Von Kantemir bis Lermontow

Fürst Kantemir — Lomonossow — Derschawin — Karamsin — Krylow — Schukowski — Puschkin — „Engen Onägin" — „Die Kapitainstochter" — Lermontow.

Die russische Literatur ist bekanntlich noch eine sehr junge. Selbst wenn man auf ihre ersten Anfänge zurückgeht, ist sie nicht viel älter als ein Jahrhundert. Trotzdem hat sie bereits die verschiedensten Phasen durchlaufen, jedes mögliche Genre anzubauen versucht, von der Ode im antiken Stil bis zum modernsten Zeitungsartikel; und die Russen unterscheiden in ihr bereits drei vollständige Perioden, die vorklassische, die klassische und die romantische.


Die Anfänge der russischen Literatur fallen etwa mit der Begründung des russischen Kaisertums zusammen. Vorher gab es nur eine Art lyrischer Volkspoesie, die allein durch mündliche Überlieferung fortlebte; denn die Volkssprache war nicht Schriftsprache, sondern als solche wurde die slavonische Kirchensprache gebraucht, welche durch Schrift, Wort- und Satzbau im Griechischen wurzelt, und daher der großen Masse des Volks durchaus fremdartig und unverständlich gegenüberstand. Erst unter Peter dem Großen erscheint ganz plötzlich und ganz unvermittelt auch eine Kunstpoesie, nämlich eine bloße und direkte Nachahmung ausländischer Muster, den verschiedensten Kulturvölkern entlehnt. Wie alle Bildung und Zivilisation, Kunst und Wissenschaft ward auch die Literatur in Russland von auswärts bezogen, und erschien daselbst wie „ein neuer Einfuhrartikel". Die Russen selber haben, trotz ihres höchst empfindlichen Nationalstolzes, diese Tatsache schließlich nicht leugnen können. Der vortreffliche Kritiker Belinski, den sie ihren Lessing nennen, sagt in den von ihm herausgegebenen „Vaterländischen Annalen“: „Die russische Literatur ist kein inländisches, sondern ein exotisches, aus der Fremde herübergepflanztes Gewächs. Ihre ganze Geschichte besteht in fortwährenden heftigen Anstrengungen, sich von den Resultaten dieser künstlichen Überpflanzung loszumachen und Wurzel zu fassen im nationalen Boden."

Der erste sogenannte russische Dichter war nicht einmal von Herkunft ein Russe, sondern ein geborener Grieche: Fürst Kantemir (1708 — 1744), der längere Zeit als russischer Gesandter in Paris lebte. Unter dem Einfluss von Horaz, Juvenal und Boileau schrieb er „Satiren", in denen durchaus französische Luft weht. Gewiss ist es höchst originell, dass eine Literatur mit der Satire beginnt, aber für die russische, wie man weiterhin sehen wird, keineswegs so zufällig, sondern von tiefer durchgehender Bedeutung. Sein Zeitgenosse, der später von Puschkin so arg verspottete Trediakowski lieferte russische Verse nach griechischen Hexametern und französischen Couplets. Erst Lomonossow, gestorben 1765, war, wenn auch nur in formaler Hinsicht, ein nationaler Schriftsteller; erst dieser vermittelte den starren Gegensatz zwischen Volk und Kirche, und schuf eine russische Büchersprache. Auf deutschen Universitäten hatte er sich eine für die damalige Zeit umfassende Gelehrsamkeit erworben; er war zugleich Dichter und Philologe, außerdem noch Mathematiker und Naturforscher. Er schrieb Oden, Tragödien und Heldengedichte. Indem er die Waffentaten Peter des Großen verherrlichte, hüllte er die russische Sprache in ein römisches Gewand; bei der Schilderung von der Regierung Elisabeths maß er den Vers nach deutschem Rhythmus. Er gab den Russen ihre erste Grammatik, und stellte zuerst die Gesetze der Metrik fest. Seine Nachfolger Sumarokow und Cheraskow schrieben gleichfalls Eklogen und Satiren, Tragödien und Epopöen. Aber Alles war und blieb eine reine Nachahmung italienischer, englischer und französischer Muster; nirgends wahre Poesie, sondern bloße und dazu höchst schwerfällige Versübungen.

