„Aus dem Tagebuche eines Jägers" (Fortsetzung)
Zur Naturgeschichte des russischen Volks — Die Leibeigenschaft und ihre Aufhebung.
Neben den zahlreichen Landschafts- und Tierbildern enthalten die Skizzen „Aus dem Tagebuche eines Jägers" in der Hauptsache eine Naturgeschichte des russischen Volks, vornehmlich der ländlichen Bevölkerung Großrusslands. Sie spielen fast alle auf dem platten Lande, unter Bauern und Gutsbesitzern; und schon dieser Schauplatz, diese Helden bedingen ihren poetischen Fond; denn die einfachsten Zustände sind auch immer die poetischesten, der Landbewohner ist stets ursprünglicher und eigentümlicher als der Städter, und namentlich zeichnet sich das russische Landvolk durch eine Fülle und Mannigfaltigkeit von Typen und Originalen aus. Diese Fülle und Mannigfaltigkeit bringt Turgeniew zur vollen Geltung; er führt uns Bauern und Landedelleute, Herrschaften, Haus- und Hofgesinde in den allerverschiedensten Sorten und Exemplaren vor; und er weiß sie miteinander in dramatische Wechselbeziehung zu setzen, so dass uns in diesen gesammelten Skizzen ein buntes bewegtes Leben entgegentritt.
Was zunächst den Bauer betrifft, so behandelt ihn Turgeniew mit sichtlicher Vorliebe. Wenn die Moskowiter von ihren Nationalhoffnungen sprechen, dann verweisen sie auf den russischen Bauernstand, als die Grundlage und den Keim einer großen Zukunft; und diese Ansicht und Hoffnung teilt auch Turgeniew, soweit ihm dies nämlich bei seiner pessimistischen Lebens- und Weltauffassung möglich ist. Er zeigt uns, von welch inniger Heimatsund Vaterlandsliebe, von welcher Ehrfurcht und Opferfreudigkeit gegen Czar und Kirche der russische Bauer beseelt ist, wie hoch und heilig er die Bande des Familienlebens, das altertümliche Institut des Gemeindewesens hält, welch echte Nationaltugenden ihm also beiwohnen. In der Tat scheint das despotische Regiment, der Jahrhunderte lange Druck diese Nationaltugenden eher gestählt denn zerrüttet zu haben; trotz der versteinerten Formen der byzantinischen Kirche, trotz der Unwissenheit der Priester und der geringen Achtung in welcher diese stehen, lebt im Volke ein tiefreligiöser Sinn, und man findet unter ihm meist mehr Mitleid, Barmherzigkeit und Nächstenliebe, Friedlichkeit und Verträglichkeit, als Neid, Eifersucht und Bosheit, Streitsucht und Kampflust. Der russische Bauer ist, wie Turgeniew zeigt, ein äußerst gutmütiger und geduldiger, genügsamer und bedürfnisloser anstelliger und geschickter Mensch, der sich außerdem durch robuste Gesundheit, unverwüstliche Kraft und so reiche Natur-Anlagen auszeichnet, dass man fast Alles aus ihm machen könnte. Von offenem Verstände, instinktartiger Schlauheit, natürlichem Witz und Humor, besitzt er namentlich auch das, was man sonst nur dem Deutschen, oder doch nur den germanischen Völkern zuerkennt, nämlich Gemüt, und zwar Gemüt in hohem Grade.
Belege für irgend eine dieser Eigenschaften, Tugenden und Talente finden sich in jedem Stücke der Turgeniew'schen Sammlung. Zwei wahre Prachtkerle von Bauern sind die beiden Freunde Khor und Kalinitsch in der gleichnamigen Skizze. Khor ist der Realist, „ein positiver praktischer Charakter, ein administrativer Kopf, das Oberhaupt einer grossen blühenden Familie und im Besitze einer wohlgeordneten Wirtschaft, Dank welcher er wahrscheinlich auch schon ein hübsches Sümmchen erspart hat. Kalinitsch „gehört zur Zahl der Idealisten, der Romantiker, der exaltierten träumerischen Menschen"; er läuft mit dem Gutsherrn auf der Jagd herum und vernachlässigt darüber sein Hauswesen, er steht Jedermann zu Diensten und denkt an sich immer zuletzt, 'weshalb es ihm auch sogar an den wenigen Kopeken fehlt, um sich ein Paar neue Bastschuhe zu kaufen. Kalinitsch kann lesen und schreiben, auch lieblich singen ; er bespricht das Blut, den Schreck, die Käserei, vertreibt die Würmer; die Bienen gedeihen bei ihm wie bei keinem Andern, er hat in Allem eine glückliche Hand; ist aber einfältig und leichtgläubig, sorglos und unbekümmert wie ein Kind. Khor ist ein „Ungelernter", und er fühlt diesen Mangel, er weiß Bildung und Talent wohl zu schätzen: „Dieser Duselfritze hat schreiben gelernt", bemerkt er von Kalinitsch; „darum geraten ihm auch die Bienen so gut". Und er lässt, weil Kalinitsch eine glückliche Hand hat, ein neuangekauftes Pferd durch diesen in den Stall führen. Aber Khor hat viel gesehen und erfahren, er beobachtet gut und macht seine Schlüsse; er übersieht Kalinitsch zehnmal und neckt ihn ganz weidlich. Trotz dieser großen Unähnlichkeit sind Khor und Kalinitsch die besten Freunde und haben einander von Herzen lieb; wenn Kalinitsch den Khor besucht, dann bringt er ihm ein Büschel frischgepflückter Walderdbeeren mit, und Khor erweist dem Kalinitsch jede mögliche Gunst.
