Die Schaffenden, das Volk und die Bewegung
Aus: Die jüdische Bewegung. Erste Folge 1900-1914
Autor: Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosoph und Bibelübersetzer, Erscheinungsjahr: 1902
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit
Die Schaffenden sind nicht „die Intellektuellen". Die reinen Intellektuellen haben zu viel Logik und zu wenig Geheimnis. Sie stehen auf der Wahrheit, nicht auf der Wirklichkeit. Das wissen sie nicht, dass Wahrheit nur Bearbeitung, aber nicht Sinn des Lebens ist. Ihr Weg ist eine gerade Linie. „La vérité est en marche . . ." Sie schlagen sich nicht wund an der Vieldeutigkeit, sie stehen nicht schwindelnd am Abgrunde des Nein, sie vergehen nicht an dem Widerspruch, sie kämpfen nicht mit dem Elohim, bis er sie segnet, sie erfahren nicht die große Erneuerung der Seele, Die Intellektuellen treten für Ideen ein und wirken im Dienste der Zivilisation. Die Schaffenden erleben das Einmalige und — schaffen das Einmalige.
Die Schaffenden sind auch nicht die „Künstler". Die reinen Künstler sind unvergleichlich mehr auf das Machen aus als auf das Werden. Die vollkommene Technik eines Gebildes ist unstreitig eine beglückend schöne Sache, aber unserer Zeit ist der Sinn für das verloren gegangen, was darüber hinausgeht und nicht mehr Glück, sondern Erlösung bringt: die Berufung und das Schicksal des Berufenen. Auch kommt hier ein weiterer Kreis des Materials in Betracht; denn es gibt Schaffende, die ihr Werk aus Menschenseelen, aus Völkern und Kulturen bilden, manche aus dem eigenen Wesen, andere aus ganz losgelösten Werten und Offenbarungen. Der Künstler ist auf Medien der Mitteilung beschränkt, der Schaffende kann auch Dinge zeugen, die ganz innerlich und jenseits aller Sprache sind und die dennoch andere Menschen zu bewegen vermögen.
Die Schaffenden sind zugleich die Intellektuellen und die Künstler. Wenn sie mit den Ganglien verglichen werden können, in denen sich der durch Anreize ausgelöste Nervenstrom verdichtet und verarbeitet, so wird ja durch diesen zentralen Vorgang zweierlei Reaktion bewirkt: Vorstellung und Willensregung. Die Schaffenden sind die Starken und Vielfältigen, in denen das menschheitliche Geschehen zusammenströmen muss, um zu neuen Entwicklungen in Geist und Tat zu gelangen.
* * * * * *
Ein Volk wird zusammengehalten durch primäre Elemente: das Blut, das Schicksal — soweit es auf der Entwicklung des Blutes beruht — und die kultur-schöpferische Kraft — soweit sie durch die aus dem Blute entstandene Eigenart bedingt wird.
Ein Volk wird nicht zusammengehalten durch sekundäre Elemente: Nutzzweck und Glauben (wie wirtschaftliche oder religiöse Gruppen).
Dieses muss immer wieder betont werden: ein Volk ist eine Menschengemeinschaft, deren Daseinsgrund jenseits alles Nutzens und vor allem Nutzen liegt. Die erste Erlösung aber, die dem Einzelnen zuteil wird, ist die Erlösung vom Nutzzweck. So wird der erlöst, der zum Volke kommt. Er kommt vom Nutzgetriebe zu den ursprünglichen waltenden Kräften, vom Äußeren des Lebens in sein Inneres, von der Erhaltung im Augenblick zur Erhaltung im Wechsel der Generationen. Er steigt zu den Müttern hinab. Er wohnt bei einem dunklen und gewaltigen Bildner.
Und dieses andere: jenseits alles Glaubens und vor allem Glauben. Der Glaube hat die Macht verloren, Seelen in den Arm zu nehmen und an das Herz der Welt zu legen. Heute lügt er dem Leben und tut deinen wogenden Sinnen Gewalt an. Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neuen Wege kann da das Volk eine erste Station werden. Diese wunderbare Reihe von Zeugungen und Geburten, in denen die Art sich entfaltet, diese breite vielverschlungene Verwandtschaft kann für ihn der erste feste Boden werden. Er steht noch in einem engen Bezirke; aber schon sieht er, dass der Weg vom Etwasglauben zum Etwassein führt.
