„Aus dem Tagebuche eines Jägers" (Schluss).

Das Tschinowniktum — Saltikows „Skizzen aus dem Provinzialleben" — Die Tendenz, die Charaktere und der Dialog Turgeniews.

Eine andere grässliche Fäulnis des russischen Staatswesens, die Bestechlichkeit und Käuflichkeit, die unglaubliche Korruption des ganzen Beamtenstandes hat Turgeniew in seinen Skizzen kaum berührt. Dieses, übrigens allgemein bekannte, offen zur Schau getragene und gewissermaßen für ein notwendiges Übel geltende Krebsgeschwür in seinem ganzen furchtbaren Umfange, mit allen Details zu schildern, übernahm ein Beamter selber.


In der von Professor Michail Katkow, dem jetzigen bekannten Herausgeber der „Moskauer Zeitung", begründeten Monatsschrift „Der russische Bote" erschien in den Jahren 1856 und 1857 eine lange Reihe von Artikeln unter dem Titel „Skizzen aus dem Provinzialleben". Der Verfasser barg sich unter dem Pseudonym Schtschedrin und entpuppte sich später als der Geheimrat Saltikow, jetzt Vizegouverneur von Rjäsan. Der Schauplatz dieser Skizzen ist eine kleine abgelegene Kreisstadt, die den fingierten Namen Krutogorsk führt, und die nun in ihrem ganzen Leben und Treiben, mit den unteren und oberen Schichten ihrer Einwohnerschaft, dramatisiert wird. Neben der Krähwinkelei, dem lächerlichen Gebaren der auf Bang und Bildung Anspruch machenden Gesellschaft und dem gefährlichen Unwesen der Sektierer, ist es hauptsächlich das Beamtentum, seine brutale Willkür, seine raffinierten und schamlosen Erpressungen, welche der Verfasser mit beißendem Spotte, mit haarsträubender Treue zeichnet. Niedere und höhere Beamte wetteifern und verbinden sich mit einander, Recht und Gesetz zu beugen und zu verschachern, wie Vampyre das Publikum auszusaugen, ihre Opfer meuchlings zu überfallen und bis aufs Hemd auszuplündern, oder systematisch zu verfolgen und zu ruinieren, so dass die Unglücklichen, um ihren Peinigern zu entgehen, zuweilen keinen anderen Rath wissen, als sich das Leben zu nehmen. Nicht selten muss der Unterbeamte einen Teil seiner Beute an den Vorgesetzten abliefern, ja er wird von diesem wieder selber und nicht minder gebrandschatzt und ausgesogen; und genauer besehen, verdient er sogar Mitleid und Entschuldigung, denn die Regierung zwingt ihn gewissermaßen zu schlechten Streichen; sie besoldet ihn so kümmerlich, dass er entweder betrügen und rauben oder — hungern muss. Besonders gelungen sind die „Erzählungen des Kanzellisten", wo ein Subalternbeamter all' die Pfiffe und Kniffe berichtet, deren er und seine Kollegen sich bedient haben, um ihre leeren Taschen zu füllen und die Vorgesetzten zu hintergehen. Die „gute alte Zeit" der obligaten Bestechungen und Geschenke erfährt hier ein begeistertes Loblied, und der Erzähler drückt tiefen Schmerz und großen Unwillen aus, dass sie jetzt im Verschwinden begriffen sei.

Sie ist aber noch lange nicht verschwunden, sondern noch immer an der Herrschaft. Um das zu beweisen und sich gewissermaßen selber zu überbieten, ließ der Verfasser diesen Skizzen noch eine neue folgen, welche „Der Isprawnik" heißt und von höchst ergötzlichem Inhalte ist. Ein junger liberaler Landedelmann ist eben bei der Lektüre der „Erzählungen des Kanzellisten", als man ihm den Besuch des Isprawnik (d. i. etwa der von den Gutsbesitzern gewählte Kreislandrat) meldet. Dieser würdige Beamte ist als ein Mann bekannt, der seinen Pflegebefohlenen nach Kräften das Fell über die Ohren zieht; und der Hauswirt beschließt, seinem Gast die „Erzählungen des Kanzellisten" vorzulesen, um ihm vielleicht so das Gewissen etwas zu rühren. Der Isprawnik willigt mit Widerstreben ein, denn er ist ein abgesagter Feind aller Literatur; alsbald aber hört er mit der größten Aufmerksamkeit zu, sein Gesicht belebt sich und er gerät mehr und mehr in Bewegung. Endlich kann er nicht mehr an sich halten, die Beschreibung eines gewissen Iwan Petrowitsch, des Matadors aller spitzbübischen Beamten, und seiner ebenso kühnen wie verschlagenen Erpressungen, lässt ihn den Vorleser unterbrechen und er spricht mit tiefem Seufzer : „Ich diene nun schon die vierte Wahl, aber der liebe Gott hat mir noch nicht ein Mal solchen Gehilfen zugeschickt. Mit einem solchen Menschen, Herr, Du mein Gott! was für Geschäfte würde man da nicht machen können!" „Geben Sie mir einen solchen Menschen", ruft er, vom Stuhl aufspringend, und ich nehme heut noch zehn Tausend". — „Allein macht man nichts, Einer fasst nicht viel"; fügte er niedergeschlagen hinzu.