Eine noch stattlichere Figur als Khor ist der Freisasse Owssianikow. Obgleich kinderlos, nimmt er sich doch wie ein Patriarch aus, steht bei Jung und Alt, bei Vornehm und Gering in Ehre und Ansehen, und ist der Stolz und die Zierde seiner gewöhnlich sonst etwas verkommenen Standesgenossen. In Tracht und Lebensweise hält er an den alten Gebräuchen, ist sich seines Wertes voll bewusst, überhebt sich aber in keiner Weise, drängt sich nicht an die Gutsbesitzer, sondern lebt und bewegt sich genau in seiner Sphäre. Er rühmt nicht die alte Zeit, wiewohl er in der Gegenwart mancherlei vermisst; er verkennt nicht, dass die Zeit fortgeschritten, aber er sieht „keine neue Ordnung". — „Die jungen Herren klügeln gar zu sehr", bemerkt er von der neuen Generation der Gutsbesitzer. „Mit den Bauern gehen sie um wie mit einer Puppe. Drehen und zerren daran, zerbrechen's und werfen's von sich. Das Alte stirbt aus, und das Junge kommt nicht zum Leben".
Von der Resignation, mit welcher der Bauer die härtesten Schläge des Schicksals, die Tyrannei seiner Herren erträgt, weiß Turgeniew viele Geschichten zu erzählen. Ein Held dieser Art ist Jegor in der Skizze „Zwei Tage im Urwalde". Häusliches Unglück aller Art verfolgt ihn unerbittlich; er ist ein fleißiger Arbeiter, aber er kann auf keinen grünen Zweig kommen; in der letzten Nacht ist ihm seine einzige, seine letzte Kuh gefallen: doch keine Klage, kein Seufzer kommt über seine Lippen; er duldet schweigend und überlässt sich nur dann und wann einem starren Hinbrüten. — Solche Resignation kann aber auch häufig zur Unempfindlichkeit, zum völligen Stumpfsinn werden. In dem Kapitel „Das Himbeerwasser" heißt es von einem alten Leibeigenen: „Stjopuschka war mit Niemandem verwandt, Niemand kümmerte sich um ihn, Niemand sprach von ihm; er hatte nicht einmal eine Vergangenheit, kaum dass er bei der Seelenzählung mit eingerechnet wurde. Im Sommer wohnte er in einer verfallenen Vorratskammer hinter dem Hühnerstalle; im Winter in dem früheren Badeeingange; war die Kälte groß, dann übernachtete er auf dem Heuboden. Man war gewohnt, ihn zu sehen, ihm dann und wann wohl auch einen Fußtritt zu geben, aber Niemand wechselte je ein Wort mit ihm, und er selbst schien den Mund seit seiner Geburt nicht aufgetan zu haben". — Eine ebenso fragwürdige Existenz tritt uns in dem Abschnitt „Lgow" entgegen. Sutschok ist aus einer Hand in die andere gegangen, und nach der Laune seines jeweiligen Herrn alles Mögliche gewesen: Gärtner und Vorreiter, Schuster und Hundewärter, Koch und Kutscher, ja sogar einmal „Acteur" auf dem Privattheater einer seiner Gebieterinnen. Jetzt fungiert er als Fischer, sein Nachen ist aber von einer so elenden Beschaffenheit, dass er mit ihm auf ein Haar ertrunken wäre. "Während er nämlich im Gefolge des Jägers einer Entenjagd beiwohnt, füllt sich der Kahn mit Wasser und sinkt unaufhaltsam zu Grunde. Über eine Stunde stehen Alle bis an den Hals im Wasser und spähen nach Rettung umher; nur Sutschok bleibt steif und still, zwinkert bisweilen mit den Augen und schickt sich an einzuschlafen. Als man endlich wagt, das Wasser zu durchwaten und nach einer Furt zu suchen, kann sich der kleine Sutschok vor lauter Respekt selbst in der äußersten Not nicht entschließen, nach dem Rockschoß des vor ihm tappenden Jägers zu greifen; und es bedarf wiederholter Drohungen, nur um ihn zu nötigen, dass er den Kopf über dem Wasser