Eine gewisse poetische Begabung zeigt sich erst bei Derschawin, gestorben 1816; der obgleich ohne besondere Bildung, in seinen Liebes- und Trinkliedern den Übergang von der Rhetorik zum wirklichen Leben machte. Am bekanntesten von ihm ist die „Ode an Gott", welche Übersetzungen in viele fremde Sprachen erfuhr. Neben ihm erwarb sich Ehre und Ansehen Bogdanowitsch mit seinen poetischen Erzählungen, von welchen „Duschenka" (das Seelchen), ein Lafontaines „Psyche" nachgebildetes Gedicht, noch heute viel verbreitet ist. Zur selben Zeit trat auch Denis von Wisin auf, welcher als der Vater der russischen Komödie betrachtet wird. Gleich sein erster, nunmehr mit Recht vergessener Versuch „der Brigadier" fand außerordentlichen Beifall; während ein anderes Lustspiel „Njedorosl" (etwa mit „Muttersöhnchen" zu übersetzen) sich bis in die letzte Zeit erhalten hat. Überhaupt sind, um das schon jetzt zu bemerken, die Komödie und die Novelle die beiden Gebiete, auf denen die Russen sich wirklich selbstschöpferisch bewiesen, und wo sie ohne Zweifel das Beste geleistet haben.

Einige datieren die sogenannte klassische Periode der russischen Literatur schon von Lomonossow ab, Andere erst mit Karamsin, dessen Wirksamkeit in die Regierungszeit Alexander I. fällt. Karamsin begründete das „Moskauer Journal", in welchem Cheraskow, Derschawin u. A. ihre Arbeiten veröffentlichten, und namentlich die bedeutendsten ausländischen Dichter in Übersetzungen vorgeführt wurden. Karamsins eigene Gedichte und Erzählungen sind ohne poetischen Wert; trotzdem nimmt er in der Geschichte der russischen Literatur eine hohe Stellung ein. Mit ihm endigt die Periode der hochtrabenden und schwerfälligen Sprache, er schuf einen neuen lebendigen Stil und eine leichtere, flüssige Versifikation. Diese neue, sich dem wirklichen Leben mehr nähernde und schon ein nationales Gepräge tragende Literatursprache bahnte Karamsin in den frisch, aber oberflächlich geschriebenen „Briefen eines russischen Reisenden" an, und bildete sie weiter aus in seinem Hauptwerke, in der „Geschichte des russischen Reichs". Obwohl dieses Werk mit rauschendem und einstimmigem Jubel aufgenommen wurde, auf die ganze Literatur den tiefgreifendsten und nachhaltigsten Einfluss hatte, und selbst noch den jungen Puschkin zu dem begeisterten Ausrufe hinriss : „Wie Kolumbus Amerika, so hat erst Karamsin Russland entdeckt" — trotz des gewaltigen Erfolges ist dies Werk doch weiter nichts als der erste Versuch einer russischen Geschichtsschreibung, von einem Russen unternommen — der erste Bearbeiter der russischen Geschichtsquellen war ein deutscher Gelehrter: Schlözer. Der historische Wert von Karamsins Geschichte ist ziemlich gering: es fehlen der organische Aufbau, der leitende einheitliche Gedanke und vor Allem Quellenkenntnis. Dazu ist die Sprache ein langatmiger geschmückter Periodenbau, den als mustergültig zu betrachten, man jetzt endlich aufgegeben hat.*) Dessenungeachtet war die Schöpfung dieser Sprache seiner Zeit eine nationale Tat; und unter den Zeitgenossen Karamsins verdient nur noch Krylow genannt zu werden, der mit seinen, noch heute für klassisch geltenden und in alle Schichten des Volks gedrungenen „Fabeln" gleichfalls das Element der Nationalität in die russische Literatur einführte.

