Turgeniews Novellen

Noch einmal die Leibeigenschaft („Mumu" und „Das Wirtshaus an der Heerstraße") — Effekte und Manier („Drei Begegnungen", „Ein Briefwechsel"). — Liebe und Ehe („Assja", „Der Renommist", „Erste Liebe", „Drei Portraits", „Faust", „Der Antschar").

Die Skizzen „Aus dem Tagebuche eines Jägers" sind Novelletten; Turgeniews spätere Dichtungen sind Novellen, die alle wieder, selbst die längsten, einen .skizzenartigen Charakter haben. Die Novelle ist Turgeniews eigentliches Gebiet, das er wie wenig andere lebende Schriftsteller beherrscht, aber seine Art zu erzählen ist eine springende; er gibt keine vollständige gleichmäßige Entwicklung, sondern in der Kegel nur Umrisse und Andeutungen; er ist arm an Handlung, aber reich an Pointen und allerhand Analysen, Exkursen und Detailmalereien. Mit Einem Worte: die Form ist bei ihm eine scheinbar sehr lose und beliebige; obwohl er tatsächlich auf sie viel Kunst und Sorgfalt verwendet, und auch hinsichts der Form mit großer Berechnung verfährt. Turgeniew ist ein sehr arbeitsamer Schriftsteller, die Zahl seiner Novellen beläuft sich bereits auf einige dreißig. Zu den ältesten gehören „Mumu" und „Das Wirtshaus an der Heerstraße", in welchen er noch einmal auf die Leibeigenschaft zurückkommt. In „Mumu" ist der Held ein taubstummer Pförtner, der wegen seiner herkulischen Gestalt und Kraft unter dem Hausgesinde allgemein gefürchtet wird. Ernst und still, immer für sich lebend, hängt Garassim sein Herz zuerst an die Wäscherin Tatjana, die auf Befehl der Herrin mit einem versoffenen Schuster verheiratet wird; und dann, um sich zu trösten, an eine junge Hündin, die er aus dem Wasser auffischt und der er den Namen „Mumu" gibt. Allein das Tierchen missfällt der Edelfrau, sie befiehlt, es fortzuschaffen, und Garassim selber muss sich entschließen, es zu ersäufen. Dies ist die ganze Geschichte; wie man sieht, eine mehr sentimentale als tragische Geschichte, aber Dank der Kunst des Dichters, wird sie Niemand ohne große Bewegung lesen können, Jedermann wird sich durch den stummen Schmerz, durch die finstre Verzweiflung des armen Leibeigenen in tiefster Seele erschüttert fühlen. Erst bei kühlerer Prüfung drängt sich die Frage auf, weshalb Garassim nicht die Herrin um Tatjanens Hand gebeten. Sie würde kaum Nein gesagt haben, denn sie gab dem Taubstummen bereits Zeichen ausdrücklichen Wohlwollens. So aber erfährt sie nichts, weder von Garassim selber, noch von den übrigen Dienstleuten, und sie kann deshalb für die traurigen Folgen ihres Befehls nicht gut verantwortlich gemacht werden. Hätte man sie mit der wahren Sachlage bekannt gemacht, so würde die Geschichte überhaupt nicht möglich gewesen sein. Solch unerklärliches Verabsäumen in dem Ergreifen von Zufluchtsmitteln, die sich zunächst darbieten und im gewöhnlichen Leben für selbstverständlich gelten, solche Zufälligkeiten spielen bei Turgeniew eine wesentliche Rolle. Zieht man diese Stützen fort, so würden manche seiner Dichtungen einfach in sich zusammenfallen.


