Turgeniews Novellen (Fortsetzung)

Charakter-Tragödien („Rudin", „Helene", „Tagebuch eines Überflüssigen"). Experimente („Visionen").

Von allen jenen Liebesaffären und Liebestragödien unterscheidet sich wesentlich die Novelle „Rudin". Ein paar Liebesverhältnisse spielen auch hier herein, aber das Problem, um welches es sich handelt, betrifft nicht Liebe und Ehe insbesondere und ausschließlich, sondern das Leben überhaupt, die individuelle Stellung zum Leben und den individuellen Kampf mit dem Leben. Es handelt sich hier um die Beschaffenheit und den Werth eines gewissen Charakters, der mit die Signatur unserer Zeit bildet; um den tragischen Widerspruch, den unlöslichen Konflikt zwischen Wollen und Können, Reden und Tun. Rudin ist zwar ein Russe, und er konnte vorzugsweise auf dem Boden des jungen Russland erwachsen, aber die Rudins sind über die ganze zivilisierte Welt verbreitet, und sie spielten namentlich auch in Deutschland bis vor Kurzem eine tonangebende Rolle, sowohl in unserer Literatur, wie in unserm öffentlichen Leben. — Rudin ist ein Mann von Geist und entschiedener Begabung; obwohl ohne tiefere Bildung, ohne gründliche Kenntnisse, weiß er doch über Alles zu sprechen, und er spricht über Alles mit Geschmack und Eleganz. Er besticht durch seine Schönrednerei namentlich die Frauen; junge natürliche Frauen und alte affektierte Weiber, die beide, ohne ihn zu verstehen, ihm mit Entzücken lauschen; und seine Phrasen üben selbst auf idealistisch angelegte Männer großen Eindruck. Er hat die besten Gesinnungen und Vorsätze, er ist vollgepfropft mit weitaussehenden Plänen, aber wenn es zur Ausführung , zum Handeln kommen soll, zeigt er sich träge und kleinmütig, macht er sich durch Hin- und Herschwanken und Halbheiten lächerlich. Er ist uneigennützig und dienstbeflissen, aber er vermag weder sich noch Anderen zu helfen; er ist zu geneigt, sich in fremde Angelegenheiten zu mischen, und richtet durch seine Einmischung und sein Geschwätz allerhand Unheil an; er gerät fortwährend in schiefe Stellungen und gibt sich zu mancherlei Erniedrigungen her; er versteht es nicht, sich in die Verhältnisse zu schicken, die Umstände zu benutzen, er kann nur über sie philosophieren, und kommt aus dem Philosophieren nicht heraus. So zersplittert, vergeudet er seine Kräfte und erreicht mit all' seinen Gaben und Talenten Nichts, sondern geht einsam und verlassen, gebrochen und sich selber verspottend zu Grunde. — Die Entwicklung dieses inkommensurablen Charakters ist dem Dichter übrigens nicht ganz gelungen; namentlich wird der Übergang von seiner scheinbaren Hoheit zu seiner wirklichen Gehaltlosigkeit, der Umschlag in der Meinung seiner ursprünglichen Verehrer und Bewunderer nicht genug vermittelt. Noch weniger gelungen ist der Versuch, den Charakter Rudins gewissermaßen zu rehabilitieren; die Begründung, dass auch ein solcher Charakter nicht ohne allen Nutzen für die Welt sei, und dass er weniger auf Selbstverschuldung beruhe, als er ein Unglück, ein Verhängnis in sich schließe, wofür teilweise die Zeit und das mitlebende Geschlecht verantwortlich gemacht werden müsse. Sogar die schließliche Selbsterkenntnis und Selbstverurteilung Rudins ist doch nur eine halbe, und durch die bittere äußerliche Not abgezwungen. Während er vor dem Jugendfreunde sein verfehltes Leben entrollt und die Phrase verdammt, deklamiert er noch; und mit der Phrase auf den Lippen, die Phrase in Person, fällt er auf den Barrikaden zu Paris, im nutzlosen Kampfe für die Sache eines fremden Volkes, noch kämpfend und den Tod herausfordernd, während alle Andern bereits geflohen sind.