*) Vergl. die Einleitung zu den „Russischen Fragmenten" von Bodenstedt; 2 Bände, Leipzig, 1862.

Mit Schukowski (1783 — 1852) beginnt die noch gegenwärtig in Russland herrschende romantische Schule, als deren Begründer freilich Andere wieder erst Puschkin ansehen wollen. Schukowski war weniger Dichter als Übersetzer. Er übersetzte u. A. Bürgers „Leonore", Schillers „Jungfrau von Orleans", Byrons „Gefangenen von Chillon" und manche Balladen von Goethe und Uhland. Die Russen, immer zu Vergleichungen mit anderen Nationen geneigt, und immer geneigt, sich in ihren eigenen Leistungen stark zu überheben, nennen Schukowski ihren A. W. v. Schlegel, und behaupten, dass seine Übersetzungen den fremden Originalen an dichterischem Werth geradezu gleichstehen. Seine eigene Dichtungen, auch die vielgerühmten „Balladen", lassen jedoch nur eine sehr massige poetische Begabung erkennen. Dagegen bleibt ihm das Verdienst, zuerst gegen die Herrschaft des französischen Pseudoklassizismus Front gemacht zu haben. Schukowski, ein vielseitig gebildeter Mann, der zu verschiedenen Malen und längere Zeit in Deutschland lebte, war der Erzieher des jetzt regierenden Kaisers Alexander, und er hat es nicht versäumt, seinen Zögling für die romantische Schule zu interessieren.

Auch russische Kritiker haben inzwischen zugegeben, dass alle bisher genannten Schriftsteller nicht eigentlich selber Dichter, sondern nur die Vorläufer eines Dichters waren. In der Tat lässt sich der ganze Zeitraum von Kantemir bis einschließlich Schukowski etwa mit unserer Literatur vor Klopstock, höchstens mit der bis zum Auftreten Lessings vergleichen. Der erste russische Dichter war Puschkin.

Obgleich nicht entfernt ein Dichter ersten Hanges, wirkte doch Puschkin in dem bisher an Poeten so armen und auf jedes einheimische Talent so maßlos stolzen Russland geradezu meteorartig. Schon der 14oder 16jährige Lyceumsschüler ward wegen seiner ersten knabenhaften Versuche von dem greisen Derschawin förmlich zum Dichter geweiht. Derschawin und Schukowski waren seine Lehrer und Vorbilder; doch sobald Puschkin mit dem ersten größeren aber noch sehr unreifen Gedicht „Russiän und Ludmila" hervortrat, erklärte sich der Meister Schukowski von dem 20jährigen Jüngling für immer überwunden. 1826, wo Puschkin erst einige Lieder und ein paar kleine epische Dichtungen, wie „Der Gefangene im Kaukasus " und „Die Zigeuner" veröffentlicht hatte, die noch ganz von jugendlicher Schwärmerei und Phantastik strotzten, ließ der Kaiser Nicolaus, der nach Moskau zur Krönung gekommen war, den in der Verbannung weilenden Dichter durch einen Feldjäger herbeiholen, schenkte ihm die Freiheit, verlieh ihm die Kammerjunkerwürde und ernannte ihn zum Historiographen Peter des Großen mit einem Jahresgehalt von 6.000 Rubeln. Zugleich trieb er den jungen Mann zu weiteren Schöpfungen, und da Puschkin sich durch die Zensur geniert fühlte, erbot sich der Kaiser, hinfort selber sein Zensor zu sein. Puschkins Poesien, meist stückweise veröffentlicht, wurden vom Publikum förmlich verschlungen, und zirkulierten oft, noch ehe sie zum Drucke gelangten, schon in Tausenden von Abschriften. Als der Dichter, kaum 38 Jahre alt, im Duell fiel, erscholl durch ganz Russland ein Schmerzensschrei; der Kaiser bezahlte die beträchtlichen Privatschulden des Toten, erließ den Erben die Deckung der nicht minder beträchtlichen Kronschulden, setzte der Witwe und den Kindern eine jährliche Pension von 11.000 Rubeln aus, und übernahm die Kosten für eine Prachtausgabe der Werke Puschkins, welche 1838 erschien und bereits im nächsten Jahre vergriffen war. Genug, der Kaiser und die Nation überboten sich, den Dichter zu feiern und ihm zu lohnen.

