Die Gassendirnen

Wir kommen nun zu den letzten, aber in der Tat schuldlosesten Klassen der Prostitution. Sie verdienen unser Mitleid fast nicht in minderem Grade, wie die durch gewissenlose Eltern hingeopferten schuldlosen Kinder, welche erst im Laster unterrichtet werden müssen; denn nicht nur ist Armut die Kupplerin, welche sie ihrem Gewerbe zuführt, sondern dieses Gewerbe und sein Ertrag sind auch so elend, dass nur der Wahnsinn und der verstockte Fanatismus eines Handwerkspfaffen oder die Richterstrenge eines im Wohlleben schwelgenden Gesetzmannes dazu gehören, um es für möglich zu halten, dass bloß Leichtsinn, Irreligiosität, Sittenlosigkeit und Faulheit das Weib einem Erwerbe zuführen, der eben so schmachvoll als elend ist. Das französische Karikaturblatt Charivari hat vor Kurzem eine solche Richterweisheit gut bezeichnende Persiflage gebracht. Ein Dieb steht vor dem Richter, dessen gemästeter Bauch, dessen gähnende, das Vergnügen der Verdauung aussprechende Physiognomie anzeigen, dass er die Not nur aus Büchern kennt. Er fragt den Angeklagten: ,,Warum hast du gestohlen?“ ,,Herr, mich hungerte,“ sagt der Dieb, dessen abgezehrte Gestalt die Wahrheit seiner Aussage bestätigt. ,,Das ist kein Grund,“ antwortet der weise Richter gähnend, „mich hungert täglich drei Mal und ich stehle doch nicht.“ Gerade so urteilen unsere Moralisten und eine große Klasse von Predigern, welche dem Volke alle Tugenden der Entsagung auferlegen, um selbst in großer Behaglichkeit und im Überflusse zu leben. Kein Mensch bekümmert sich in der Regel um die Nahrungslosigkeit des weiblichen Geschlechts. Man kann sie beurteilen, wenn man bedenkt, wie groß das Elend unter den Männern ist, welchen alle erdenklichen Erwerbsarbeiten und Erwerbsgelegenheiten offen stehen. Wir werden später sehen, wie wenige dagegen den Weibern!

Es wäre ungerecht, unter die verschiedenen Klassen der Gassendirnen das ihnen gebührende Mitleid, die ihnen gebührende Teilnahme und Sorgfalt ungleichmäßig zu verteilen. Wenn auch die eine vor der anderen etwas voraus hat an gerechten Ansprüchen, so bleibt doch die Wagschale ihrer beiderseitigen Würdigkeit und Unwürdigkeit ziemlich gleich. Die Unterschiede sind hier nicht groß; ein wenig mehr Armut und Leichtsinn, darauf kommt es nicht an, sobald die Tatsache entschieden ist, dass Armut das Hauptmotiv der Ausartung ist.


Unter Gassendirnen verstehen wir die Unglücklichen, welche sich an öffentlichen Orten herumtreiben, um Kunden zu finden aus allen Ständen, Jung und Alt, widerwärtig und angenehm, Reich und Arm — welche auf jede Auswahl Verzicht leisten müssen und keine Gefahr vermeiden können. Der Kavalier, der reiche Bürger, der Soldat, der Handwerker, der Gauner, der Greis und der Jüngling, der Kranke und Gesunde,, der Hässliche und Schöne — Alle müssen ihnen gleich angenehm sein, sobald sie den üblichen Taglohn bezahlen können, denn oft ist der Arme großmütiger als der Reiche, oft der Greis angenehmer als der Jüngling. Heute mit Gold belohnt, muss man morgen mit Silber sich begnügen; man ist der Willkür preisgegeben, denn Alles in der Welt hat einen bestimmten Wert, nur nicht der Leib und die Seele eines Menschen.