* * * * *
Man sollte die guten, reichen und einfachen Worte nicht verschwenden. So auch das Wort „Bewegung" nicht. Man sollte nur da von Bewegung sprechen, wo eine Aufwärtsbewegung von Keimen sich kundgibt. Kräfte werden gehemmt, Kräfte wollen frei werden, wollen fruchtbar werden: so bewegen sie sich, so bewegen sie die Welt. Die Bewegung eines Volkes ist das Fruchtbarwerden eines Volkes. Denn auch wenn sie erliegt, ist ihre Tragik von einer einmaligen großen Fruchtbarkeit durchleuchtet.
Im Alltagsleben eines Volkes wirken seine Gemeinsamkeiten — Blut, Schicksal, kulturschöpferische Kraft — sozusagen rein physiologisch: sie bleiben unter der Schwelle des Bewusstseins. Erst in der Bewegung werden sie bewusst, weil die Bewegung eine Einheit braucht und diese eben durch die Bewusstwerdung des Gemeinsamen, durch das Werden und Wachsen des Volksbewusstseins zustande kommt.
Durch das Volkstum wird der Einzelne allezeit bereichert und gefestigt; durch die „Bewegung“ seines Volkes nur dann, wenn sie es wirklich ist, das heißt, wenn er an der Aufwärtsbewegung von tausend und tausend verwandten Keimseelen und an der allgemeinen Produktivierung seines Blutes und seiner Art teilnehmen darf.
* * * * *
Die zwei Grundmächte des schöpferischen Lebens sind die Wurzelhaftigkeit und die gebundene Tragik.
Freilich wird der Schaffende stets nicht vom Gestern, sondern vom Morgen die Losung und nicht von dem seit jeher thronenden, sondern von dem werdenden Gotte das Gesetz empfangen. Und die gewesenen Dinge werden Ton in seinen Händen sein. Aber seine Werke sind nur wie Kristalle und nicht wie Früchte, wenn nicht über aller seiner Willkür doch die Macht des vegetativen Wesens steht. So fasst er Wurzel in den Gründen seines eigenen Gewordenseins und kann sich nicht bloß in die freie, wechselvolle Luft, sondern auch in das dunkle und unwandelbar überdauernde Erdreich hinein wachsend ausbreiten.
Heute führt Satan den Schaffenden nicht auf einen hohen Berg, ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zu zeigen. Sondern aus der Unendlichkeit heraus versucht er ihn und lockt ihn, sich an das Wesenlose zu verlieren und in die weite Wirrnis zu schweifen, in der alles menschlich Klare und Begrenzte aufgehört hat. Des Schaffenden Reich ist aber da, wo Gestalt und Gestaltung gedeiht. Darin zu bleiben ist ihm die Wurzelhaftigkeit ein mächtiger Helfer.
Am seligsten wird sie dem zuteil, der auf eigener Erde sitzt. Auf der Erde, aus deren Elementen, aus deren Dürre oder Feuchtigkeit, aus deren Frieren oder Glühen, aus deren grauem oder leuchtendem Himmel, aus deren ebener oder gebirgiger Formung, aus deren armem oder üppigem Pflanzentum, aus deren starrer oder zarter Landschaft das Blut und das Leben seiner Ahnen und darin die Anfänge seiner Art entstanden sind. Dem Verbannten aber kann das Gefühl des organischen Zusammenhangs mit vergangenem, gegenwärtigem und kommendem Volkstum eine Heimatlichkeit schaffen, die wohl wie die Sehnsucht unzulänglich, aber auch feuerbeseelt wie sie ist.
Die andere Grundmacht habe ich gebundene Tragik genannt. Diese, das heißt die erlösende Bejahung eines Widerstreites, ist das Wesen alles Schaffens. In dem Schaffenden wird eine tiefe Verzweiflung und Zerrissenheit zur Harmonie. Er ist nicht einer, der an Abgründen vorübergeht, sondern er hat alles gesehen und alles aufgenommen und wagt es, diese niederträchtige Welt zu wollen.
Wie wird nun der in seinem tragischen Gehalte bereichert, der zu seinem Schicksal das Schicksal seines Volkes auf sich nimmt und sich einverleibt!
Jude sein ist eine unermesslich tiefe Tragik. Von dieser erfährt, wer an seinem Judentum vorübergeht, nur das Gröbste und Handgreiflichste, das gar nicht zum wesentlich Tragischen gehört. Wer aber sein Judentum in sein Leben aufnimmt, um es zu leben, der erweitert sein eigenes Martyrium um das Martyrium von hundert Volksgenerationen, er knüpft die Geschichte seines Leibes an die Geschichte zahlloser Leiber, die einst geduldet hatten. Er wird der Sohn der Jahrtausende und deren Herr. Er erhöht Ton, Sinn und Wert seines Daseins. Er schafft sich neue Möglichkeiten und Formen des Lebens. Zauberquellen eröffnen sich seinem Schaffen, und die Elemente der Zukunft sind in seine Hand gegeben.