Zu dieser fast beispiellosen Verehrung stand Puschkins Können und vornehmlich sein Schaffen in keinem Verhältnis. Langsam und spät arbeitete er sich zu einer gewissen Originalität und Selbstständigkeit durch. In seinem so viel bewunderten Versroman „Eugen Onägin", den der Dichter selber für sein eigentliches Hauptwerk erklärte, steht er ganz unter dem Einfluss Byrons. Wie Byrons „Don Juan", so ist Puschkins „Onägin" ein, streng genommen, formloses Produkt, eine von souveräner Laune und Willkür diktierte Vermischung von Epik und Lyrik, Handlung und Reflexion, Ernst und Spott, die jede Illusion zerstört und durch fortwährende Kreuz- und Quersprünge, durch sorgfältige Registrierung jedes Einfalls die Geduld des Lesers auf die härteste Probe stellt. Es ist für Russland, wo alle Entwicklung nur sprungweise und unorganisch geschieht, sehr bezeichnend, dass die Literatur, gleich nach den ersten Anfängen, gleich nach den ersten ungelenken Versuchen, zu einer Zeit, da sie noch gar nichts Positives aufzuweisen hat, sich schon in jene Mischgattung von Poesie stürzt, die bei andern Kulturvölkern erst wahrhaft großen Schöpfungen, erst der eigentlichen Blüte nachzufolgen pflegt. Aber die Russen, nicht im entferntesten blöde, stellen ihren „Onägin" getrost neben den Goethe'schen „Faust", indem sie des seligen Glaubens leben, dass er nicht weniger tiefsinnig und allumfassend wie dieser sei. Einem Deutschen wird es schwer werden, zwischen beiden Gedichten irgend welche Ähnlichkeit oder Verwandtschaft zu entdecken. Von den himmelstürmenden und erderschütternden Gedanken, wie sie sich im „Faust" auf jeder Seite finden, ist im „Onägin" keine Spur. Im Vergleich mit jener ewigen Tragödie des Menschengeistes ist „Eugen Onägin " trivial und harmlos zu nennen. Der Held, ein blasierter Weltmann aus der Petersburger Gesellschaft, der das ihm entgegengetragene Herz eines jungen Landfräuleins zurückweist, und erst dann ihrer begehrt, da er sie als die Gattin eines Generals und als stolze Weltdame wiederfindet, dieser träge indolente Kavalier, wie er in Petersburg und in jeder anderen großen Stadt Europas zu Dutzenden herumläuft, kann nicht das geringste Interesse einflössen; und alle Teilnahme, alle Bewunderung konzentriert sich in der keuschen reichbegabten Tatjane, von der man nicht begreift, die man innig bedauern muss, dass sie so viel Liebe an einen Unwürdigen verschwendet. Die auch von deutschen Übersetzern wiederholte Behauptung, der „Onägin" sei eine echtnationale Schöpfung, die treue Spiegelung des russischen Lebens und russischen Volkes, scheint uns ebenfalls nicht gerechtfertigt. Die Geschichte könnte überall spielen und ohne Schwierigkeit auf anderen Boden verpflanzt werden; die auftretenden Personen haben nur wenig spezifisch Russisches, sie gehören der modernen europäischen Gesellschaft an. Abgesehen von der Schilderung einiger nationalen Bräuche findet sich von dem eigentlich russischen Volk im „Onägin" nicht viel; selbst die Natur des russischen Landes kommt in ihren charakteristischen Eigenschaften nicht zur vollen Geltung. Auf die nachfolgende Literatur freilich hat „Eugen Onägin" großen Einfluss geübt. Er ist der poetische Stammvater einer langen Reihe von ähnlichen Helden geworden, lauter blasierten frivolen Wettlingen, die, wie namentlich Lermontows „Petschorin", sonder Gewissensskrupel Frauenherzen brechen, allen ernsten Strebens bar, mit dem Leben ein abscheuliches Spiel treiben und daran verdientermaßen zu Grunde gehen.

