Die Zukunftschule - eine Utopie.

Fragen wir uns schließlich, ob wir hoffen dürfen, daß eine solche Zukunftsschule, wie ich Sie zu schildern versuchte, speziell bei uns in Breslau in nicht allzuferner Zeit gegründet werden wird? Ich glaube: nein! Hier findet man zu schwer Unterstützung für Neuerungen. Sie haben gehört, wie beispielsweise alle Vorschläge der schlesischen Gesellschaft, die ja auswärts überall Anklang fanden, die Vorschläge für die Beseitigung der dunkelsten Schullokalitäten, richtig gesetzt werden, für die Einführung körpergerechter Subsellien, an denen die Kinder sicht auf unfruchtbaren Boden gerade hier gefallen sind. Ich feiere eben jetzt das 25 jährige Jubiläum meiner Kämpfe mit der Breslauer Schuldeputation. Wie könnte ich mich der Hoffnung hingeben, daß hier zuerst eine Schule der Zukunft entstehen könnte, in einer Stadt, die mit solcher Energie selbst gegen freiwillige Schulärzte sich aufgelehnt hat!

Sind denn aber alle die vorgetragenen Ideen und Wünsche nur Chimäre? Spielen sie wirklich nur in Wolkenkukusheim?


O nein; einzelne Anfänge für die Schule der Zukunft sind bereits vorhanden. Schulärzte, die unseren Wünschen entsprechen, sind schon in Ungarn, Belgien und Frankreich installiert; die Baupläne neuer Schulen werden schon jetzt infolge einer sehr verständigen Anordnung der Breslauer Regierung vor dem Bau von dem Physikus hygienisch begutachtet; die neuen Schulen werden hell gebaut und erhalten normale Subsellien, und der Segen ist in diesen Fällen auch nicht ausgeblieben. So hat sich z. B. in Gießen, seit das alte schlecht gebaute Gymnasium in ein neues, hygienisch gutes verwandelt worden, die Zahl der Kurzsichtigen um 10% verringert. In der Schweiz entfernt man die Schiefertafeln aus der Schule; überglaste Höfe zum Spielen in den Freiviertelstunden sind bereits in Wiener und Pariser Schulen zu finden; Überkleider und Überschuhe werden in einigen Berliner Töchterschulen in den Korridoren und nicht in den Zimmern untergebracht; Messungen und Wägungen der Kinder, sorgsame Untersuchungen ihrer Organe, der Augen, Ohren, Nase, Zähne sind in Schweden und Dänemark auf Veranlassung von Prof. Axel Rey und Dr. Härtel in großem Maßstabe bereits ausgeführt worden; die Hefte werden in Nürnberg gerade vor den Schüler hingelegt; die Steilschrift wird in einigen Wiener Schulen angewendet; der Lehrplan wird in Frankreich, Belgien und Ungarn von Schulärzten mitberaten; ja in Karlsruhe wird jetzt eine Einheitsschule eröffnet. In dem Studienplan der Lehramtskandidaten auf der Universität zu Bern, sowie auch im Prüfungsreglement sind Pädagogik, Anatomie, Physiologie, allgemeine Hygiene und spezielle Unterrichts- und Schulhygiene als obligatorisch bezeichnet.

Wir haben in Preußen einen Unterrichtsminister, der, wenn er auch kein Freund der Einheitsschule ist, doch die Hygiene der neuen Schullokale und die Hygiene der Kinder, sowie die Jugendspiele aus vollem Herzen und mit größtem Verständnis fördert.

Und eine neue Morgenröte bricht für unsere Bestrebungen heran durch den wundervollen, am 13. Februar veröffentlichten Erlass unseres Kaisers über die Umgestaltung des Unterrichts in den Kadettenkorps.

Sehr verehrte Anwesende! Der vorliegende Vortrag lag seit drei Wochen vollendet und war bereits im engeren Kreise vorgelesen worden. Sie können sich denken, mit welchem Jubel ich die inzwischen erschienene Kabinetsordre Sr. Majestät gelesen habe; enthält sie doch die Erfüllung vieler unserer fundamentalen Forderungen, und was uns als Ideal in weiter Ferne zu liegen schien, wird schon in kurzem durch den kaiserlichen Erlass an die Militärbildungsanstalten greifbare Gestalt gewinnen.

Ich erwähne nur folgende wirklich goldene Sätze des Erlasses: ,,Zweck und Ziel aller Erziehung ist die auf gleichmäßigem Zusammenwirken der körperlichen, wissenschaftlichen und sittlichen Schulung beruhende Bildung des Charakters; keine Seite der Erziehung darf auf Kosten der anderen bevorzugt werden. Die Lehraufgabe muss durch Ausscheidung jeder entbehrlichen Einzelheit, insbesondere durch gründliche Sichtung des Memorierstoffs vereinfacht werden. . . . Im Religionsunterrichte ist die ethische Seite desselben hervorzuheben, und die Zöglinge sind zur Duldsamkeit gegen Andere zu erziehen. . . . Der Geschichtsunterricht muss mehr als bisher das Verständnis für die Gegenwart vorbereiten, und die deutsche Geschichte ist stärker als bisher zu betonen. . . . Das Deutsche wird Mittelpunkt des gesamten Unterrichts. Der Schüler ist in jedem Lehrgegenstande zum freien Gebrauch der Muttersprache anzuleiten. . . . Im Unterrichten der neueren Fremdsprachen ist von den ersten Stufen an die Anregung und Anleitung der Kadetten zum praktischen Gebrauche der Sprache im Auge zu behalten. -

