uns in Erinnerung bringen, wenn wir versucht sein sollten, mit selbstgerechter Miene auf den traurigen Zustand des heutigen Italien zu blicken. Die Begriffe des Schicklichen sind nicht dieselben bei allen Völkern. Laxer sind die Sitten der Italiener in den Dingen der privaten Geschäftssphäre, das hat zu vielen anderen Beispielen auch die Untersuchung in der Tabaksangelegenheit gezeigt. Allein andererseits wären ohne Zweifel jene Geschäfte, welche die Bürger der alten Reichsstadt am Main betrieben, um sich um ihre bürgerliche Pflicht herumzuschleichen, überall sonst mit einem solchen Makel behaftet, dass sie unmöglich wären. Das Staatsgefühl ist bei den Italienern noch so wenig entwickelt als bei uns Deutschen, aber ihr Gefühl der nationalen Ehre ist unstreitig feiner und empfindlicher. Und nur in Einem können wir uns einer entschiedenen Überlegenheit rühmen: Deutschland besitzt eine starke Regierung, und wer je im Verdruss über die Langsamkeit oder die verkehrten Wege der Gesetzgebung vergessen würde, was dies in politischen Übergangszeiten für ein Land wert ist, der mag am Beispiel Italiens erkennen, was die Folgen des Gegenteils, d. h. eines parlamentarischen Apparats ohne die Autorität einer starken Staatsgewalt sind. W. L.