Um den Worthelden Rudin gruppieren sich der gallige Zyniker Pigassow, der ehrliche Enthusiast Bassistow, der zierliche Tafellecker Pandalewski, der wackere Sonderling Leschnew und der einfache gradsinnige Wolinzow: lauter Figuren, die auch wenig Spezifisch Russisches haben. Sehr anziehend sind die beiden jungen Prauen Natalie und Alexandra gehalten , die mit einander um den Preis ringen: die edle hochherzige Natalie, die Rudin liebt, weil sie ihn bewundert, und als sie ihn in seiner wahren Gestalt erkennt, ihre Liebe mit festen Händen aus dem blutenden Herzen reißt; und die ruhige besonnene Alexandra, die Rudin zwar anstaunt, aber in seiner Gegenwart sich nur eingeschüchtert fühlt, und nicht daran denkt, ihr Herz an ihn zu verlieren, sondern es klug für ihren alten soliden Anbeter Leschnew aufspart. Ganz besonders zu rühmen ist noch die Kunst des Dichters, mit welcher er gewisse Klippen zu umgehen, gewisse Schwierigkeiten zu lösen weiß. Sowohl in der Novelle „Rudin" wie in der Erzählung „Väter und Söhne" ist die eigentliche Handlung unbedeutend; die Charakteristik und Entwickelung der Helden wird in beiden Dichtungen hauptsächlich durch Gespräche, durch lange Debatten über Wissenschaft und Leben gegeben. "Während solche philosophische Auseinandersetzungen nun bei deutschen Dichtern oft bis zur Verzweiflung trist und doktrinär zu sein pflegen, sich häufig nur wie ein gelehrter Ballast ausnehmen, versteht es Turgeniew, sie so geschickt und wirkungsvoll einzuflechten, sie so einladend zu gestalten und so pikant zu würzen, dass sie auch dem minder gebildeten Leser wie von selbst eingehen, und ihm außer Beschwerden nur Genuss bereiten.

Die Hauptrolle in den Turgeniew’schen Dichtungen fällt, wie schon gesagt, den Frauen zu; in den meisten seiner Novellen sind die Helden — junge Frauen oder Mädchen. Die Männer verhalten sich bei ihm mehr passiv als aktiv; sie sind fast alle weich und schlaff, einige sogar weichlich und etwas weibisch; es gebricht ihrem Wesen und Tun an Mark und Kraft, an Energie und Halt. Was dem Mann als solchem fehlt, verleiht der Dichter gern dem Weibe, ohne aber deshalb aus ihm entfernt ein Mannweib zu machen, ohne ihm irgendwie den Reiz und Zauber echter Weiblichkeit zu nehmen. Ist zum Beispiel Rudin der Ritter vom bloßen Wort, die verkörperte Charakterlosigkeit, so besitzt die ihm gegenübergestellte erst siebzehnjährige Natalie einen fest ausgeprägten Charakter; sie weiß genau, was sie will, und sie handelt, wie sie nach Lage der Dinge handeln muss; ohne Zagen und Zaudern und mit klarem Bewusstsein.

