Die Romantiker und Nationalliberalen

Die Elemente der Romantik und Nationalität pflegen sich sonst abzustoßen; in der russischen Literatur dagegen sehen wir, wie sie gegenseitig sich anziehen und zeit- und teilweise sogar sich vermischen. Die russischen Romantiker waren ihrer politischen Gesinnung nach zugleich Liberale und Verfechter der Nationalität gegenüber dem das ganze Reich überflutenden und beherrschenden ausländischen Wesen. Seit der Gründung von Petersburg bestehen in Russland zwei Parteien: die Petersburger und die Moskowiter. Jene, auch die deutsche Partei genannt, war bis in die jüngste Zeit die allein herrschende, und stand immer auf Seiten der Regierung; wogegen diese die Opposition bildete. Die Moskowiter Partei vereinigte die Häupter der alten Adelsgeschlechter in bitterem Hass gegen die größtenteils aus Deutschen bestehende Hof- und Militärkamarilla, in der Vorliebe für nationale Gewohnheiten und Gebräuche, und in dem Verlangen, das altehrwürdige Moskau wieder als Metropole des heiligen Russland zu sehen. Für die Petersburger beginnt die russische Geschichte erst mit der Thronbesteigung des Hauses Romanow; während die Moskauer von diesem Zeitpunkt ab den Verfall der russischen Nationalität datieren, und die ganze Petersburger Regierungsperiode nur als eine Verirrung und als ein Interimisticum betrachten.

Schon unter Katharina II. begann sich dieser politische Gegensatz auch in der Literatur zu zeigen. Die Lopuchin, die Turgeniews und andere Bojarenfamilien errichteten zu Moskau die erste Privatdruckerei — alle übrigen gehörten der Regierung — Messen deutsche und englische Werke, vornehmlich religiösen Inhalts, übersetzen und sie unter das Volk verbreiten, das sie in solcher Weise sittlich aufzuklären und zu bilden suchten. Diese Reformatoren schufen also eine Art von Volks-Literatur, und nannten sich nach dem französischen Theosophen St. Martin — Martinisten. Die Kaiserin lachte zuerst über ihre Bemühungen, und schrieb selber für ihr Haustheater eine Komödie, worin sie die Martinisten verspottete. Doch bald fand man die Sache zu ernst, und es begann die Verfolgung. Die Turgeniews wurden verbannt, die Druckerei aufgehoben, alle noch im Laden befindlichen Bücher verbrannt.*) Der ausgestreute Samen ging deshalb nicht verloren. Bis zur Thronbesteigung der Kaiserin Elisabeth hatte am Hofe die deutsche Sprache geherrscht ; dann wurde sie durch die französische verdrängt, und mit ihr zog auch in alle höheren Zirkel französisches Wesen und französische Nachäfferei ein. Erst die Martinisten spornten den Adel und die Jugend wieder an, die deutsche und die englische Sprache zu lernen. Russisch freilich lernte man erst ein halbes Jahrhundert später.


*) Adam Mickiewicz, Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände. Zweiter Teil, 27. Stück.

Die Schriftsteller der sogenannten vorklassischen und klassischen Periode hielten noch fast alle zur Petersburger Partei, und von ihnen erfuhren die Martinisten nur Abneigung und Verspottung. Erst Karamsin zeigte sich den Moskowitern günstiger; er war schon früh mit der Familie Turgeniew in freundschaftliche Verbindung gekommen, und wenn er sich auch nicht ausdrücklich für den Martinismus erklärte, so verraten doch seine Schriften, dass dieser ihn mehr oder weniger beeinflusste. Die Romantiker endlich gehörten entweder der bojarischen Fronde selber an, oder sie bekannten sich zu deren liberalen und nationalen Grundsätzen. Die politische Opposition flüchtete sich in die Literatur und konnte sich bis zum Tode des Kaisers Nicolaus nur in poetischen, oft nur abschriftlich umlaufenden Produkten Luft machen.

Die reiche satirische Ader der Küssen führte naturgemäß zum Lustspiel, und dieses nahm bald einen vorwiegend sozialen Charakter an. Als die beiden bedeutendsten Stücke gelten noch immer „Gore ot umà"von Gribojedow und „Der Revisor" von Gogol.