Die Schaffenden sind die heimlichen Könige des Volkes. Sie regieren das unterirdische Schicksal des Volkes, von dem das äußere nur der sichtbare Widerschein ist. Man kann sie, wie ich schon sagte, mit einiger Analogieberechtigung als die Ganglien bezeichnen, in denen sich das Erleben des Volkes einerseits in Aussprechen und sinnvolle Gestalt, anderseits in Handeln und Einwirken auf das eigene Geschick umsetzt. Das Volk ist der schwerfällige Körper, dem das Zentralorgan zugleich die Ausdrucksmöglichkeit und die Wahlmöglichkeit gibt. Ohne dieses regiert der nationale Organismus nur in Reflexbewegungen auf die äußeren Anreize. Wo keine Schaffenden sind oder wo sie vom organischen Leben des Volkes losgelöst sind, da fehlt der immanente Zusammenhang zwischen Erleben und Tun, der dieses zur Antwort auf jenes macht, und eine normale einheitliche Kulturtätigkeit, aber auch ein großes und freies Schicksal ist unmöglich.
Bei einem blühenden und selbstsicheren Schollenvolke darf dieser Einfluss der Schaffenden zuzeiten wohl unter die Schwelle des Gesamtbewusstseins sinken, keineswegs aber bei einem Volke, das die Segel nach einem fernen und befreienden Hafen gespannt hat. Hier muss er vielmehr unvergleichlich intensiver und offenbarer auftreten. So sind bei einigen slawischen Völkern die Dichter in Wahrheit die Gesalbten und die Boten des Wortes.
Andere sind nur gefesselt, wir aber sind auch tief krank. Und vielleicht das Schmerzhafteste an unserer Krankheit ist die Stellung der Schaffenden in der Gegenwart unseres Volkes. Sie sind dem natürlichen Leben der Gemeinschaft, aus der sie stammen, entrückt. Sie sprechen eine ganz andere Sprache als die Massen, aus denen sie emporgestiegen sind. Aber sie haben auch einen ganz anderen Willen. Keine Brücke führt von ihnen zu dem dunklen und keimreichen Volke. Aber sie wollen auch keine Brücke.
Ist es nur darum, weil sie lieber in der glanzvollen Fremde Satrapen als bei uns freie Fürsten und die Geliebten unserer Sehnsucht und unsere schöneren Brüder im Leid sein wollen? Oder fühlen sie sich mit ganzem Wesen einer anderen Gemeinschaft zugehörig? Oder ist auch ihnen jener vielgepriesene Völkerbrei die erstrebenswerte Grundlage ihres Schaffens? Oder ist ihnen all dies einfach — gleichgültig?
Wie es auch sein mag, ihre Fremdheit ist nicht, wie manche Zionisten behaupten, eine Erscheinung des Emanzipations- und Assimilationsproblems, sondern das Ergebnis einer großen und grauenhaften Pathologie zweier Jahrtausende unseres Volkes.
Die aber die Brücke wollen, jedoch nicht wissen, wie sie erbaut werden könnte, denen ersteht in der Bewegung ein starker und mit jedem Tage wachsender Helfer. Hat sie die Schaffenden erst auf das Volk als auf ein lebendiges zukunftsvolles Wesen aufmerksam gemacht und so ihr Verständnis für das Volk geweckt, so weckt sie auch in diesem selbst immer stärkeres Verständnis für die Schaffenden. Sie bindet seine Kräfte los, sie entfaltet seine Fähigkeiten, sie erzieht es; oder vielmehr sie bewirkt dies alles nicht, sondern sie ist es: das Fruchtbarwerden des Volkes. Sie lockt die Seelenenergie des Volkes hervor. In der wunderartig aufrüttelnden Hand der Bewegung wird das Volk immer aufnahmefähiger und verarbeitungsfähiger. So kommt es den Schaffenden entgegen.