Gewissermaßen eine neue Auflage dieser Natalie, mit der sie auch einige Familienähnlichkeit hat, ist nun die Heldin der Novelle „Helene" („Am Vorabend"). Wie Natalie ist auch Helene eine verschlossene heimliche, viel für sich allein lebende Frauen -Natur, ihrer Umgebung fremd und unverständlich, ihr entwachsen und nicht wenig überlegen. Noch hat ihr Herz die Liebe nicht berührt, aber sie ist bereit, sich mit ganzer Seele ihr hinzugeben, und sie sieht ihr voll Ahnung und Erwartung entgegen. Sowohl Schubin, der geniale leichtblütige Bildhauer, wie Berssenjew, der rechtschaffene linkische Philosoph, beide hätten sie gewinnen können; aber beide lassen die ihnen günstige Gelegenheit sich entschlüpfen; und Berssenjew selber führt ihr, indem er fast voraussieht, was da kommen wird, in einem Bekannten den Geliebten zu; und macht später, wiewohl die Eifersucht ihn verzehrt, zwischen ihr und seinem Nebenbuhler den Liebesboten.

Helene ist ein so reichbegabtes herrliches Wesen, dass ihr nur ein ganzer Mann genügen kann, dass nach einer Äußerung des „erhitzten" Künstlers Schubin, eigentlich im ganzen großen Russland Niemand ihrer wert ist. Deshalb erwählt ihr Herz sich auch einen Bulgaren: Inssarow, der sich Studierens halber in Moskau aufhält. Diesen Inssarow hat der Dichter augenscheinlich als ein Musterbild echter Männlichkeit, als einen „Helden", wie ihn der gleichfalls nicht wenig eifersüchtige Schubin , halb im Scherz , halb im Ernst nennt, Einstellen wollen; aber es ist ihm nicht sonderlich gelungen, wie mannigfaltig und reich er auch die Farben mischt. Inssarow ist ein ernster, sehr ernster frühgereifter Charakter — aber auch noch nichts mehr; als fünfundzwanzig jähriger Jüngling und Student kann er sich nur durch sein Wollen und Streben auszeichnen, wogegen er wirkliche Taten noch nicht aufzuweisen hat. Zwar seine Tätigkeit ist nach Art der Jugend eine sehr gehäufte und etwas vielgeschäftige: „Er studiert russische Geschichte, Rechtswissenschaft, politische Ökonomie, übersetzt bulgarische Lieder und Chroniken, sammelt Material über die morgenländische Frage, schreibt eine russische Grammatik für Bulgaren und eine bulgarische für Russen". Daneben schlichtet er noch Streitigkeiten zwischen armen Landsleuten, und stellt einem angetrunkenen zudringlichen Deutschen ein Bein. — Aber das Alles gibt noch lange keinen Helden, keinen Mann par excellence. Das fühlt auch der Dichter, und deshalb legt er dem jungen Bulgaren noch eine ganz besondere Eigenschaft bei: Inssarow will sein Vaterland befreien, er will es von dem Joche der Türken erretten. Aber einstweilen will er es nur (sogar das Wie? und Wo? ist etwas unklar); und Schubin äußert daher ganz richtig: „Ich will gern glauben, dass er (Inssarow) ein ganzer Kerl ist, dass er für sich einstehen wird; obschon er bis jetzt dasselbe, was Unsereiner geleistet hat". Und es bleibt überhaupt beim Wollen, es kommt nicht zur Ausführung. Inssarow ist, wahrscheinlich in Folge seiner großen Pläne und Entwürfe, brustkrank; er speit bereits Blut, und er stirbt auf der Reise nach seinem Vaterland.