Wenn man diese Unglücklichen auf den Straßen begegnet und beobachtet, wie sie erzwungen lächeln, um anzulocken, wie sie ihre Blößen zur Schau tragen, wie sie die Straßen auf und nieder rennen bis zur äußersten Erschöpfung, zu allen Jahreszeiten bei sengender Hitze und grimmigen Frost, in Schnee und Regen, wie sie bei Jeden ihnen begegnenden Blick Hoffnung schöpfen, umkehren, ängstlich sich umsehen, ob man ihnen folge, wenn man immer wieder denselben Physiognomien begegnet, jugendlichen und verwelkten, wenn man bemerkt, wie die letzteren ihre Mängel eben so ängstlich verbergen, wie die ersteren ihre Vorzüge bemerkbar zu machen suchen, wie sie heute in Seide gehen und morgen im Kostüme der Dienstmägde, heute frisch und rot sind und morgen bleich und leidend, wenn man nicht übersteht, wie durch den Glanz ihres Flitterstaats eine gründliche Armut hervorblickt, und dann noch glauben kann, daß man sich aus Leichtsinn in solches Elend begibt, daß Liederlichkeit und Sinnlichkeit einen großen Anteil haben an diesem entseuchen Gewerbe, so muss man in der Tat entweder ein schlechtes Herz oder einen verwirrten Kopf haben; und doch, was man auf der Straße sieht, ist bei Weitem nicht das Schlimmste. In ihre Wohnungen, in ihren Haushalt muss man dringen, ihrem Leben muss man nachspüren von der Wiege bis zum Grabe, durch alle Wechselfälle ihres schrecklichen Schicksals muss man sie begleiten, um alle Entsetzen ihrer Lage zu ermessen, um die ganze Verruchtheit eines Zeitalters zu begreifen, welches gleichgültig, geringschätzig lächelnd und sittlich heuchelnd seine eigenen Töchter gewaltsam und unbarmherzig in die Kloaken des Elends und der Schmach stürzen sieht. Ihr sagt, diese Unglücklichen folgen ihren bösen Lüsten — so wisst ihr denn nicht, daß sie schaudern vor Abscheu, indem sie euch liebkosen, daß sie nach einer Stunde erzwungener Fröhlichkeit eine Nacht in Tränen zubringen und, daß, wenn sie sich derselben entwöhnen, dies nur geschieht, um nicht Reize zu zerstören, ohne deren Wirkung auf eure Nerven ihr sie verhungern lasset? Ihr sagt, Liederlichkeit und Faulheit bewegen sie zu ihrem Lebenswandel — so wisset ihr denn nicht, daß diese Armen, nachdem sie den Tag über sich zu Tode hetzen, um einen Mann zu finden, der steh ihrer erbarmt um seinen Kitzel zu stillen, die Nacht arbeiten, um ihre Kleider und Wäsche zu besorgen. So wisst ihr nicht, daß die Meisten unter ihnen sparsam und wirtschaftlich sind, daß sie sich nicht getrauen ihren Hunger zu stillen, um die Kleidungspracht zu erschwingen, ohne welche sie euch nicht gefallen würden, daß sie mit Pfennigen geizen, um für Krankheitsfälle geborgen zu sein? Der Tod lauert an allen Ecken auf sie; zu dem Kampfe mit ihm brauchen sie einen Notpfennig, den sie mir durch die schmerzlichsten Entbehrungen erschwingen können. Sind auch Verschwenderinnen unter ihnen — wer hat sie denn haushalten und wirtschaften gelehrt, dass ihr diesen Fehler ihnen zum Vorwurf machen könnt? Meist in den Höhlen des Jammers aufgewachsen, wissen sie nur, dass Armut der Tod ist, aber sie kennen nicht den weisen Gebrauch des Geldes und lernen ihn nur von Wüstlingen.