In der andern Erzählung „Das Wirtshaus an der Heerstraße", macht sich dagegen ein wirklich tragisches Geschick geltend. Akim, ein intelligenter wohlhabender, aber schon etwas bejahrter Leibeigener hat die Schwachheit, ein junges hübsches Mädchen zu freien, und verliert darüber Hab und Gut. Nicht nur dass das leichtsinnige Weib zur Ehebrecherin wird , sie stiehlt dem Gatten auch das ganze Barvermögen und liefert es ihrem Buhlen aus, welcher damit nun den Hof kauft, auf dem Akim eine blühende Gastwirtschaft unterhält. Das Wirtshaus wird dem Unglücklichen ohne sein Wissen über dem Kopfe verkauft; er hat es aus eignen Mitteln erbaut, aber seine Grundherrin, eine habsüchtige, geizige, gewissenlose Deutsche, lässt sich überreden, den Hof, der ihr doch eigentlich gar nicht gehört, für eine hübsche Summe dem schurkischen Verführer Naoum abzutreten. Akim macht nur noch einen vergeblichen Versuch, sich an dem Räuber seiner Ehre und seines Guts zu rächen; dann aber ergibt er sich in sein Schicksal, scheidet sich von seinem elenden Weibe und durchzieht jahraus, jahrein ganz Russland von einem Ende zum andern als büßender Pilger. Kommt er durch seinen früheren Wohnort, so versäumt er nie T der gnädigen Herrin in alter Ehrfurcht aufzuwarten und ihr ein geweihtes Brot zu überreichen. — Von einer Sühnung und Versöhnung weiß der Dichter nichts; er lässt die Edelfrau behaglich und mit sich zufrieden fortleben, und den hartgesottenen Schurken Naoum immer wohlhabender und endlich zum steinreichen Mann werden. Es klingt gezwungen und trivial, wenn er am Schlüsse bloß bemerkt: „Schon stärkere Säulen sind eingestürzt, und der bösen Tat folgt früher oder später ein böses Ende". Jede wahre Dichtung ist eine vollständige Welt für sich, sie hat ihren eigenen Himmel und ihre eigene Hölle, und bringt Alles zum Austrag, führt Alles zum befriedigenden Ende. Das ist ja eben mit die Aufgabe der Kunst, dass sie uns von den Schlacken des Alltagslebens befreie, alle Rätsel löse, alle Lücken ergänze, dass sie den heiligen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung aufdecke, und Lohn und Strafe nicht in ein Jenseits verweise. Freilich hatte Turgeniew sich eine andere Aufgabe gestellt, nämlich die, darzutun, dass es unter der Leibeigenschaft keinerlei Recht und Gerechtigkeit geben könne, sondern dass sie naturgemäß das intellektuelle und sittliche Chaos sei.

Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft war die Mission, welche der Dichter auf sich genommen, erledigt, und er hatte sich nunmehr nach anderen Zielen umzusehen. Fortan ist es der Salon, die aristokratische Gesellschaft, gegen welche er sein Geschoss richtet; fortan handelt es sich entweder um die Auswüchse der vornehmen Welt oder um psychologische Probleme. Mit dem Betreten des Salons, mit der Vorführung von Kultur und Bildung — oder hier eigentlich, von Halbkultur und Halbbildung — geht viel poetische Frische und Kraft verloren, wird die Atmosphäre schwüler und beengender, tritt das Streben nach Effekten mehr hervor, arten gewisse Neigungen Turgeniews in „Manier" aus.

Fast scheint es zuweilen, als ob er um ein Thema verlegen gewesen sei: so absonderlich und gesucht nehmen sich die Stoffe mancher Novellen aus.

Eine der älteren heißt: „Drei Begegnungen" und ist so stark mit Romantik aller Art geschwängert, dass man die auftretenden Personen kaum erkennen kann, und bei der ganzen Geschichte sich eigentlich gar nichts zu denken vermag. Der Erzähler sieht eine junge schöne Dame zu drei verschiedenen Malen, an drei verschiedenen von einander durch große Entfernungen getrennten Orten, und jedes mal nur auf ein paar Augenblicke. Sie bemerkt ihn gar nicht, sie liebt einen Anderen und ist mit einem Anderen glücklich; und auch von dem Erzähler weiß man nicht, ob ihn wirkliche Liebe oder bloße Neugierde treibt, hinter die geheimnisvolle Erscheinung zu kommen. Endlich, als er mit ihr zum dritten Male zusammentrifft, weiß er ihr ein paar Worte zu entlocken, die zwar über ihre Geschicke eine Art von Aufklärung geben, ihre Person indes nach wie vor im Halbdunkel belassen. „Wie ein Traum zog sie vorüber und verschwand für immer", schließt der Erzähler; und „wie ein Traum" zieht auch seine Erzählung an uns vorüber. Der Dichter hat den Schleier, den er um die Unbekannte gebreitet, absichtlich nicht gelüftet, ob um das Interesse des Lesers zu reizen oder bloß um ihn zu foppen, mag dahingestellt bleiben.