Wenn man die Bewegung als das Fruchtbarwerden des Volkes auffasst, versteht man den Zusammenhang von Schaffen und Bewegung in unserer Volksgegenwart. Beide wurden fast die ganze Diaspora hindurch von der kranken, verzerrten, tyrannischen Ghettokultur niedergehalten und verdorben, bis die zu Schaffenden Geborenen ohnmächtige Ketzer und die ewig auflebenden Flammen der Bewegung taumelhafte Epidemien wurden. Beide mussten jetzt, in dieser Renaissancephase unseres Volkstums, erwachen und aufblühen. Und sie werden einander näher kommen, miteinander verschmelzen müssen. Denn sie sind im letzten Grunde eines: die Unzerstörbarkeit des Werdens in dem tragischsten aller Völker.
Die Schaffenden sind auch nicht die „Künstler". Die reinen Künstler sind unvergleichlich mehr auf das Machen aus als auf das Werden. Die vollkommene Technik eines Gebildes ist unstreitig eine beglückend schöne Sache, aber unserer Zeit ist der Sinn für das verloren gegangen, was darüber hinausgeht und nicht mehr Glück, sondern Erlösung bringt: die Berufung und das Schicksal des Berufenen. Auch kommt hier ein weiterer Kreis des Materials in Betracht; denn es gibt Schaffende, die ihr Werk aus Menschenseelen, aus Völkern und Kulturen bilden, manche aus dem eigenen Wesen, andere aus ganz losgelösten Werten und Offenbarungen. Der Künstler ist auf Medien der Mitteilung beschränkt, der Schaffende kann auch Dinge zeugen, die ganz innerlich und jenseits aller Sprache sind und die dennoch andere Menschen zu bewegen vermögen.
Die Schaffenden sind zugleich die Intellektuellen und die Künstler. Wenn sie mit den Ganglien verglichen werden können, in denen sich der durch Anreize ausgelöste Nervenstrom verdichtet und verarbeitet, so wird ja durch diesen zentralen Vorgang zweierlei Reaktion bewirkt: Vorstellung und Willensregung. Die Schaffenden sind die Starken und Vielfältigen, in denen das menschheitliche Geschehen zusammenströmen muss, um zu neuen Entwicklungen in Geist und Tat zu gelangen.
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Ein Volk wird zusammengehalten durch primäre Elemente: das Blut, das Schicksal — soweit es auf der Entwicklung des Blutes beruht — und die kultur-schöpferische Kraft — soweit sie durch die aus dem Blute entstandene Eigenart bedingt wird.
Ein Volk wird nicht zusammengehalten durch sekundäre Elemente: Nutzzweck und Glauben (wie wirtschaftliche oder religiöse Gruppen).
Dieses muss immer wieder betont werden: ein Volk ist eine Menschengemeinschaft, deren Daseinsgrund jenseits alles Nutzens und vor allem Nutzen liegt. Die erste Erlösung aber, die dem Einzelnen zuteil wird, ist die Erlösung vom Nutzzweck. So wird der erlöst, der zum Volke kommt. Er kommt vom Nutzgetriebe zu den ursprünglichen waltenden Kräften, vom Äußeren des Lebens in sein Inneres, von der Erhaltung im Augenblick zur Erhaltung im Wechsel der Generationen. Er steigt zu den Müttern hinab. Er wohnt bei einem dunklen und gewaltigen Bildner.
Und dieses andere: jenseits alles Glaubens und vor allem Glauben. Der Glaube hat die Macht verloren, Seelen in den Arm zu nehmen und an das Herz der Welt zu legen. Heute lügt er dem Leben und tut deinen wogenden Sinnen Gewalt an. Aber wer seinen Gott verloren hat, mag tief verwaist sein. Auf seinem neuen Wege kann da das Volk eine erste Station werden. Diese wunderbare Reihe von Zeugungen und Geburten, in denen die Art sich entfaltet, diese breite vielverschlungene Verwandtschaft kann für ihn der erste feste Boden werden. Er steht noch in einem engen Bezirke; aber schon sieht er, dass der Weg vom Etwasglauben zum Etwassein führt.
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Man sollte die guten, reichen und einfachen Worte nicht verschwenden. So auch das Wort „Bewegung" nicht. Man sollte nur da von Bewegung sprechen, wo eine Aufwärtsbewegung von Keimen sich kundgibt. Kräfte werden gehemmt, Kräfte wollen frei werden, wollen fruchtbar werden: so bewegen sie sich, so bewegen sie die Welt. Die Bewegung eines Volkes ist das Fruchtbarwerden eines Volkes. Denn auch wenn sie erliegt, ist ihre Tragik von einer einmaligen großen Fruchtbarkeit durchleuchtet.
