Der Lernstoff der Zukunft am Beispiel der Sprachen.

In der Zukunft wird auch der Lernstoff ein anderer sein als jetzt. Wir wollen nur einen Lernstoff hier besprechen, die Sprachen.

Die Muttersprache wird in ganz anderer Weise gepflegt werden als jetzt; jeder Schüler wird sie völlig beherrschen lernen. Wer viel auf internationalen Kongressen gewesen ist, wird wissen, wie uns gerade in der freien Rede die anderen Völker, besonders die Franzosen überlegen sind. Diese erscheinen in der Diskussion Alle als geborene Redner, während ausgezeichnete deutsche Gelehrte, welche die besten Werke geschrieben, bei der Debatte oft in entsetzlichster Weise meckern und ganz schlechte Sätze bilden. Das kommt daher, daß in der jetzigen Schule nicht genug Wert auf den freien Vortrag gelegt wird. Es ist dies auch gar nicht anders möglich bei uns, weil die Hauptzeit auf die toten Sprachen verwendet und besonders in den oberen Klassen der Unterricht im Deutschen auf wenige Stunden reduziert wird. In Frankreich dagegen wird selbst in der Prima noch 8-10 Stunden wöchentlich ,,Französisch“ gelehrt. Da müssen sich die Schüler im freien Vortrage üben, sie verlieren die Angst, öffentlich zu sprechen, während bei uns die Mehrzahl der ganz Gebildeten erklärt, sie bekämen immer heftiges Herzklopfen, wenn sie öffentlich einige Worte sprechen müssten. In der Schule der Zukunft wird viel mehr mündliches Wiedererzählen geübt und so den Schülern in jungen Jahren die Furcht vor dem Katheder ausgetrieben werden, und das ist nötig in einer Zeit, wo Jedermann im öffentlichen Leben, in Vereinen, vor Gericht etc. in die Lage kommt, einige Sätze zusammenhängend zu sprechen, welche seine Gedanken kurz und klar wiedergeben.


Mommsen sagt sehr richtig. „Dass der Mensch spricht, macht ihn zum Menschen, dass er zwei Sprachen sprich, macht ihn zum gebildeten Menschen.“ Fremde Sprachen werden also auch in der Zukunftsschule gelehrt werden; aber der Unterricht wird ein ganz anderer sein als heute. Es fällt doch Niemandem heute ein, meint Prof. Loewenthal, den Zeichenunterricht mit Auswendiglernen der Gesetze über die Perspektive zu beginnen oder den Musikunterricht anzufangen mit dem Auswendiglernen der Regeln des Kontrapunktes; sondern der Schüler fängt gleich an, etwas zu zeichnen, oder etwas zu sprechen; die Gesetze lernt er später, wenn er schon zeichnen und musizieren kann. Bei den Sprachen aber macht man es umgekehrt; man beginnt mit dem Schwersten, mit dem Ausbau der Sprache, mit der Grammatik, bevor die Kinder die Sprache selbst gelernt haben.

In der Zukunftsschule werden die Sprachen gelernt werden, indem man sie zunächst sprechen lernt; dann später werden die schweren grammatischen Regeln abstrahiert werden, da man ja nur ,,vom Greifbaren zum Begriff, vom Bekannten zum unbekannten, von der Kenntnis der Vorgänge zu ihrem Verständnis gelangen kann. In der Zukunftsschule wird der Sprachunterricht auch nur von solchen Lehrern erteilt werden, die die Sprache selbst wie ihre Muttersprache beherrschen. Heute dagegen wird in vielen Gymnasien von Männern, die niemals in Frankreich waren, Französisch gelehrt, freilich ein Französisch, über dessen Aussprache jede Bonne lächelt.
Dass die alten Sprachen in Zukunft einen viel geringeren Zeitaufwand beanspruchen werden als jetzt, steht ganz fest. Im Mittelalter waren Latein und Griechisch ganz am Platze; heute sind die Details derselben recht überflüssig geworden. Man hat berechnet, daß der Gymnasial - Abiturient 4.066 Stunden ohne Hausarbeit nur in der Schule für Latein und Griechisch, der Mediziner dagegen, selbst wenn er 5 Semester lang täglich 4 Stunden die Kliniken besucht, zur Vorbereitung für die verantwortungsvolle Praxis nur 2.160 Stunden verwendet. Und was hat jener Abiturient von seinen 4066 Stunden erreicht? Er kann schlecht Latein, das er mit wahrer Wonne zu vergessen sich bestrebt, und er kann wenig Griechisch, das er gar bald von selbst vergisst.

Die Grammatokraten, wie sie Prof. Esmarch so schön nennt, behaupten freilich, die grammatischen Übungen seien eine geistige Gymnastik, welche nur die alten Sprachen gewähren. Ich glaube aber nicht, daß Jemand beweisen kann, die geistige Gymnastik sei größer, wenn der Sextaner „amo, amas, amat“ sich einlernt, als wenn er j’aime, tu aimes, il aime“ oder I love, thou lovest, he loves“ lernt. Virchow sagte mit Recht. ,,Dass die alten Sprachen etwa einen idealen Zweck hätten, ist doch nur eine Einbildung verstockter Philologen.“ Diese natürlich müssen den wie eine ewige Krankheit fortgepflanzten Satz. „Die alten Sprachen schärfen den Geist mehr als die neuen“ immer weiter starr verteidigen; denn sie leben ja von der Lehre der alten Sprachen. Der grammatische Unterricht ist aber überhaupt in gar keiner Sprache eine geistige Grammatik, wie in der Schrift von Prof. Loewenthal glänzend nachgewiesen wird; denn Auswendiglernen grammatischer Regeln ist keine Denkarbeit, sondern nur Einpauken von Worten ohne Sinn, welches durchaus keinem bei dem Kinde vorhandenen Bedürfnis entspricht.

Fern sei es von mir, die Schönheiten der lateinischen und griechischen Klassiker leugnen zu wollen; aber wer wollte nicht zugestehen, daß auch im Sanskrit und in hebräischen Büchern sehr viele Schönheiten enthalten seien? und doch begnügen wir uns mit guten Übersetzungen. So ist es auch mit den alten Klassikern; nur wer die Sprache völlig beherrsche kann ihre Schönheiten würdigen, und so weit kommen eben die Gymnasiasten nicht. Gutzkow hat ganz Recht mit seinem Satze. ,,Man wird den Schatz des Altertums erst heben, wenn man auf den Schulen die alten Klassiker in guten Übersetzungen liest und das Studium des Urtextes den Gelehrten überlässt.“

Aber mit den grammatisch philologischen Quälereien der tobten Sprachen und namentlich mit dem ganz überflüssigen Rückübersetzen aus dem Deutschen ins Lateinische oder Griechische wird jetzt die Hauptzeit vergeudet, die in der Zukunftsschule meist wichtigeren Gebieten überlassen werden wird, den lebenden Sprachen, Französisch und Englisch, die der Staatsbürger des 19. und 20. Jahrhunderts notwendig für das Leben braucht, ferner der Mathematik, Geschichte, Kulturgeschichte, Geographie, Physik, Chemie, die für die Schulung des Geistes ungleich wichtiger sind als alle tobten Sprachen zusammen. Auch dem Zeichnen, dem Turnen und dem Handfertigkeitsunterricht wird mehr Platz vergönnt werden als bisher. Denn bei einer harmonischen Ausbildung muss auch die Hand mehr Berücksichtigung erfahren.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Schule der Zukunft.