Einen ebensowenig befriedigenden und dazu noch abstoßenden Eindruck macht die Novelle „Ein Briefwechsel". Alexei und sein Vetter unterhalten ein Liebesverhältnis mit zwei Schwestern, bis dann Jeder seine Geliebte wieder fahren lässt. Plötzlich wendet sich Alexei an Marie, die andere Schwester, welche früher seinem Vetter angehörte; und schlägt ihr einen Briefwechsel vor — zu welchem Zwecke ist nicht recht ersichtlich. Zuerst weigert sie sich, dann geht sie darauf ein, und es entspinnt sich zwischen diesen Beiden eine Korrespondenz, die immer lebhafter und vertraulicher wird, die Wahlverwandtschaft ihrer Seelen und Herzen mehr und mehr zu beiderseitigem Bewusstsein bringt. Marie meldet ihrem Freunde, dass sie zwei Anträge auf einmal erhalten habe, und bittet ihn um seinen Kath. Er antwortet, sie möge beide Anbeter laufen lassen, und kündigt ihr seinen Besuch an. Sie erwartet ihn mit großer Freude und Spannung, aber er kommt nicht. Sie schreibt an ihn verschiedene Male — er antwortet nicht mehr. Endlich, nachdem zwei Jahre darüber verflossen, erhält sie einen Brief aus Dresden, wo er auf den Tod krank liegt und ihr von seinem Sterbelager Folgendes mitteilt: Damals, schon im Begriffe abzureisen, sei er noch ins Theater gegangen, habe hier eine Tänzerin erblickt und für diese eine heftige Leidenschaft gefasst. Sie sei weder schön noch geistreich, eher dumm gewesen, sie habe sich um ihn gar nicht gekümmert, sondern nur sein Geld genommen, und sich mit ihrem Sekretär, einem kleinen habsüchtigen Italiener vergnügt. Trotzdem sei er ihr von Stadt zu Stadt, ins Ausland nachgelaufen, und habe sich um ihretwillen zu jedem Dienste, zu jeder Erniedrigung bequemt; zum Exempel, ihr den Shawl nachgetragen, ihr neue Handschuhe gekauft, und ihre alten schmutzigen Handschuhe mit Weißbrot gereinigt. Er habe ihr Geld, Ehre, Gesundheit geopfert, und Alles umsonst, Alles vergebens; wie ein Hund ist er ihr nachgelaufen, bis sie ihn wie einen Hund fortgestoßen und jenen Italiener geheiratet hat. Das Alles schreibt Alexei seiner Freundin Marie, der er jetzt versichert, dass „sie ihm immer teuer geblieben sei", und dass ihr Bild ihn noch in der Todesstunde umschwebe und erquicke. — Wir fragen nun: kann dieser Wicht ein anderes Gefühl als Verachtung und Ekel einflössen; kann diese Geschichte überhaupt ein Interesse, sei es auch nur ein pathologisches, erregen? In der Tat scheint sie nur geschrieben zu sein, um eine neue Definition der Liebe an den Mann zu bringen. Alexei meint nämlich: „die Liebe sei überhaupt kein Gefühl, sondern nur eine Krankheit"; und erklärt dann weiter: „In der Liebe gibt es keine Gleichheit, keine sogenannte freie Vereinigung der Seelen und der übrigen von deutschen Professoren in ihren Mußestunden erdachten Abstraktionen Nein, in der Liebe ist die eine Person — Sklave, die andere — Herr".