Im Alltagsleben eines Volkes wirken seine Gemeinsamkeiten — Blut, Schicksal, kulturschöpferische Kraft — sozusagen rein physiologisch: sie bleiben unter der Schwelle des Bewusstseins. Erst in der Bewegung werden sie bewusst, weil die Bewegung eine Einheit braucht und diese eben durch die Bewusstwerdung des Gemeinsamen, durch das Werden und Wachsen des Volksbewusstseins zustande kommt.
Durch das Volkstum wird der Einzelne allezeit bereichert und gefestigt; durch die „Bewegung“ seines Volkes nur dann, wenn sie es wirklich ist, das heißt, wenn er an der Aufwärtsbewegung von tausend und tausend verwandten Keimseelen und an der allgemeinen Produktivierung seines Blutes und seiner Art teilnehmen darf.
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Die zwei Grundmächte des schöpferischen Lebens sind die Wurzelhaftigkeit und die gebundene Tragik.
Freilich wird der Schaffende stets nicht vom Gestern, sondern vom Morgen die Losung und nicht von dem seit jeher thronenden, sondern von dem werdenden Gotte das Gesetz empfangen. Und die gewesenen Dinge werden Ton in seinen Händen sein. Aber seine Werke sind nur wie Kristalle und nicht wie Früchte, wenn nicht über aller seiner Willkür doch die Macht des vegetativen Wesens steht. So fasst er Wurzel in den Gründen seines eigenen Gewordenseins und kann sich nicht bloß in die freie, wechselvolle Luft, sondern auch in das dunkle und unwandelbar überdauernde Erdreich hinein wachsend ausbreiten.
Heute führt Satan den Schaffenden nicht auf einen hohen Berg, ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zu zeigen. Sondern aus der Unendlichkeit heraus versucht er ihn und lockt ihn, sich an das Wesenlose zu verlieren und in die weite Wirrnis zu schweifen, in der alles menschlich Klare und Begrenzte aufgehört hat. Des Schaffenden Reich ist aber da, wo Gestalt und Gestaltung gedeiht. Darin zu bleiben ist ihm die Wurzelhaftigkeit ein mächtiger Helfer.
Am seligsten wird sie dem zuteil, der auf eigener Erde sitzt. Auf der Erde, aus deren Elementen, aus deren Dürre oder Feuchtigkeit, aus deren Frieren oder Glühen, aus deren grauem oder leuchtendem Himmel, aus deren ebener oder gebirgiger Formung, aus deren armem oder üppigem Pflanzentum, aus deren starrer oder zarter Landschaft das Blut und das Leben seiner Ahnen und darin die Anfänge seiner Art entstanden sind. Dem Verbannten aber kann das Gefühl des organischen Zusammenhangs mit vergangenem, gegenwärtigem und kommendem Volkstum eine Heimatlichkeit schaffen, die wohl wie die Sehnsucht unzulänglich, aber auch feuerbeseelt wie sie ist.
Die andere Grundmacht habe ich gebundene Tragik genannt. Diese, das heißt die erlösende Bejahung eines Widerstreites, ist das Wesen alles Schaffens. In dem Schaffenden wird eine tiefe Verzweiflung und Zerrissenheit zur Harmonie. Er ist nicht einer, der an Abgründen vorübergeht, sondern er hat alles gesehen und alles aufgenommen und wagt es, diese niederträchtige Welt zu wollen.
Wie wird nun der in seinem tragischen Gehalte bereichert, der zu seinem Schicksal das Schicksal seines Volkes auf sich nimmt und sich einverleibt!
Jude sein ist eine unermesslich tiefe Tragik. Von dieser erfährt, wer an seinem Judentum vorübergeht, nur das Gröbste und Handgreiflichste, das gar nicht zum wesentlich Tragischen gehört. Wer aber sein Judentum in sein Leben aufnimmt, um es zu leben, der erweitert sein eigenes Martyrium um das Martyrium von hundert Volksgenerationen, er knüpft die Geschichte seines Leibes an die Geschichte zahlloser Leiber, die einst geduldet hatten. Er wird der Sohn der Jahrtausende und deren Herr. Er erhöht Ton, Sinn und Wert seines Daseins. Er schafft sich neue Möglichkeiten und Formen des Lebens. Zauberquellen eröffnen sich seinem Schaffen, und die Elemente der Zukunft sind in seine Hand gegeben.