Wie dankbar müssen wir Kaiser Friedrich sein, daß er seine Söhne auf ein Gymnasium nach Kassel gesendet hat! Der jetzige Erlass zeigt uns, daß Kaiser Wilhelm II. dort als Schüler selbst beobachtet hat, wie wenig die heutige Gymnasialbildung einer wirklichen allgemeinen modernen Bildung entspricht.

Dieser Erlass des Kaisers ist eine Tat von ungeheurer Tragweite für die kommenden Generationen. Wie beneidenswert sind in Zukunft die Kadettenanstalten!

Freilich hat der Kaiser als oberster Kriegsherr nur die Macht, bei den Militärbildungsanstalten so ausgezeichnete Reformen durch eine einzige Kabinetsordre einzuführen. Bei den bürgerlichen Gymnasien können so wichtige Veränderungen nicht ohne Zuziehung von Gymnasialmännern vorgenommen werden, und wenn auch sicher die trefflichen Absichten des Kaisers nicht ohne Einfluss auf die übrigen Bildungsanstalten sein werden, so ist bei dem energischen Widerstände, den die Philologen allen Bestrebungen, die Gymnasien zu reformieren, entgegensetzen, wohl noch eine lange Zeit des Kampfes zu erwarten. -

Was könnte man tun, um auch in Zivilschulen unsere Vorschläge bald durchzuführen?

Wie wäre es, wenn wir es machten, wie Richard Wagner? Er bat die Freunde seiner Musik, zu einem Patronatsvereine zusammenzutreten und ihm die Mittel zu geben, um ein Opernhaus, das Kunstwerk der Zukunft, wie er es sich dachte, in Bayreuth zu bauen, eine Musterbühne, die den Prüfstein liefern sollte dafür, ob seine Ideen richtig wären.

Und die Freunde Wagners traten zusammen und ermöglichten ihm die Ausführung seiner Wünsche. Als der Patronatsverein gegründet wurde, da war ,,Zukunftsmusik! Zukunftsmusik! das Hohngeschrei seiner Feinde. Wie still sind sie geworden! Nicht allein, daß die Wagnerschen Opern heute die beliebtesten, besuchtesten und bewundertsten sind, nicht allein, daß die jüngeren Komponisten und selbst der älteste der berühmte lebenden Tondichter, Verdi, in seinen alten Tagen sich zu den Regeln Wagners bekannt und eine neue Oper vollkommen in Wagners Stile geschrieben hat, - nein, es entstand ein Strömen nach dem Kunsttempel in Bayreuth, das von Jahr zu Jahr immer riesigere Dimensionen annimmt, so daß das weite Haus oft kaum die Zahl der Gäste aufzunehmen vermag.

Gewiss ist nicht alles vollendet und schön in den Wagnerschen Werken; mancherlei Breiten in der Komposition und mancherlei Unschönheiten in der Sprache muss auch der begeistertste Freund Wagners eingestehen. Was wäre vollkommen auf dieser Welt?

Aber im großen ganzen muss man sagen, daß bei dem Zusammenwirken der ersten Künstler und Musiker in einem Festspielhause, in welchem alle Künste zu einem Kunstwerk sich vereinigen, in welchem Baukunst, Malerei, Tanzkunst, Dichtkunst und Tonkunst miteinander wetteifern, eine unendliche Harmonie den Besucher bestrickt und ihn, wenn er einmal in Bayreuth gewesen, immer von neuem wie eine Sirene wieder hinlockt in das dort zur Wirklichkeit gewordene Kunstwerk der Zukunft.

Auch das höhnende Geschrei ,,Zukunftsschule! Zukunftsschule!“ würde verstummen, wenn es den Freunden der Schulreform gelänge, nur eine einzige solche Musterschule ins Leben zu rufen: ein Schulgebäude, welches allen Anforderungen der Schulhygiene entspricht, die sorgsamste Befolgung aller die Hygiene der lernenden Kinder betreffenden Regeln, die tüchtigsten Pädagogen moderner Richtung und die erfahrensten Hygieniker als Leiter der Schule, deren Lehrplan und Lehrmethode eine vollkommen harmonische Bildung für das moderne Leben sichert.

Wenn dies gelänge, würde der Kaiser gewiss auch seine Protektion gewähren, und von fern und nah würden die gebildeten Eltern herbeiströmen und ihre Kinder einer solchen Musteranstalt anvertrauen.

Vielleicht finden sich in Berlin oder in einer anderen großen Stadt eine Anzahl vermögender Männer, welche die nötigen Mittel für die Ausführung der Idee geben und mit dem Wahlspruch „Für unsere Kinder ist nur das beste gerade gut genug“ ein Kunstwerk schüfen mit der Inschrift.

„Die Schule der Zukunft.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Schule der Zukunft.