Liebe und Ehe sind die beiden Probleme, die Turgeniew hauptsächlich beschäftigen, denen er in seinen Novellen von den verschiedensten Seiten beizukommen sucht, und für die er doch nirgends eine befriedigende Lösung findet. Viele seiner Helden wissen selber nicht, ob sie wirklich lieben; sie wissen es besonders dann nicht mehr, wenn sie ihr Ziel erreicht haben; kaum im Besitz des Herzens, dem sie bisher so eifrig nachgejagt sind, werfen sie es schon wieder fort, und zwar nicht selten mit empörender Rohheit und Grausamkeit; nur Widerstand, Gleichgültigkeit und Abneigung, namentlich auch verbotene Früchte, vermögen sie zu reizen und zu fesseln; erst wenn sie durch eigene Schuld die Geliebte für immer verloren haben, erkennen sie plötzlich ihren Wert und ersehnen sie mit aller Macht und Verzweiflung zurück.

Ein Liebhaber dieses Schlages stellt sich u. A. dar in der Erzählung „Assja“, die unter reisenden Russen am Rhein spielt, und den Zauber der Rheinufer mit bewunderungswürdiger Treue wiederspiegelt. — „Bin ich in sie verliebt?" „Sollte sie mich lieben?" fragt sich der russische Gentleman verschiedentlich, wiewohl er beständig hinter Assja herläuft, und das unschuldige Kind ihm bereits die unzweideutigsten Beweise ihrer Gunst und ihres Herzenszustandes gegeben hat. Und als sie nicht länger an sich halten kann, als sie sich entschließt, selber den ersten Schritt zu tun, und ihm mit der holdesten Hingebung in die Arme sinkt: da zeigt er sich in der jämmerlichsten, schimpflichsten Weise und erdrückt sie mit den rohesten Vorwürfen, bis sie sich aufrafft und davonstürzt. Jetzt fühlt er plötzlich, dass er sie liebt, innig und zärtlich liebt, aber obgleich sich noch einmal die Gelegenheit bietet, Alles wieder gut zu machen, so zögert er doch wieder und versäumt es für immer. Am andern Morgen erfährt er, dass sie mit ihrem Bruder abgereist ist; und nun setzt er ihr nach, verfolgt die Spur der Flüchtigen bis London: doch alle seine Nachforschungen bleiben vergebens. — Herr N., wie er sich nennt, erzählt seine Geschichte selber, und das tun auch noch viele andere Helden Turgeniews, die so dem Dichter den Vorteil bieten, ihr Denken, Wesen und Tun in der natürlichsten, bequemsten und überzeugendsten Weise zu enthüllen; aber andererseits nimmt sich dies ewige „Ich" als Mittelpunkt so verschiedener Geschichten doch wieder etwas proteusartig aus , und macht einen Apparat von mancherlei Kunstgriffen und Zwischenpersonen nötig.

Es ist ferner auffällig, dass gerade die begabtesten herrlichsten Frauen, auch wenn sie unter mehreren Bewerbern die Auswahl haben, in der Regel dem Unwürdigsten sich zuwenden, und an ihm starr festhalten, wiewohl sie seinen Unwert sich nicht verbergen können. Beispiele dafür sind die schöne stolze Marie im „Antschar“, und die interessante energische Sophie in „Jakob Passinkow". Allerdings kann dieser Zug auch zu Gunsten des Weibes gedeutet werden, insofern er dessen edles, großmütiges Herz voll göttlicher Milde und Nachsicht, voll selbstloser Opferfreudigkeit kennzeichnet; aber bei Turgeniew soll er doch hauptsächlich beweisen, dass die Liebe eine Macht ist, die uns widerstandslos in Fesseln schlägt, der wir uns blindlings und trotz aller Protestationen der Vernunft unterwerfen müssen. Nur in der Erzählung „Der Renommist" statuiert der Dichter eine Ausnahme hiervon. Nachdem er sehr fein entwickelt, wie die Frauen sich häufig nur durch den Schimmer bestechen lassen, wie nichts sie mehr entflammen kann, als wirkliche oder auch nur angenommene Gleichgültigkeit und Zurückhaltung, lässt er Marien denn doch in der zwölften Stunde begreifen, was für ein Hohlkopf und Tölpel ihr spröder Kapitän Lutschkow ist, und Marien, vollständig abgekühlt, ihm den Laufpass geben. Dagegen lodert in der Novelle „Erste Liebe“ die ganze Glut stürmischer, rücksichtsloser Leidenschaft, und die nebenher laufende blöde Knabenliebe verleiht ihr ein um so brennenderes Kolorit. Mit Zorn und Schrecken fühlt die Prinzessin Sinaide ihr Herz einem Manne entgegenschlagen, der bereits einer Andern gehört; mit wahrem Hass betrachtet sie diesen Mann, dessen Blicke ihre jungfräuliche Unabhängigkeit bedrohen, bis sie dann sich ihm ergibt und nicht mehr von ihm lassen kann. Bei einem Streite versetzt er ihr einen scharfen Schlag mit der Reitgerte — sie sieht ihn zitternd an und küsst mit bebenden Lippen die blutrote Schramme. Dieser Peitschenhieb verrät die Bestialität, die noch in der Natur des russischen Adels steckt, in der Natur der Kavaliere wie der Damen. Denn nicht minder bestialisch wie der Mann, der sie mit der Reitpeitsche schlägt, ist das Weib, das in hündischer Unterwürfigkeit die blutige Strieme küsst. — Von durchweg widerlicher Wirkung ist die Geschichte „Die drei Portraits“, in welcher Leichtsinn und Sinnenrausch des Weibes ihren Triumph feiern.