Alexander Gribojedow, geboren um 1794 in Moskau, ging 1818 als Gesandtschaftssekretär nach Persien, wo er, gereizt durch mancherlei Kränkungen, die er von der Petersburger Aristokratie erlitten zu haben meinte, das genannte Lustspiel schrieb. Später geriet er in Verdacht, der Verschwörung vom 14. Dezember 1825 angehört zu haben, wusste sich jedoch zu rechtfertigen und kam als Gesandter an den Hof von Teheran, wo er 1829 bei einem Volksauflauf, zugleich mit allen in der Stadt wohnenden Küssen, ermordet wurde. — Gore ot umà (wörtlich: „Kummer aus Geist", oder etwa: „Das Unglück ein vernünftiger Mensch zusein"*) ist gegen die den Russen aufgedrungene französisch-deutsche Halbkultur, gegen das französierende Gebahren der russischen Aristokratie gerichtet, und geißelt mit scharfem Spott das herrschende Gemengsei französischer und „Nowgrodischer" Sitten, die Hohlheit und Erbärmlichkeit der vornehmen russischen Welt. Tschatzki, ein junger Edelmann , der Held des Stückes , kann im Staatsdienst nichts erreichen, ist selbst in der Liebe unglücklich, weil er eben an Herz, Geist und Bildung seine jedesmalige Umgebung weit überragt; weil er nicht, wie der Vater seiner Geliebten, der höfisch glatte Präsident Famussow, oder wie dessen armseliger unterwürfiger Sekretär Moltschalin, oder wie der ganz verdienstlose Oberst Skalosub heucheln, schmeicheln, katzenbuckeln und intrigieren mag, sondern ein offener ehrenfester Charakter bleibt; wodurch er schließlich in den Geruch eines Narren kommt. Das Stück ist eigentlich gar kein Lustspiel, indem es mit der Resignation des Helden endigt, während seine elenden Gegner sich ungestört ihres Glücks erfreuen ; auch fehlt ihm eine verwickelte Intrige und, genau besehen, sogar eine wirklich dramatische Handlung : dennoch verdient es seinen Ruf durch vortreffliche Charakterzeichnung der Personen, durch epigrammatische Schärfe der Sprache und seltene Gewandtheit des Dialogs. Da es die höchsten Kreise kompromittierte und selbst die Günstlinge des Kaisers nicht verschonte, war es mehrere Jahre nur als Manuskript im Umlauf. Erst nach dem Tode des Verfassers gelangte es mit ausdrücklicher Erlaubnis des Kaisers auf die Bühne und zum Druck, doch mit Weglassung einer Menge von Stellen und ganzer Szenen. Schon vorher befand es sich in den Händen und im Gedächtnis aller gebildeten Russen, schon vorher waren die Famussows, die Skalosubs und die Moltschalins sprich wörtlich geworden, und auf ihre Urbilder und Nachfolger wurde überall mit Fingern gewiesen. Eine so tief in das soziale Leben einschneidende Wirkung, einen solch praktischen Erfolg hat wohl selten eine Dichtung gehabt.

*) Eine Übersetzung unter dem Titel „Leiden eines Gebildeten", von Knorring, findet sich in der „Russischen Bibliothek für Deutsche“, Reval 1831.

Weit dramatischer und bühnengeschickter ist der „Revisor" von Gogol. Dieses Lustspiel, welches seines drastisch -komischen Inhalts wegen sich mit Recht so nennen darf, verhöhnt in der ergötzlichsten Weise das Tschinownik- oder Beamtentum, das an und für sich als ein fremdländisches oktroyiertes Institut dem echten Küssen in tiefster Seele verhasst und verächtlich ist; von dem er gar nicht begreifen kann, weshalb es überhaupt existiert, es sei denn, um ihn zu quälen und zu schädigen. Der Revisor ist das Schreckgespenst für alle Behörden und Beamten in der Provinz; der Unschuldige fürchtet ihn nicht weniger als der Schuldige, denn auch der Unschuldige ist, wenn er Feinde hat oder dem Herrn Revisor irgendwie missfällt, nicht sicher, aus dem Amte gejagt oder in Strafe genommen zu werden; auch der pflichtgetreue Beamte darf es nicht versäumen, den Revisor durch ein Geschenk gnädig zu stimmen. Auf diese in Russland durchgängigen Zustände baut sich Gogols Lustspiel auf. Der Präfekt einer kleinen Kreisstadt erhält plötzlich die Nachricht, dass ein Revisor aus Petersburg im Anzüge sei, ja dass er schon inkognito am Orte weile. Kasch versammelt das würdige Oberhaupt der Stadt die übrigen Beamten, um sich mit ihnen zu beraten, wie man den Gefürchteten am besten täusche und kirre; wobei sich ein Abgrund von Verwahrlosung und Fäulnis in allen Verwaltungszweigen auftut. Man beschließt, dem Revisor in corpore aufzuwarten, und der Zug geht nach dem Gasthause, wo seit mehreren Tagen ein junger Taugenichts mit leerer Tasche liegen geblieben ist und von dem Wirt schon hart bedrängt wird. Jetzt ändert sich die Situation. Die ehrfurchtsvoll eintretenden Beamten nehmen ihn für den Revisor; er protestiert, da man ihm aber nicht glaubt, lässt er sich die Rolle gefallen, und er spielt sie vortrefflich. Von allen Seiten steckt man ihm Geschenke zu, überhäuft ihn mit Einladungen; er versichert Alle seines Wohlwollens, besonders aber den Präfekten, bei dem er Quartier nimmt und um dessen Tochter er anhält. Endlich macht er sich aus dem Staube, mit dem Versprechen, bald wiederzukommen. Der Präfekt, im Vertrauen auf den hochstehenden Schwiegersohn, wirtschaftet toller als je, bis er entdecken muss, wie schmählich er und seine Kollegen bei der Nase herumgeführt worden; und dieser Entdeckung folgt die Nemesis auf dem Fuße: der wirkliche Revisor ist eingetroffen. — Wenn in Gribojedows „Gore ot umà" die Ausführung hinter der Idee doch merklich zurückbleibt, und dieses Stück nur Eigentum der gebildeten Russen wurde, so decken sich dagegen in Gogols „Revisor" Inhalt und Form vollkommen, und das ganze Volk nahm jubelnd davon Besitz. Kaiser Nicolaus soll bei der Aufführung bis zu Tränen gelacht haben, und mit ihm lachten Bauern und Droschkenkutscher.