Diese Novelle enthält eine bedenkliche Szene; eine Szene, welche nicht bloß Sinnlichkeit, sondern ungesunde Sinnlichkeit atmet. Inssarow hat sich eben von einem schweren Krankenlager erhoben, nur mit gewaltsamer Anstrengung erhoben, noch ist er matt und siech, noch ganz entkräftet und hinfällig; da besucht ihn auf seinem Zimmer die Geliebte. Sie hat ihre Sehnsucht, ihn zu sehen, nicht länger zügeln können, sie hat ihn von ihrem Kommen benachrichtigt, und sie ist, ob seiner Errettung aus den Krallen des Todes, nun ganz Glück und Dankbarkeit. So sitzt sie neben ihm, an seine Schulter geschmiegt und ist bemüht, ihn zu unterhalten; ist zärtlich besorgt, dass er sich nur ja nicht aufrege und angreife. — Plötzlich richtet er sich empor.
— Helene, sagte er in einem eigentümlich scharfen Tone; verlass mich, gehe fort!
— Wie? fragte sie erstaunt. — Fühlst Du Dich schlecht? setzte sie ängstlich hinzu.
— Nein . . . ich fahle mich wohl . . . aber ich bitte Dich, verlass mich!
— Ich verstehe Dich nicht. — Du treibst mich fort?
— Helene, sprach er . . . ich liebe Dich, Du weißt es . . . ich bin bereit, mein Leben für Dich hinzugeben . . . warum bist Du aber jetzt zu mir gekommen; jetzt, da ich schwach, mich selbst zu beherrschen nicht im Stande bin , und all mein Blut in Wallung ist . . . Du bist mein, sagst Du . . . Du liebst mich . . .
— Dmitri, rief sie, wurde rot und schmiegte sich noch fester an ihn.
— Helene, habe Mitleid mit mir . . . gehe fort, ich fühle, ich kann sterben . . . ich kann diesem Drange nicht widerstehen . . . meine ganze Seele strebt Dir entgegen . . . denke nur, fast hätte der Tod uns getrennt . . . und jetzt bist Du hier, in meinen Armen . . . Helene . . .
Sie bebte am ganzen Leibe.
— So nimm mich hin, flüsterte sie kaum hörbar. — — —

Wenn ein Liebespaar im Vollgefühl des Lebens und im Drange der Lebenskraft, hingerissen und überrascht von der Leidenschaft, die in Beiden gleich stark und gleich sehr erregt ist; wenn es gewissermaßen trunken und bewusstlos, der Versuchung anheimfällt, dem Augenblick unterliegt — so ist das begreiflich, weil natürlich ; so kann dies, wofür wir mancherlei Proben besitzen, auch in einer Dichtung von unzweifelhafter Berechtigung und von hochpoetischer vollkommen befriedigender Wirkung sein. Hier dagegen ist ein Patient, in dem der Besuch der keuschen unschuldigen Geliebten, anstatt seine Seele zu sänftigen und zu erquicken, eine Art von Brunst hervorruft, der sein physischer Zustand doch eigentlich widerspricht; hier haben wir ein Mädchen, das wiewohl sie von ganz anderen Gefühlen erfüllt ist, sich doch dieser Brunst, die sie erst allmählich errät, ohne jegliches Widerstreben preisgibt. Dieser Vorgang ist eben so unschön wie unnatürlich, und seine Schilderung kann selbst die Sinne nicht reizen, sondern nur verstimmen und verletzen. Dazu kommt noch, dass diese „Hingebung" auch nicht einmal durch den Verlauf der Geschichte irgendwie gerechtfertigt wird. Man sollte erwarten, dass nun die Trennung der Liebenden eintritt — aber nein! Sie lassen sich kurz darauf heimlich trauen, und sie werden von Helenens Eltern nach geringen Schwierigkeiten zu Gnaden angenommen.