In der ganzen modernen Literatur und Kunst tritt das Weib entschieden in den Vordergrund; nicht nur deshalb, w r eil es der Natur näher steht, weil es poetischer ist als der Mann, an und für sich dem Künstler einen dankbareren Stoff bietet ; sondern auch aus Gründen der Sinnlichkeit und Lüsternheit, die nun einmal unser Zeitalter beherrschen, bei jedem Kunstwerke heute den wirksamsten Köder bilden, und welche selbstverständlich mittelst des Weibes am bequemsten und erfolgreichsten in Scene gesetzt werden können. Auch in den Turgeniew'schen Dichtungen spielen Frauen und Mädchen die Hauptrolle, er hat weniger Helden als Heldinnen, und er erschöpft in ihrer Schilderung seine ganze Virtuosität. Er ist nicht lüstern im Sinne seiner französischen Vorbilder, wohl aber sinnlich, sinnlich mit Bewusstsein und Absicht. Er stattet seine Frauen mit allen Vorzügen des Leibes, des Geistes und des Temperaments aus; er malt Frauenschönheit und Frauenreize, gewisse Situationen und Aventuren mit Kennermiene und Behagen, und indem er darüber einen verführerischen Schmelz ausgießt. Einfache edle Schönheit, einfache echte Weiblichkeit findet sich unter seinen Frauen verhältnismäßig selten; er liebt komplizierte, gewissermaßen unbestimmbare Schönheiten, oft mit einem Beigeschmack des Katzen- oder Schlangenartigen, Spuk- oder Zigeunerhaften; er liebt heißblütige unbändige Naturen, Frauen von Temperament und „Rasse", von ungewöhnlichem, unberechenbarem Wesen und verzehrender rücksichtsloser Leidenschaft. Demzufolge sind auch ganz reine, ungebrochene Frauen bei ihm nicht häufig, die meisten fallen oder werden in der Blüte geknickt.

