Iwan Turgeniew

Die Turgeniews sind eine alte Bojarenfamilie, deren Name schon zu den Zeiten des Pseudo-Demetrius und sonst mehrfach in der russischen Geschichte genannt wird. Dass sie in der Vorderreihe der bojarischen Fronde standen und zuerst eine volkstümliche Literatur anzubahnen versuchten, ist bereits erwähnt worden; und seitdem spielen sie in der russischen Literatur und Wissenschaft eine von Geschlecht zu Geschlecht gleichsam fortgeerbte Rolle. Besonderen Ruf haben sich erworben die Brüder Alexander und Nicolai Turgeniew. Alexander (1784 — 1845) war ein gelehrter Geschichts- und Altertumsforscher und ein intimer Freund von Puschkin, an dessen Sterbelager er stand und dessen Leiche er nach dem Swätogor'schen Kloster geleitete. Auch war er einer der Ersten, denen es gelang, Einsicht in die später von Herzen veröffentlichten Memoiren der Kaiserin Katharina II. zu erhalten und davon eine Abschrift zu nehmen. Sein jüngerer, erst ganz kürzlich verstorbener Bruder Nicolai, geb. 1790, studierte in Göttingen und ward 1813 dem Freiherrn v. Stein in der Verwaltung der Frankreich abgenommenen deutschen Provinzen als russischer Kommissarius beigegeben. Er stieg bis zum wirklichen Staatsrat auf, trat aber 1819 in den „Bund des öffentlichen Wohls", ward dadurch in die Verschwörung von 1825 verwickelt, und weil glücklicherweise schon im Ausland, in contumaciam zum Tode verurteilt; worauf er seinen dauernden Wohnsitz in Paris nahm und daselbst 1847 das dreibändige Werk „La Russie et les Russes" veröffentlichte.

Ein Verwandter dieser beiden Männer ist Iwan Turgeniew, geboren zu Orel am 9. November 1818 als der Sohn des im dortigen Gouvernement begüterten Obersten Sergino Turgeniew. Seine erste Erziehung erhielt er durch ausländische Hauslehrer, und den größten Teil seiner Jugend brachte er auf dem Lande zu.*) Von 1834 — 1838 studierte er zu Moskau und Petersburg, und dann noch zwei Jahre in Berlin, wo er während eines Winters Michael Bakunin zum Stubengefährten hatte, und im Übrigen eifrig Geschichte und Philosophie trieb. Die deutsche Philosophie und Hegel, so sehr sie ihn auch zuerst anzogen, scheinen ihm hinterher wenig Befriedigung gewährt zu haben: entweder macht er sich in seinen Dichtungen geradezu über sie lustig, oder er lässt gar einen verhaltenen Groll gegen sie durchblicken. Nach Petersburg zurückgekehrt, arbeitete er kurze Zeit im Ministerium des Innern, und verließ dann den Staatsdienst für immer, um sich ganz der Poesie zu widmen. Seine ersten Versuche, unter dem Einfluss Puschkins und Lermontows geschrieben, blieben unbeachtet, was ihn nicht wenig entmutigte. Erst die kleine Erzählung „Khor und Kalinitsch", welche 1846 in der von Belinski herausgegebenen Revue „Der Zeitgenosse" erschien, lenkte die Aufmerksamkeit auf Turgeniew, der bald darauf nach Paris ging, und dort während der nächsten Jahre den größten Teil der Skizzen „Aus dem Tagebuche eines Jägers" schrieb, die ihn mit Einem Schlage berühmt machten, an die Spitze der russischen Novellisten stellten. Obwohl durch und durch Tendenzstücke, blieb die lange Reihe dieser, alle im „Zeitgenossen" abgedruckten Skizzen merkwürdigerweise von der Zensur völlig unbeanstandet; die Zensur mochte in ihnen nur vortreffliche Landschaftsbilder und gelungene Schilderungen aus dem russischen Leben sehen; und als sie endlich bei Gelegenheit der 1852 erschienenen Buchausgabe ihr Versehen merkte, war es zu einem Verbote schon zu spät. Indes blieb die Rache nicht aus. Ein Artikel, welchen Turgeniew gleichzeitig über den eben verstorbenen Dichter Gogol veröffentlichte, musste der Regierung den Vorwand bieten, den Verfasser von „Aus dem Tagebuche eines Jägers" auf seine Güter zu verbannen. Nur auf eifriges Verwenden des damaligen Großfürsten Thronfolgers, jetzt regierenden Kaisers, erhielt Turgeniew nach zwei Jahren seine Freiheit wieder. Seitdem lebte er abwechselnd in Russland, Frankreich und Deutschland, bis er sich 1863 in Baden-Baden ansässig machte, wo er, wiewohl er unverheiratet blieb, im Tiergartental sich eine schlossartige Villa erbaute, und ein Mitglied des glänzenden Kreises ist, welchen seine nicht minder berühmten Nachbarn, das ihm eng befreundete Ehepaar Louis Viardot und Pauline Garcia, in ihrem gastlichen Hause versammeln. Den Skizzen „Aus dem Tagebuche eines Jägers " folgte eine lange Reihe von kleineren und größeren Novellen, die fast alle mehrfache Auflagen erfuhren und in verschiedene fremde Sprachen, namentlich ins Deutsche, Französische, Englische und Ungarische übersetzt wurden. Eine russische Gesamtausgabe der Dichtungen Turgeniews erscheint in Moskau.


*) Vgl. das Vorwort zu den „Erzählungen von Iwan Turgeniew. Deutsch von Fr. Bodenstedt." 2 Bde. München, 1864; und die Skizze „Iwan Turgeniew" von Eugen Laur in dem von Dohm und Rodenberg herausgegebenen „Salon" (Bd. III., Heft 5).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,