Unter den „Dramen" Puschkins wird besonders „Boris Godunow" gerühmt. Allein es hat vom Drama nur den Namen. Es ist eine lockere Kette nicht einmal von dramatischen Szenen, sondern von bloßen Situationsbildern, die kaleidoskopartig vorübergleiten. Beständig wechselt der Schauplatz, ohne die geringste Rücksicht auf Zeit und Raum; und doch geschieht die Hauptsache hinter der Szene und in den Zwischenpausen. Von einer fortschreitenden Entwicklung, von einem einheitlichen Organismus ist nicht die Rede, bald vermisst man die Ursache, bald die Wirkung, sogar das Ende erscheint zweifelhaft und wie abgebrochen. Weder Puschkin noch irgend ein anderer russischer, überhaupt kein slawischer Dichter hat ein eigentliches Drama hervorzubringen vermocht. Es liegt dies im slawischen Volkscharakter begründet, der wie Bodenstedt sehr treffend bemerkt, einen vorwiegend weiblichen Zug enthält, im Gegensatz zum germanischen Volkscharakter vorwiegend weiblicher Natur ist, und deshalb zu dramatischen Schöpfungen keine Zeugungskraft, eine desto innigere Neigung und Begabung aber für die Lyrik besitzt. Auch Puschkins Talent und seine hauptsächlichsten Erfolge sind auf lyrischem Gebiet zu suchen. Wie die Slawen überhaupt bisher noch kein großes geschlossenes Kunstwerk aufzuweisen haben, so fehlte, um solches zu schaffen, auch Puschkin die Kraft und die Geduld. Bei allen weiter angelegten Kompositionen geht ihm merklich der Atem aus. Viele von seinen Dichtungen sind Fragmente geblieben, aber selbst die zu Ende geführten zeigen etwas Fragmentarisches, Lückenhaftes oder doch wenigstens viel Ungleichmäßiges.

Die einzige reife Frucht seiner historischen Studien ist die „Geschichte des Pugatschew'schen Aufstandes“, welche ihm dann das Material lieferte zu der Novelle „Die Kapitänstochter". Es ist dies eine seiner letzten Schöpfungen; Puschkin stand in der Blüte des Mannesalters als er sie niederschrieb; dafür erscheint sie uns auch als das vollendetste von allen seinen "Werken, obwohl sie weder im Inland noch im Ausland*) so bekannt geworden ist, wie z. B. „Onägin" und die dramatischen Gedichte.

*) Eine ganz ausgezeichnete Übersetzung lieferte Wilhelm Wolfsohn in „Russlands Novellendichter", 3 Bände, Leipzig 1848 u. ff.