Unter den Novellen, welche sich mit dem Problem der Liebe und Ehe beschäftigen, ist die Perle „Faust". Allerdings muss man ein paar Unwahrscheinlichkeiten mit in den Kauf nehmen. Wera, eine sonst nach ihrem Stande erzogene Edeldame, hat bis zum 28. Jahre keinen Roman, kein poetisches Werk gelesen. Die Mutter hatte es ihr ohne Angabe von Gründen untersagt; als die Tochter heiratete, zwar das Verbot zurückgenommen, aber auch später verspürte Wera kein Verlangen, es mit einer solchen Lektüre zu versuchen. Da tritt Paul Alexandritsch in ihr Haus. Er hat sie schon als sechszehnjähriges Mädchen gekannt, sich damals in sie verliebt, und weil er zu merken glaubte, dass er ihr nicht gleichgültig wäre, bei der Mutter um ihre Hand angehalten. In jedem andern Hause würde er kein unerwünschter Freier gewesen sein, doch Frau von Elzoff wies ihn, wieder ohne dass sie einen Grund dafür angab, zurück. „Nein, mein Freund", hatte sie ihm geantwortet, „Sie sind recht brav, aber der Mann für meine Tochter sind Sie nicht". Und Paul hatte ihr „im Grunde seines Herzens sofort Recht gegeben", und sich um Wera nicht weiter gekümmert. Nun, nach zwölf Jahren findet er sie wieder, wo sie in ruhiger Ehe lebt und bereits Mutter von drei Kindern ist. Es entspinnt sich zwischen ihnen ein nachbarlicher Verkehr; er beschließt, ihr Geschmack an der schönen Literatur beizubringen und wählt zu diesem Zwecke den Goethe'schen „Faust", den er an einem Sommerabende ihr vorliest. Die Wirkung ist bei Wera eine tieferschütternde und sehr folgenschwere; sie lässt sich von Paul das Buch geben und kann es in der nächsten Zeit kaum aus der Hand lassen ; es macht sie fast krank, und sie wird nicht müde, mit ihrem Freunde davon zu sprechen. Mit der Dichtung zieht zugleich die Liebe in ihr Herz ein, sie liebt Paul und bekennt es ihm. Dass die Frau sich zuerst erklärt, ist bei Turgeniew kein ungewöhnlicher Fall. — „Was haben Sie aus mir gemacht!" sagt sie ihm eines Tages. — „Wissen Sie denn, ich liebe Sie!" — Dieser Erklärung folgt ein einziges Rendezvous, ein einziger Kuss. Dann interveniert die verstorbene Mutter, die Wera aus Pauls Armen scheucht und sie zurückhält, als sie noch einmal den Geliebten aufsuchen will. Ein hitziges Fieber wirft Wera aufs Sterbebett, und als Paul sich ihr nähern will, ruft sie mit Schrecken und Grauen die Worte Gretchens: „Was will der an dem heiligen Ort? Er will mich!" — Wera stirbt, denn „Frau von Elzoff hat eifersüchtig ihre Tochter bewacht, sie behütet bis ans Ende, und beim ersten unvorsichtigen Schritte sie zu sich ins Grab genommen". —

Die Geschichte zeigt, welch gewaltigen Eindruck der Goethe'sche Faust auf Turgeniew selber geübt; und sie lässt unschwer erkennen, dass er sie eigens erfunden, um darzutun, von welch verhängnisvoller Wirkung jene Dichtung auf ein reines unerfahrenes Frauenherz sein könne; auf ein Herz, das zu lieben bereit ist, und in dem vielleicht die Liebe halb unbewusst schon schlummert, Auch jeder anderen jungen Frau würde ein Mann, der mit ihr schöne Literatur treibt, immer etwas gefährlich werden ; aber bei Wera ist es der Geliebte ihrer Jugend, der sie in die Hallen der Poesie einführt, den sie wahrscheinlich nie ganz vergessen hat, und der nun mit jenem Hohenlied der Liebe ihr ganzes Wesen und Sein gefangen nimmt. Diese Wera ist wohl die herrlichste vollendetste Frauengestalt, die Turgeniew geschaffen hat, von einem keuschen Zauber und einer keuschen Hoheit, die sie an die Spitze ihres Geschlechts stellt ; auch noch irrend und fehlend, und bis zum letzten Augenblicke keusch und erhaben.