Über die „Idee" der Novelle, über die „Moral" der Geschichte bleiben Zweifel. Liegt eine tragische Schuld vor, der Inssarows junges Leben zur Sühne fällt? — Er wie Helene haben diesen Gedanken. Bei jenem Besuche der Geliebten auf seinem Zimmer, wenige Minuten bevor sie sich ihm „hingibt", fragt er sie: „Sollte diese Krankheit als Strafe über uns verhängt worden sein?" Und als sie später in Venedig ihn langsam sterben sieht, ist sie es, die da fragt: „Wenn's aber eine Strafe wäre , wir jetzt vollen Ersatz zu leisten hätten für unsre Schuld? — Gott, haben wir uns. denn so sehr vergangen! Wolltest Du uns dafür strafen, dass wir einander geliebt haben?!" — — — Der Dichter beantwortet diese Fragen nur ausweichend, indem er sich also vernehmen lässt: „Helene wusste nicht, dass das Glück jedes Menschen im Unglück Anderer begründet ist; dass sein Vorteil, sein Behagen, gleich wie die Statue eines Piedestals, des Nachteils und des Unbehagens Anderer bedürfen". — Nebenbei bemerkt, eine pessimistische Auffassung, deren Unwahrheit in die Augen springt. Gewisse Glücksfälle mögen uns allerdings nur auf Kosten Dritter widerfahren können; dagegen ist das Glück überhaupt, das echte reine Glück entweder gar nicht egoistischer Natur, sondern es besteht gerade in der Befriedigung an dem Wohlergehen Anderer; oder aber es braucht doch, auch wenn es uns selber und nur uns allein betrifft, deshalb Niemanden zu schädigen oder zu verletzen; bei unsern Nebenmenschen, soweit diese vernünftig und moralisch, nicht geistig verschroben oder sittlich verwahrlost sind, keinerlei Neid und Missgunst zu erwecken. — Als dann Inssarow gestorben ist, und Helene in starrem Schmerz vor seiner Leiche sitzt, wird die Frage nach der Schuld plötzlich auf ein anderes Gebiet hinübergespielt, oder doch sehr Verallgemeinert; heißt es in demselben düstern krankhaften Sinne: „Jeder von uns ist schon dadurch schuldbelastet, dass er lebt; und es gibt keinen noch so bedeutenden Denker, keinen noch so großen Wohltäter der Menschheit, der durch den Nutzen, den er stiftet, Anspruch erheben dürfte, auf das Recht zu s ein . . ." — Hier wäre etwas weniger Geistreichigkeit und etwas mehr „deutsche Philosophie", nämlich logische Konsequenz, zu wünschen gewesen. So findet der Dichter selber nicht oder er gibt doch nicht eine bestimmte Antwort.

Statt dessen versucht er, wie dem „Rudin", auch dieser Geschichte, in der sich doch nur ein individuelles Geschick vollzieht, gewissermaßen eine national-politische Bedeutung zu verleihen. Wenn Schubin erklärt, dass eigentlich kein Mann in ganz Russland Helenen's wert sei; wenn er ausruft: „Nein, so es unter uns gescheidte Leute gäbe, wäre dies Mädchen nicht von uns gegangen; diese empfängliche Seele wäre nicht, wie ein Fisch im Wasser, entschlüpft. Wann wird die Reihe an uns kommen? Wann werden bei uns die rechten Leute erscheinen" — wenn Schubin so spricht, werden wir das zunächst für nichts mehr als für die Übertreibungen eines Verliebten nehmen. Doch wie es scheint, soll dies Alles für bare Münze gelten, soll für Helenen's tragisches Geschick in der Tat Jung-Russland verantwortlich gemacht werden. Die Erzählung: schließt mit einem Briefe, den Schubin von Rom aus an seinen dicken phlegmatischen Freund war Iwanowitsch in die Heimat richtet; und in diesem Briefe fragt er, anknüpfend an die arme verschollene Helene, wie vor Jahren, so jetzt wieder: „Ob wohl einmal bei uns die rechten Leute erstehen werden? Schwarzerdenkraft! Was glauben Sie, Uwar Iwanowitsch, werden sie kommen?" — — — Welcher Gedanke den Dichter hier leitet, ist natürlich unschwer zu erraten. Nach seiner Meinung ist ein Mann wie der junge Bulgare, dessen Seele ganz von der Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit erfüllt wird, in Russland selber heute nicht zu finden, vielleicht kaum zu erwarten; und hauptsächlich deshalb gibt ihm auch Helene vor allen andern Bewerbern sofort den Vorzug, gibt sie sich ihm mit leidenschaftlicher Rücksichtslosigkeit zum Eigentum hin. — Allein diese schließliche Wendung ist, wie gesagt, weder in der Erzählung selber begründet, noch dünkt sie uns überhaupt berechtigt.