Im Ganzen genommen sind die Saltikow'schen Skizzen zu breit und auch etwas lehrhaft gehalten ; sie sind rein satirisch und rein polemisch und können, wenn man einen wirklich dichterischen Maßstab an sie legt, sich nicht entfernt mit denen von Turgeniew messen. Trotzdem erregten sie, eben um der Tendenz willen, ein noch größeres und allgemeineres Aufsehen, als jene; sie wurden vom Publikum förmlich verschlungen, jede neue Nummer wurde mit Heißhunger erwartet und bildete jedesmal das Tagesgespräch durch ganz Russland.

Die Tendenz ist sonst auf poetischen Werken der Mehltau; den Genius Turgeniews hat die Tendenz jedoch nicht zu lähmen vermocht: trotz der Tendenz ist das „Tagebuch des Jägers" ein wahrhaft poetisches Kunstwerk geworden. Und weil es das ist, hat es auch dauernden Wert; auch jetzt, wo die Leibeigenschaft aufgehoben ist, erscheinen die Skizzen nicht veraltet, sondern sie üben den alten Reiz und immer neuen Reiz und Zauber aus. Die Perlen unter ihnen sind: „Khor und Kalinitsch", „Der Teufelsgrund", „Kassjan aus Schönschwerte", „Die Sänger" und „Zwei Tage im Urwalde"; welche wahrscheinlich am frühesten geschrieben wurden, und in denen allerdings auch die Tendenz noch weniger hervortritt. Alle übrigen zeigen weit mehr Schatten und Dunkel als Licht und Sonne, zu viel Schatten und Finsternis; nur äußerst wenige machen durchgehends einen heiteren wohltuenden Eindruck, die meisten haben düstere, mehr oder weniger unheimliche Partien, einige sind völlige Trauer- und Nachtstücke.

Aber keins ist ohne große blendende Schönheiten, in jedem überrascht und entzückt uns des Dichters reiches Talent. Jede Person, selbst jede Nebenfigur, die er auftreten lässt, weiß er mit ein paar knappen Strichen so sicher zu zeichnen, dass sie sofort leibhaftig vor uns steht, dass wir ihr ganzes Wesen und Tun flugs begreifen, und es in der Regel als streng folgerichtig und ihr durchaus angemessen erkennen müssen. Wie prächtig, mit wie viel Witz und Laune er zu charakterisieren versteht, welch glückliche Vergleiche und Bilder er stets an der Hand hat, ist wirklich erstaunlich. So sagt er von dem Dorfschreiber Fedosséitsch, um dessen höchst seltsamen Gesichtsausdruck wiederzugeben: „Er sah nicht anders aus, als ob er sich vor langer Zeit über etwas sehr verwundert hätte — und noch immer nicht zu sich gekommen wäre". — Das Treiben auf dem Pferdemarkt zu Lebedjan wird in wenigen Sätzen zur lebendigsten Anschauung gebracht: „In den aus Bauerwagen gebildeten Straßen drängten sich Leute jedes Standes, Alters und Ansehens. Rosshändler in blauen Kaftans und hohen Pelzmützen sahen sich pfiffig um und erwarteten Käufer. Glotzäugige krausköpfige Zigeuner liefen hin und her wie Besessene, besahen den Pferden die Zähne, hoben ihnen die Füße und Schweife auf, schimpften, fluchten, dienten als Unterhändler, kosten oder katzenbuckelten um irgend einen Remonteur in Militärmütze und Offiziersmantel mit Biberkragen. Ein stämmiger Kosak hockte auf einem abgezehrten Wallach mit einem Hirschhalse und verkaufte ihn „mit Stumpf und Stiel", nämlich mit Sattel und Trense. Bauern in unter der Achsel zerrissenen Schafpelzen brachen sich tollköpfig durch die Menge Bahn, wälzten sich dutzendweise auf den Wagen , der mit einem Pferde bespannt war, das „prubiert" werden sollte. Oder sie feilschten irgendwo abseits bis zum letzten Blutstropfen, gaben sich hundertmal nach einander den Handschlag, und doch blieb Jeder hartnäckig bei seinem Preise, während der Gegenstand ihres Streites, ein erbärmlicher, mit einer zerzausten Bastmatte bedeckter Klepper, schläfrig mit den Augen blinzelte, als ob ihn die Sache gar nichts anginge. Und in der Tat, kann es ihm nicht einerlei sein, wer ihn peitschen wird?!" — Ebenso unübertrefflich heißt es von den in Russland stark grassierenden Kunst-Enthusiasten: „Ihre Liebe zur Kunst und den Künstlern, oder wie sie sich ausdrücken, „zur Kunst und den Künstlern", macht sie unsäglich unausstehlich; mit ihnen Bekanntschaft zu haben, ein Gespräch zu führen — ist eine Qual: wahre Zaunpfähle mit Kreide angestrichen. Sie nennen zum Beispiel Rafael nie Rafael, Correggio nicht Correggio — „der göttliche Sanzio", „der unnachahmliche Allegri" sagen sie, und verdrehen immer die Vokale in o. Jedes winkelhafte, dünkelhafte und mittelmäßige Talent erheben sie zum „Genie"; der blaue Himmel Italiens, die südliche Limone, die duftigen Nebel der Brentagestade kommen ihnen nicht von der Zunge. „Ach, Fritz, Fritz!" oder „Ach, Hans, Hans!" sagen sie mit Gefühl zu einander, „nach dem Süden sollten wir, nach dem Süden — denn wir Beide sind doch in der Seele Griechen, antike Griechen!" Beobachten kann man sie auf den Ausstellungen, wenn sie vor gewissen Produkten gewisser russischer Maler stehen. (Es ist zu bemerken, dass alle diese Herren schreckliche Patrioten sind). Bald treten sie einige Schritte zurück und werfen den Kopf in die Schulter, bald rücken sie wieder an das Bild heran, während ihre Augen von einer ölartigen Feuchtigkeit erglänzen. . . . „Straf mich der heilige Gott!" sagen sie endlich mit vor Aufregung gepresster Stimme, „ist das ein Gemüt, ein Gemüt! Wie viel Seele hat er da hineingelegt! unmenschlich viel Seele! . . . Und wie durchdacht! meisterhaft durchdacht!!"