Wenn Turgeniew etwas Erhabenes parodieren will; um seinem Helden eine Folie zu geben, irgend eine lächerliche Figur braucht — dann wählt er sicher einen Deutschen. Im „Faust" ist es Herr Schimmel, den der Dichter zwischen die beiden Liebenden stellt und mit folgenden Worten einführt: „Ein alter Deutscher in kurzschossigem, zimmtfarbenem Frack, sauber rasiert, bescheidenen rechtschaffenen Aussehens, mit treuherzigem Lächeln und zahnlosem Munde. Dieser wackere Deutsche verbreitete einen starken Cichoriengeruch um sich — der unvermeidliche Geruch aller alten Deutschen". — Auch Herr Schimmel und Priemkow, Wera's Gemahl, wohnen der Vorlesung bei. Während Letzterer sich herzlich langweilt, die junge Frau in stummer Erschütterung dasitzt, ist Herr Schimmel der Einzige, welcher seiner Empfindung Luft macht: „Wunderbar! Erhaben!" wiederholt er, und fügt manchmal hinzu: „Aber das ist ein wenig stark!" Es scheint also, als ob der Deutsche, wenngleich ein Mann von akademischer Bildung, den Goethe'schen „ Faust " jetzt zum ersten Male kennen lernt. Aber daran noch nicht genug! Nachdem die Vorlesung beendigt, und Wera, um ihre Aufregung zu verbergen, ins Haus gegangen ist, bemerkt ihr gleichfalls tiefbewegter Freund: „ — Ich blieb mit Herrn Schimmel auf der Terrasse. Der Alte hob seine Augen zum Himmel. Wie viel Sterne! murmelte er, und nahm eine Prise. — Und all' diese Sterne sind Welten für sich ! fügte er hinzu, indem er eine zweite Prise nahm". —

Die Novelle „Faust" ist in Briefen geschrieben, und diese sonst veraltete und im Ganzen geschmacklose Briefform erscheint hier von künstlerischer Berechtigung und ästhetischen Vorteilen. Jeder folgende Brief zeigt mit psychologischer Treue das Wachsen der Leidenschaft im Herzen des Erzählers, der sich darüber nicht klar werden mag, sondern einer naiven Selbsttäuschung sich hingibt. Der Freund, an den er seine Episteln richtet, hat ihn gewarnt; doch Paul Alexandritsch sucht ihn zu beruhigen, und kündigt im vorletzten Briefe ihm seine nahe Abreise an. Erst zwei Jahre später, als Alles vorbei und Wera schon längst im Grabe ruht, schreibt er ihm wieder, und berichtet mit noch nachblutendem Herzen den tragischen Ausgang.

Ein tragisches Ende, schroffe und schrille Ausgänge lässt Turgeniew aber auch da eintreten, wo es gar nicht nötig wäre. Er springt überhaupt mit dem Tode zu leicht um, es sterben zu viele bei ihm. Der Edle unterliegt und wird beseitigt, der Bösewicht, der Intrigant triumphiert und bleibt bestehen. Dank dem Pessimismus des Dichters, regiert der bloße launische Zufall, oder es müssen doch List und Macht siegen. Wenn zwei Herzen, die sich lieben, auch endlich vereinigt werdendennis: entweder sie passen dann plötzlich doch nicht für einander, leben höchst unglücklich, wie z. B. in der Erzählung „Die beiden Freunde 44 ; oder ein jähes Schicksal trennt sie wieder, zerstört mit einem Schlage ihr junges Glück, z.B. in der Novelle „Helene“, wo der Gatte schon auf der Hochzeitsreise stirbt und die Witwe mit seiner Leiche nun in die Ferne zieht. Ja, der Dichter lässt zuweilen, wie wir später in der Geschichte „Väter und Söhne“ sehen werden, seine Helden bloß deshalb sterben, weil er mit ihnen weiter nichts anzufangen weiß.

Wie die Novelle „Faust“ unter dem Eindruck der Goethe'schen Dichtung entstanden ist, so verdankt die Erzählung „Der Antschar" („Ein stilles Nest") ihren Ursprung einem gleichnamigen Gedichte von Puschkin; und sie verrät, dass auch wohl Turgeniew zuerst eine „Idee" aufstellt, und dann den Stoff dazu erfindet; dass er nicht immer gleich in Bildern denkt, sondern zunächst auch wohl eine bloße Abstraktion zieht, und sie erst hinterher in Fleisch und Blut umzuwandeln trachtet; bei welchem Verfahren denn freilich ein schlechterdings nicht aufgehender Rest bleibt.