„Helene", wiewohl eine etwas phantastische Geschichte — was die realistische Kunst des Dichters nicht ganz zu verbergen vermag — ist doch neben „Faust" die bedeutendste und eine der weitangelegtesten Novellen Turgeniew's; sie enthält durchweg hochinteressante Charaktere und Szenen; und sie ist im Ganzen genommen, von großer, für den ersten Eindruck geradezu blendender Schönheit. Zu erwähnen bleibt noch, dass hier nicht weniger als drei Deutsche auftreten, und dass allen Dreien wieder eine wenig beneidenswerte Rolle zugeteilt ist. Augustine Christianowna , eine Art von Maitresse des Ehemanns Stachow, den sie nach Noten plündert und brandschatzt, ist eine Witwe „deutscher Abkunft". Die „flache alberne kleinliche süßliche" Zoe, eine geborene Müller, von der sich die herrliche Helene um so herrlicher abhebt, ist eine Deutsche. Und der angetrunkene „Offizier", der die Damen bei einem Ausfluge belästigt, ist gleichfalls ein Deutscher; wahrscheinlich, weil der Dichter eine solche Figur unter seinen Landsleuten, wo bekanntlich das Laster der Trunksucht ganz unerhört ist, beim besten Willen nicht aufzutreiben vermochte.

Eine Art Charaktertragödie, wie „Rudin" und „Helene", aber von krankhafter Sentimentalität, eine pathologische Studie ist das „Tagebuch eines Überflüssigen". Schon der Titel sagt Alles. Der angebliche Verfasser dieser Memoiren — sein Name ist Tschulkaturin — hält sich für überflüssig in der Welt; er hat sich stets und überall für zu viel, ohne Ursache und Zweck gefunden; er ist nie an seiner richtigen Stelle, sondern immer nur im Wege gewesen , und selbst da , wo sich ihm Aussichten boten, wo er am Ende doch noch hätte glücklich werden können, regelmäßig zu spät gekommen. Erst dreißig Jahre alt, fühlt er, dass er schon sterben muss, aber er sieht dem Tode mit Ruhe, ja mit Genugtuung entgegen. Er weiß, dass ihm kaum noch vierzehn Tage beschieden sind, und er benutzt sie, um sein Leben zu erzählen. Er beginnt am 20. März, schreibt jeden Tag ein paar Seiten, ist am 1. April mit seiner Arbeit fertig, und stirbt dann in der nächsten Nacht, mit einer erstaunlichen Pünktlichkeit. Er hat freilich nicht sein ganzes Leben, sondern nur ein paar Bruchstücke aus demselben, die Eindrücke seiner Kindheit und hauptsächlich eine Liebes-Episode geschildert; was aber für seinen Zweck auch vollkommen ausreicht und genügend beweist, wie erfinderisch er gewesen, sich selber zu quälen, Alles zu verderben und Alles von der schlimmsten Seite zu nehmen. Störend ist nur der Zynismus, mit dem er von seinen eigenen Eltern spricht; und die fünf- bis sechsmal wiederkehrende Beteuerung, dass er einzig und allein für sich schreibe, keinen anderen Leser voraussetze und deshalb alle Kunstgriffe sentimentaler Romanschreiber verschmähe. Ohne diese Beteuerung, ohne mancherlei Kunstgriffe, die er tatsächlich aufwendet, und ohne die in der ganzen Anlage und Durchführung viel zu stark hervortretende Berechnung würde das „Tagebuch" sich natürlicher und glaubwürdiger anlassen.