Ihre halbe Lebenszeit bringen sie in Spitälern und Gebärhäusern, in Polizeigefängnissen und an Orten zu, welche schlimmer sind, als alle diese Behausungen des menschlichen Elends. Ihr gewöhnlicher Umgang, ihre einzige Gesellschaft ist der Abhub der niedrigsten und demoralisiertesten Volksklasse. Diejenigen, welche sich vor tieferem Fall hüten, bringen ihre Zeit in einer trostlosen Verlassenheit hin, die Übrigen haben den Diebstahl, den Betrug, zu lebenslänglichen Gefährten. Dem ungeachtet ist die Redlichkeit der Mehrzahl fast beispiellos zu nennen. Sie verlangen nichts als ihren Lohn — sie sind ehrlicher als manche Wiener des Staates, welche in großen Ehren leben.

Es gibt in der ganzen österreichischen Monarchie keine Prostitutionshäuser, keine Bordelle. Es ist schwer zu entscheiden, ob diese ein Nachteil für die Sittlichkeit der Population ist, gewiß aber ist es kein Vorteil. Dem ungeachtet sieht sich die Polizei genötigt, die Prostituierten zu dulden und ihrem Erwerb kein wesentliches Hindernis in den Weg zu stellen; denn offenbar würde ein größerer Zwang die Familien völlig demoralisieren.

Man unterscheidet unter den Wiener Gassendirnen, deren Gewohnheiten den Maßstab geben für die Beurteilung der Zustände aller Prostituierten in der Monarchie, solche, welche ihren eigenen Herd haben, meist schon ältere Personen, welche Ersparnisse gemacht haben, solche, welche den Männern in ihre Wohnungen oder an abgelegene Orte folgen, endlich solche, welche Unterstandorte haben. Die zweite dieser Klassen ist gewöhnlich der Anfang des Handwerks, welches die Dirnen selbst das Geschäft nennen. Gewöhnlich sind es die Männer selbst, welche in ihren Wohnungen geniert sind, die sie den Unterstandorten zuführen, wo sie ihren Erwerb mit den Vermietern eilen müssen. Unter diesen Unterstandorten nehmen die Gasthäuser den ersten Platz ein. Es gibt viele ehrsame Bürger in Wien, welche ihren Reichtum, Häuser und Equipagen nur dieser Industrie zu danken haben. Die Polizei kennt viele dieser Unterstandorte, hütet sich aber, sie unzugänglich zu machen und sie hat darin nicht Unrecht. Ohne dieselben würde die Prostitution immer mehr im Schoße der Familien sich einbürgern. In früheren Zeiten hat es in Wien Gasthäuser in den Vorstädten gegeben, welche sich Dirnen für ihre Gäste hielten, aber jetzt existieren nur in den entlegensten Winkeln einige wenige solcher Orte. Gewöhnlich sind es arme Handwerkerfamilien, Schneider, Tagelöhner, welche eine Stube für die Unzucht gegen Entgelt vermieten, oft ohne selbst weiteren Anteil an dem Gewerbe zu nehmen. Kinder beiderlei Geschlechts sind oft Zeugen dieser Zusammenkünfte, welche sie bald begreifen und nachahmen lernen. Aber es gibt auch sehr viele spekulative Hausherrn, welche ganze Häuser für die Unterkunft der Prostitution meublieren, weil sie auf diese Weise ihre Grundstücke auf hohe Zinsen bringen. Einige Quartiere der Stadt verlegen sich ausschließlich auf diese Industrie, wie die in der Nähe der Bastionen gelegene Gassen. Besonders werden neugebaute Häuser dazu verwendet, welche auf den Wiederverkauf gebaut worden sind, und hierdurch große Zinsausweise zur Täuschung der Käufer erzweckt. Eine große Anzahl von Familien lebt bloß vom Vermieten einzelner Stuben, und unter diesen gibt es viele sonst anständige, welche Prostituierte ausnehmen und ihnen, ohne einen Augenblick daran zu denken, dass sie an der Schande ihrer Mietsleute Teil nehmen, ihren Erwerb ermöglichen. Wollte man alle diese Unterkünfte unmöglich machen, so würde man die merkwürdige Entdeckung machen, ein wie großer Teil der Bevölkerung von der Prostitution auf die eine oder andere Weise lebt — man würde den halben Gewerbstand ruinieren und der Moralität nicht im Mindesten nützen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Schicksale der Frauen und die Prostitution