Die Skizzen sind außerordentlich reich an Helden und Nebenfiguren, aber jede einzelne Person ist für sich und den andern gegenüber ein Original, auch wenn sie als Träger einer schon mehrmals behandelten Idee, als bloße Variation desselben Themas auftritt. Der Dichter wird sich nie wiederholen, sondern er versteht es, seine zahlreichen Gestalten scharf auseinanderzuhalten. Man vergleiche z. B. Jermolai, Stjopuschka und Abaldui, welche alle drei den gewissermaßen herren- und heimatlosen Leibeigenen und Vagabunden darstellen; die verkommenen Gutsbesitzer, die vielen Landjunker oder Leuteschinder mit einander: und man wird finden, dass trotz der Ähnlichkeit ihrer Lage, ja zuweilen trotz der Verwandtschaft ihres Charakters, doch wieder die größte Unähnlichkeit zwischen ihnen besteht, und jeder wieder ein Menschenwesen ganz besonderer und eigener Art ist.

Turgeniew vermag es, sich in Jedermanns Seele hineinzudenken, den Angelpunkt jeder Individualität zu erfassen; er versteht es, die Sprache jedes Standes, jedes Bildungsgrades, jedes Temperaments zu reden; und er spricht sie nicht bloß als Kopist oder Nachahmer, sondern als ob er sie von Jugend auf gesprochen, mit wahrer Meisterschaft. So waltet in den Unterhaltungen der Hirtenknaben im „Teufelsgrund" ganz der kindliche Ton und die kindliche Anschauungsweise, die auf Erwachsene eine so große Anziehungskraft üben. Von der tiefsten Wahrheit und Treue, und zugleich von dem anmutigsten Reize ist z. B. auch folgendes Gespräch zwischen dem greisen Haushofmeister Polikarp, einem geschworenen Feind Napoleons, und seinem zwölfjährigen krausköpfigen Enkel:

— Wasja, sag' mal: Bonapartatschel ist ein Schelm!
— Was krieg ich, Großväterchen ?
— Was Du kriegst ! Nichts kriegst Du von mir. Bist ja doch wohl ein Russe!
— Ich bin ein Amtschána, Großväterchen. Bin in Amtschensk geboren.
— O, dummer Junge Du! Wo liegt denn Amtschensk?
— Nu, was weiß ich!
— In Russland, Du Schafskopf, liegt Amtschensk.
— Na, wenn auch in Russland!
— Wie so, wenn auch? Den Bonapartatschel hat ja Seine Durchlauchtigkeit, der Fürst Kutusow-Smolenski mit Gottes Hilfe aus den russischen Grenzen zu jagen geruht. — Verstehst Du, er hat Dein Vaterland befreit.
— Na, was geht das mich an?
— Ach, Du dummer, dummer Junge. Wenn Seine Durchlauchtigkeit den Bonapartatschel nicht verjagt hätte, so würde Dich ja jetzt irgend ein Musje mit dem Stocke auf den Wirbel hauen können. Käme zum Beispiel zu Dir und sagte: „Koman wu porte wu?“ und tuk! tuk! . . .
— Und ich gäbe ihm eins mit der Faust in den Wanst.
— Und er würde sagen: „Bon schur, bon schur, wene issi", und huschte Dich herum.
— Und ich ihm an die Beine, an die Zwiebelbeine ...
— 's ist wahr, Zwiebelbeine haben sie. Aber wenn er Dir nun die Hände über den Rücken bände?
— Ich ließe mir's nicht ... ich riefe Michei, den Kutscher.
— Was meinst Du, Wasja: Der Franzose könnte es doch nicht mit Michei aufnehmen?
— Wie sollt' er's! Der Michei ist baumstark.
— Nun, was würdet Ihr mit ihm machen?
— Wir keilten ihm den Rücken braun und blau.
— Und er würde Pardon schreien: „Pardon, Pardon, silwuple — i."
— Und wir! „Nichts da silwuple — i, Du, so'n verdammter Franzose, Du!"
— So ist's recht! Du bist ein braver Kerl, Wasja! Nun, so schrei denn: Bonapartatschel ist ein Schelm!
— Und Du gib mir 'n Stück Zucker dafür.
— Ach Du, so 'n . . . !

Meisterhaft ist ferner der Dialog, für jeden Schriftsteller, für den epischen nicht weniger als für den dramatischen, die Hauptschwierigkeit. Turgeniews Dialog ist knapp und gewandt, schlagend und überraschend, voll Handlung und Bewegung. Meisterhaft sind auch die eingestreuten Erklärungen und Bemerkungen: ungezwungen, stets am rechten Orte und zur rechten Zeit; meistens wie Blitze, welche die Situation mit Einem Schlage aufhellen.

Des Dichters Liebe und Treue zum Vaterlande, die herzlichste Liebe zu seinem Volke ist nirgends zu verkennen; indes ist Turgeniew, wie schon früher angedeutet, doch weniger ein patriotischer als ein kosmopolitischer Schriftsteller. Er hat einen scharfen Blick für die Schwächen und Verkehrtheiten, Gebrechen und Laster seiner Landsleute, und er geißelt diese unerbittlich; was schon in dem „Tagebuche des Jägers" hervortritt, noch stärker und direkter aber in den späteren Dichtungen , weshalb diese auch in Russland viel Verstimmung und Erbitterung verursachten. — Turgeniew ist ferner ein aufrichtiger Freund des gemeinen Mannes, ein treuer Ritter der Schwachen und Einfältigen, der Unterdrückten und Unglücklichen; aber trotzdem nicht gerade das, was man einen Volksschriftsteller, einen populären Dichter nennen darf. Die Skizzen, obwohl noch die volkstümlichsten unter seinen Schriften, sind eben so wenig für den gemeinen Russen geschrieben, wie etwa Auerbachs Dorfgeschichten für den Schwarzwälder Bauern; sondern sie haben überall die höheren Stände, den Gebildeten im Auge, und können auch nur von diesem durchweg goutiert und gewürdigt werden.

Für den gemeinen Mann ist Turgeniew zu fein und auch an Handlung zu mager; dem gemeinen Mann bietet er weit weniger, als z.B. Shakespeare und Walter Scott, ja als Schiller und selbst als Goethe; mag er den gemeinen Mann noch so treu und treffend schildern, dieser wird sich solcher Schilderung gegenüber doch immer nur als Objekt vorkommen und sich deshalb etwas unbehaglich fühlen. Turgeniew ist so recht eigentlich ein exklusiver Schriftsteller; er kann nirgends seine exquisite Bildung, seinen philosophischen Geist, seinen überlegenen Standpunkt verleugnen. Wenn er dennoch ein so großes Publikum gefunden hat, so verdankt er das seiner pikanten Darstellungskunst, dem Reiz seiner Schreibweise, die ihm auch die Menge der Halbgebildeten und ebenso die Frauen zufallen ließen.

„Aus dem Tagebuche eines Jägers" ist Turgeniews erstes, aber auch zugleich sein weitaus bedeutendstes und gelungenstes Werk, das keine seiner späteren Dichtungen wieder erreicht hat. Diese Skizzen enthalten schon sein ganzes Wollen und Können, das ganze Orchester der zahlreichen Instrumente, die er zu spielen versteht; sowie die Keime und Vorwürfe der meisten nachfolgenden Dichtungen. Vieles, was dort angedeutet und berührt wird, ist hinterher zu eigenen Novellen und Erzählungen verarbeitet, verschiedene Themata sind später nur ausführlicher behandelt und variiert worden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,