Zu welchen Experimenten sich der Dichter versteigen, welch' absonderliche Vorwürfe er wählen kann, zeigt eine um 1863 erschienene Skizze, „Erscheinungen" benannt, welche in Russland wie im Auslande viel Aufsehen erregt hat, weil eben Niemand sie zu deuten, Niemand aus ihr etwas zu machen weiß. Erklärungen, eine immer tiefsinniger als die andere, sind allerdings versucht werden; allein gewiss nur zum heimlichen Ergötzen des Dichters, wiewohl er in einer Vorbemerkung ausdrücklich bittet: „in diesen Blättern keinerlei Allegorie oder versteckte Anspielungen zu suchen, sondern einfach darin eine Reihe von Bildern zu sehen, welche oberflächlich genug mit einander in Zusammenhang gebracht sind". In der Tat ist es weiter nichts als eine Phantasmagorie, ein romantischer Zauberspuk, den die Einbildungskraft des Dichters beschwört, und ein neuer glänzender Belag von der Virtuosität seiner Einbildungskraft. Ellis, ein weibliches Wesen aus Nebel und Mondschein gewebt und von halbzerflossener durchsichtiger Gestalt, besucht den Erzähler, erklärt ihm ihre Liebe t ladet ihn zu einem nächtlichen Rendezvous, nimmt ihn in ihre Arme und fährt mit ihm über Länder und Städte dahin. Sie trägt ihn nach Italien, zeigt ihm Cäsar und seine Legionen, sie macht mit ihm Luftreisen durch Russland, Deutschland und Frankreich, und setzt ihn, sobald der Morgen graut, wieder vor seiner Wohnung ab. Dreimal geschehen diese Zusammenkünfte; schon erwärmt das Gespenst an der Brust des Geliebten, schon gewinnt Ellis Fleisch und Blut, da stürzt sie, von einer andern Erscheinung verfolgt, mit ihm zur Erde herab, bricht in schmerzliche Klagen aus und verschwindet für immer.

Das Wunderbare und Geheimnisvolle, das Rätselhafte und Vieldeutige ist das Element, in welchem Turgeniew sich am liebsten bewegt; sowohl um seiner selbst willen, als weil er weiß, dass es ein besonderes Reizmittel für das große Publikum ist, und dass sich in Verbindung mit ihm bedeutende Effekte erzielen lassen. Deshalb ist er stets mehr geneigt, bloß anzudeuten als auszuführen, Rätsel aufzugeben als zu lösen; und er liebt es, gerade diejenigen Dinge, welche die größte Spannung hervorrufen, in einem gewissen Dunkel zu lassen. Er kommt auf die Sache zurück, indem er vorgibt, sie jetzt erklären zu wollen, und erklärt sie wirklich, aber nur teilweise, nur ein wenig mehr und von einer anderen Seite, keineswegs vollständig und befriedigend. Dadurch erreicht er, dass die Spannung des Lesers nicht nur bis zum Abschluss der Geschichte vorhält, sondern dass sie ihn auch noch hinterher zu beschäftigen fortfährt, dass sie ihn nicht loslässt und seine Phantasie und seinen Spürsinn immer wieder reizt und herausfordert. Zuweilen mag auch noch die Absicht unterlaufen, den Mangel an Handlung zu verbergen oder die eigene Verlegenheit zu bemänteln, insofern der Dichter eine Entwirrung und Auflösung überhaupt nicht zu geben vermag — in der Regel leitet ihn jedoch das entgegengesetzte Motiv. Denn Turgeniew ist ein sehr bewusster Künstler; er schreitet bei der Anlage und Ausführung seiner Werke außerordentlich überlegt und berechnend vor; auch wo er sich anscheinend ganz und gar gehen lässt, wo er plötzlich ausholt oder auf eine Sache zurückkommt, wo er sich gleichsam verbessert oder selber zurechtweist, verfolgt, er stets einen bestimmten Zweck. Er verfährt immer mit großem Raffinement, und es stehen ihm mancherlei Finessen zu Gebote, die sich nur etwas zu oft wiederholen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,