Alle namhaften Romantiker gerieten mehr oder weniger in Konflikt mit der Zensur und mit der Regierung. Puschkin wurde wegen der „Ode an die Freiheit" von Kaiser Alexander I. nach Bessarabien, und dann noch einmal auf sein in der Nähe von Pskow gelegenes Landgut verbannt, wo er so lange blieb, bis der neue Kaiser Nicolaus ihn zu sich entbieten Hess. Nur ganz zufällig geschah es, dass er nicht in die große Dezemberverschwörung verwickelt ward ; und als er nun mit der Regierung Frieden schloss, behandelte ihn die Oppositionspartei wie einen Abtrünnigen und klagte ihn laut des Verrats an der Sache der Freiheit an. Seine politischen Erstlingsgedichte blieben ungedruckt. Lermontow wurde wegen des „Klagegesanges am Grabe Alexander Puschkins" nach dem Kaukasus geschickt und starb in der Verbannung. Neben der aristokratischen Fronde, aus der Puschkin, Lermontows und viele andere Schriftsteller und Dichter hervorgingen, bildeten sich schon während der dreißiger Jahre zu Moskau aus dortigen Professoren und Studenten die beiden Parteien der altrussischen Slawophilen und der ultraradikalen Sozialisten, deren Führer, wie namentlich die Gebrüder Aksakow und Alexander Herzen, mit den Romantikern in vielfacher Verbindung standen. In diesen Kreisen fing man an, es für eine Torheit zu erklären, dass man im Herzen Russlands französisch spreche, und brachte die Muttersprache selbst in den Salons wieder zu Ehren. Man begann die Schätze heimischer Denkmäler, Rechte, Sitten und Bräuche hervorzusuchen; und einige Schwärmer gingen so weit, sich in das nationale rote Hemd und den ärmellosen Sammetrock zu stecken, und sich an den theologischen Disputationen zu beteiligen, die am Ostersonntage öffentlich von Leuten aus dem Volk abgehalten werden. Anfangs ignorierte die Regierung dieses Treiben, dann schritt sie gegen die philosophierenden Studentenkreise ein und schickte die Häupter in die Verbannung.

Damals hatte die Romantik noch kein eigenes literarisches Organ; nicht nur bei der Zensur und Regierung, auch in der journalistischen Presse stieß sie auf Widerspruch und Verfolgung. Vornehmlich war es die von Gretsch und Bulgarin herausgegebene, jener Zeit sehr einflussreiche „Nordische Biene", welche die sogenannte Klassizität verfocht, noch immer auf Lomonossow und Derschawin schwur, dagegen die Puschkin, Lermontow, Gogol und alle anderen nationalen Autoren nach Kräften herunterriss und sie sogar als „gefährliche Neuerer" denunzirte. Diesen Einfluss zu brechen, verbanden sich bald nach Puschkin's Tode die Kritiker Krajewski, Panajew und Belinski, Freunde von Herzen und den Aksakow's, und begründeten im Jahre 1839 die „Vaterländischen Annalen", welche bald eine sehr ansehnliche Verbreitung und Bedeutung gewannen, die „Nordische Biene" in den Hintergrund drängten und zehn Jahre hindurch eine tonangebende Stellung behaupteten. Ihre kritischen Artikel brachten den Sieg der Romantik über den veralteten Klassizismus zur allgemeinen Anerkennung und Geltung, und um ihre Fahne versammelten sich alle jüngern Dichter, die wie Marlinski, Dahl, Kudräwzow, Sergius Aksakow, Gontscharow, Graf Sollogub, Fürst Odojewski, Graf Tolstoy etc. gewöhnlich auch in den Spalten der „Vaterländischen Annalen" und in dem später begründeten, derselben Richtung folgenden „Zeitgenossen" ihre Novellen und Verse veröffentlichten.*)

*) Vgl. „Jungrussisch und Altlivländisch Politische und kulturgeschichtliche Aufsätze von Julius Eckardt. Leipzig, Duncker & Humblot 1871; woselbst sich der mit ebensoviel Sachkenntnis wie Unbefangenheit geschriebene, zuerst in den „Preuss. Jahrbüchern" veröffentlichte Artikel „Die russische neue Ära" befindet.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,