Der Inhalt des „Antschar" ist einfach der, dass Marie, eine stolze strenge Steppenschönheit, einen hübschen Taugenichts, einen dem Weine ergebenen Bruder Liederlich, Namens Veretiew, liebt, und an dieser Leidenschaft zu Grunde geht. Sie liebt ihn wider Vernunft und fast wider Willen, sie kennt ihn als unverbesserlich, vermag aber nicht ihm zu entsagen; sie kann die Trennung von ihm, die bald darauf eintritt — man erfährt nicht, ob sie von ihm oder ihr ausgegangen ist — nicht ertragen und gibt sich (vielleicht auch um einen Fehltritt zu verbergen) den Tod.

Alles dies hat aber mit dem Puschkin'schen „Antschar" wenig oder gar nichts zu tun. Der Antschar ist ein Todesbaum, der vereinsamt in der Wüste wächst. Die giftigen Säfte, die er ausschwitzt, erkalten und verhärten sich Abends zu einem Harz. Kein Vogel wagt dem unheilvollen Baum zu nahen, alle Tiere fliehen ihn instinktmäßig; doch „der Mensch schickt den Menschen der Häuptling nämlich den Sklaven, damit dieser das giftige Harz für ihn sammle. Der Sklave gehorcht, weil er gehorchen muss; von dem Pesthauche des Baumes ergriffen, schleppt er sich zurück und bricht zu den Füssen des Gebieters sterbend zusammen. Der Häuptling aber taucht seine Pfeile in das giftige Harz und versendet damit Marter und Tod.

Es befremdet zunächst, dass das Puschkin'sche Gedicht in der Erzählung nur genannt, nicht seinem Wortlaut, nicht einmal seinem Inhalt nach wiedergegeben wird; man begreift nicht, wieso dieses Gedicht auf die spröde scheue Marie, die gleich der Wera im „Faust", sonst weder Poesien kennt noch liebt, einen so jähen tiefen Eindruck mache; man meint, der Dichter, der sonst so planvoll verfährt, habe sich hier einen Effekt entgehen oder gar eine Ungeschicktheit zu Schulden kommen lassen. Doch Turgeniew ist wohl auch in diesem Falle mit vollem Bewusstsein so verfahren. Er lässt Marien das Gedicht im nächtlichen Garten für sich allein, und dann noch einmal vor dem Geliebten rezitieren, ohne dass nach wie vor der Leser es kennen lernt. — Der tragische Vorgang soll sich zu der Pointe des „Antschar" zuspitzen. Der verdorbene Veretiew soll entweder der Häuptling sein, der seine Sklavin Marie in den Tod schickt, oder der Todesbaum selber, an welchem das unglückliche Mädchen sich vergiftet. Allein die Analogie ist doch eine zu gesuchte, eine nicht wenig gewaltsame; und weil der Verfasser dies wahrscheinlich auch fühlte, hat er wohl vermieden, das Gedicht selber vorzuführen.

Turgeniew liebt die Kontraste, und zwar möglichst scharfe Kontraste. Die Umgebung seiner Helden ist fast immer eine kleinliche, höchst unbedeutende; den tragischen Situationen pflegen komische oder gar bloß lächerliche Szenen unmittelbar voranzugehen oder auf dem Fuße nachzufolgen; dicht neben dem wahrhaft Erhabenen laufen die Torheiten und Nichtigkeiten des Alltagslebens, und sie werden mit vielem Behagen und großer Ausführlichkeit gezeichnet. Darin aber besteht wesentlich mit die so bestechende realistische Kunst des Dichters, die uns viele seiner Kaprizen und Phantastereien gar nicht merken oder darüber doch leicht hinwegsehen lässt. — Neben der tief und glühend empfindenden Marie, die nur von Einem Gedanken und Einem Gefühle beherrscht wird, steht ihr harmloser Schwager Ipatow, ihre wie ein schillernder Falter umhergaukelnde Freundin Nadeschda, der nüchterne „positive" kaltsinnige Astachow, die „Taschenseele" Bodrjakow, und Jegor Kapitonitsch , der Mann seiner Frau. Die erschütternde Haupthandlung begleiten und durchziehen die drolligsten Possen, Schnurren und Anekdoten. Man ergötzt und belustigt sich daran, während das tragische Gewitter sich schon zusammenzieht, während man den Ausbruch dieses Gewitters bereits ahnt und in beklommener Stimmung erwartet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,