Die Schaffenden sind die heimlichen Könige des Volkes. Sie regieren das unterirdische Schicksal des Volkes, von dem das äußere nur der sichtbare Widerschein ist. Man kann sie, wie ich schon sagte, mit einiger Analogieberechtigung als die Ganglien bezeichnen, in denen sich das Erleben des Volkes einerseits in Aussprechen und sinnvolle Gestalt, anderseits in Handeln und Einwirken auf das eigene Geschick umsetzt. Das Volk ist der schwerfällige Körper, dem das Zentralorgan zugleich die Ausdrucksmöglichkeit und die Wahlmöglichkeit gibt. Ohne dieses regiert der nationale Organismus nur in Reflexbewegungen auf die äußeren Anreize. Wo keine Schaffenden sind oder wo sie vom organischen Leben des Volkes losgelöst sind, da fehlt der immanente Zusammenhang zwischen Erleben und Tun, der dieses zur Antwort auf jenes macht, und eine normale einheitliche Kulturtätigkeit, aber auch ein großes und freies Schicksal ist unmöglich.
Bei einem blühenden und selbstsicheren Schollenvolke darf dieser Einfluss der Schaffenden zuzeiten wohl unter die Schwelle des Gesamtbewusstseins sinken, keineswegs aber bei einem Volke, das die Segel nach einem fernen und befreienden Hafen gespannt hat. Hier muss er vielmehr unvergleichlich intensiver und offenbarer auftreten. So sind bei einigen slawischen Völkern die Dichter in Wahrheit die Gesalbten und die Boten des Wortes.
Andere sind nur gefesselt, wir aber sind auch tief krank. Und vielleicht das Schmerzhafteste an unserer Krankheit ist die Stellung der Schaffenden in der Gegenwart unseres Volkes. Sie sind dem natürlichen Leben der Gemeinschaft, aus der sie stammen, entrückt. Sie sprechen eine ganz andere Sprache als die Massen, aus denen sie emporgestiegen sind. Aber sie haben auch einen ganz anderen Willen. Keine Brücke führt von ihnen zu dem dunklen und keimreichen Volke. Aber sie wollen auch keine Brücke.
Ist es nur darum, weil sie lieber in der glanzvollen Fremde Satrapen als bei uns freie Fürsten und die Geliebten unserer Sehnsucht und unsere schöneren Brüder im Leid sein wollen? Oder fühlen sie sich mit ganzem Wesen einer anderen Gemeinschaft zugehörig? Oder ist auch ihnen jener vielgepriesene Völkerbrei die erstrebenswerte Grundlage ihres Schaffens? Oder ist ihnen all dies einfach — gleichgültig?
Wie es auch sein mag, ihre Fremdheit ist nicht, wie manche Zionisten behaupten, eine Erscheinung des Emanzipations- und Assimilationsproblems, sondern das Ergebnis einer großen und grauenhaften Pathologie zweier Jahrtausende unseres Volkes.
Die aber die Brücke wollen, jedoch nicht wissen, wie sie erbaut werden könnte, denen ersteht in der Bewegung ein starker und mit jedem Tage wachsender Helfer. Hat sie die Schaffenden erst auf das Volk als auf ein lebendiges zukunftsvolles Wesen aufmerksam gemacht und so ihr Verständnis für das Volk geweckt, so weckt sie auch in diesem selbst immer stärkeres Verständnis für die Schaffenden. Sie bindet seine Kräfte los, sie entfaltet seine Fähigkeiten, sie erzieht es; oder vielmehr sie bewirkt dies alles nicht, sondern sie ist es: das Fruchtbarwerden des Volkes. Sie lockt die Seelenenergie des Volkes hervor. In der wunderartig aufrüttelnden Hand der Bewegung wird das Volk immer aufnahmefähiger und verarbeitungsfähiger. So kommt es den Schaffenden entgegen.
Wenn man die Bewegung als das Fruchtbarwerden des Volkes auffasst, versteht man den Zusammenhang von Schaffen und Bewegung in unserer Volksgegenwart. Beide wurden fast die ganze Diaspora hindurch von der kranken, verzerrten, tyrannischen Ghettokultur niedergehalten und verdorben, bis die zu Schaffenden Geborenen ohnmächtige Ketzer und die ewig auflebenden Flammen der Bewegung taumelhafte Epidemien wurden. Beide mussten jetzt, in dieser Renaissancephase unseres Volkstums, erwachen und aufblühen. Und sie werden einander näher kommen, miteinander verschmelzen müssen. Denn sie sind im letzten Grunde eines: die Unzerstörbarkeit des Werdens in dem tragischsten aller Völker.