Wenn man „Die Kapitänstochter " liest, erkennt man Puschkin kaum wieder: so kräftig und markig, so lebensvoll und wahr treten uns die Personen entgegen; so einfach und klar, ununterbrochen und energisch fließt der Strom der Erzählung. In dieser Geschichte weht wirklich nationale Luft, sie wurzelt in russischem Boden, und ihre Träger sind echte Repräsentanten des russischen Volks. Das Lokal, die Orenburgische Steppe, und die Zeit, das letzte Viertel des vorigen Jahrhunderts, sind mit einer Treue und Plastik geschildert, wie wir sie sonst nur an Walter Scott kennen. Der eigentliche Held der Erzählung ist nicht der noch etwas knabenhafte, aber im Übrigen schon ganz ritterliche Fähnrich Peter Grinew; auch nicht seine Geliebte, die zuerst so schüchterne, dann aber als es nötig wird, feste und mutige Kapitänstochter Marie Mironow; sondern der kecke Empörer Pugatschew selber, eine eigentümliche echt kosakenhafte Mischung von Schelmerei und Kühnheit, Grausamkeit und Großmut, dem das einfältige leichtgläubige Volk in Masse zufällt, und der sich der Regierung bald furchtbar zu machen weiß. Um ihn und um das Liebespaar gruppieren sich eine Menge von Nebenpersonen, darunter die interessantesten, Auge und Herz erquickenden Originale, z. B. Grinews alter Diener Saweljitsch, der den unerfahrenen Fähnrich arg rupfende Rittmeister Sutriew, die in der Festung Belogorsk befehligende Kapitänin Wassilissa Jegorowna, ihr gutmütiger gehorsamer Gemahl und ihr Adjutant, der ehrliche einäugige Garnisonsleutnant Iwan Ignatitsch, der verschlagene Kosakenurädnik Maximitsch u. A. m. Bei der Zeichnung der zahlreichen Personen offenbart der Dichter einen so reichen kerngesunden Humor, dass er in dieser Hinsicht geradezu an Cervantes erinnert. Die Sprache ist einfach, frisch und knapp; die Schilderung streng objektiv, mit Vermeidung aller unnützen und weitläufigen Reflexionen; der Ausgang endlich, was sonst bei einem russischen Dichter nicht leicht vorkommt, durchaus versöhnend und befriedigend. Genug, „Die Kapitänstochter" ist, abgesehen von zwei kleinen Unwahrscheinlichkeiten, ein Meisterstück; eine Novelle, die trotz der zahlreichen Dichter, die gerade dieses Genre angebaut, in der ganzen russischen Literatur nur noch einmal ihres Gleichen hat, nämlich in der Erzählung „Tarass Bulba, der Kosaken-Häuptling" von Gogol. Um so verwunderlicher ist es, dass die sonstigen Novellen Puschkins wieder hinter der „Kapitänstochter" so arg zurückbleiben; es sind lauter flüchtige Skizzen, bloße Capriccios, phantastische oder spukhafte Spielereien.

Noch jünger als Puschkin endete sein Nachfolger und Nachahmer Michail Lermontow. Noch nicht 30 Jahre alt, fiel er (1841) gleichfalls im Duell, genau in derselben etwas theatralischen Weise, wie er in seinem Roman „Der Held unserer Zeit" Petschorin fallen lässt. Nicht nur in den äußeren Lebensschicksalen, auch in psychologischer Hinsicht findet zwischen ihm und Puschkin die größte Ähnlichkeit statt. Einen ebenso großen und wohl noch verderblichem Einfluss wie auf Puschkin hat Byron auch auf Lermontow ausgeübt; die Poesie der Ironie und des Weltschmerzes, der Zerissenheit und Zerstörung ist auch die Poesie Lermontows. Einen subjektiveren Dichter als er war, kann man kaum finden; er legte allen seinen Helden sein eignes Denken und Empfinden unter, alle seine Helden, wie „Petschorin", „Der Dämon", „Der Tscherkessenknabe", „Ismail Bey u etc. sind mehr oder weniger er selber. Nur eine einzige Ausnahme findet auch bei ihm statt. Das herrliche „Lied vom Zaren Iwan Wassiljewitsch, seinem jungen Leibwächter und dem kühnen Kaufherrn Kalaschnikow" ist ganz objektiv und historisch gehalten, von antiker Einfachheit und Erhabenheit, und trifft in der glücklichsten Weise den echten Volkston. An dichterischer Begabung steht Lermontow hinter Puschkin durchaus nicht zurück; bei Beiden finden sich viele lyrische Gedichte, die ebenso gut von dem Einen wie von dem Andern herrühren könnten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,
Russland 003. Petersburg, Denkmal Peters des Großen

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Russland, Wieder Prozession in Sowjet-Russland. 1942

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L. N. Tolstoi

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