behält und sich nicht willenlos der Gefahr ergibt. — Auch Angesichts des Todes schwindet jene Resignation nicht, und die Skizze „Der Tod" handelt eine Reihe von Fällen ab, wie „merkwürdig der Russe stirbt". Er stirbt ohne Angst und Klagen, kaum dass er seinen Qualen einen Seufzer erlaubt; er erwartet sein Ende mit beinahe gleichmütiger Fassung und ist nur bedacht, die wenigen Augenblicke, die ihm bleiben, zum Ordnen seiner irdischen Angelegenheiten zu verwenden. Der Jäger erzählt u. A. von einem Müller, der beim Abladen von Mühlsteinen sich einen Schaden zugefügt hatte, aber erst nach geraumer Zeit zum Arzte fuhr. Dieser erklärt ihm, dass die Sache sehr bedenklich, ja das Schlimmste zu fürchten sei. Der Müller ist darüber sehr erstaunt, schlägt aber den dringenden Rat des Arztes, bei ihm zu bleiben und sich von ihm behandeln zu lassen, entschieden aus. „Nein, antwortet er, muss man einmal sterben, so stirbt man doch lieber zu Hause. Wenn ich hier nun sterbe, der Herrgott mag wissen, was unterdessen zu Hause geschieht". Jede Erschütterung des Körpers muss ihm, wie der Arzt nochmals und aufs Nachdrücklichste versichert, zum sichern Verderben gereichen; trotzdem besteigt der Müller wieder seinen Wagen und fährt langsam, vorsichtig den holprigen Weg zurück, indem er wie sonst rechts und links die Vorübergehenden grüßt. Natürlich starb er nach wenigen Tagen. — Ein anderer Fall ist noch merkwürdiger. Der Geistliche reicht einer Sterbenden das Sakrament. Sie küsst das Kreuz, will mit der Hand unters Kopfkissen fahren — und haucht den letzten Seufzer aus. Unter dem Kissen lag ein Silberrubel. Sie wollte den Geistlichen für ihr eigenes Scheidegebet bezahlen.
Gesunde normale Menschen bilden bei Turgeniew die Ausnahme (sie sind bei ihm noch seltener als bei den anderen russischen Dichtern). Er liebt die Originale, an denen, wie schon bemerkt, das russische Volk so außerordentlich reich ist; er liebt vor Allem absonderliche, rätselhafte, krankhafte Originale, welche scheinbar dem Dichter einen sehr dankbaren Stoff bieten, und die Blicke des Lesers zumeist reizen und blenden. Tatsächlich erfordert ihre Herstellung jedoch großen Aufwand, einen Aufwand von mancherlei mehr künstlichen als künstlerischen Hilfsmitteln; und trotzdem werden sie bei näherer Prüfling stets an einer gewissen Unwahrscheinlichkeit leiden, in der Seele des Lesers eine Unbefriedigung und Verstimmung zurücklassen — gleichviel ob sie treu nach dem Leben kopiert oder bloß der überhitzten Phantasie des Dichters entnommen sind; denn Abnormitäten gehören an und für sich nicht in die Poesie. — Solch befremdliche paradoxe Naturen lässt Turgeniew schon unter Bauern auftreten, und ihre Zahl mehrt sich bedenklich, sobald es sich um die höheren Schichten der Gesellschaft handelt.
Zu den Bauern dieser Art gehört z. B. der finstere, unheimliche, seiner herkulischen Stärke wegen allgemein gefürchtete „Wilde Mann" in der Skizze „Die Sänger"; welche übrigens ein höchst anziehendes und bewegtes Bild von dem Wesen und Treiben des gemeinen Russen, von seinen Belustigungen und Ausschweifungen, sowie von seiner tiefen Neigung und exaltierten Begeisterung für den Volksgesang gewährt. — Eine dämonische vulkanische Natur ist der kleine Spitzbube Jephrem in dem Artikel „Zwei Tage im Urwald". Er nährt sich von Diebstahl und Raub; sinnt auf Zerstörung, nur weil er daran Gefallen findet; und Niemand von seinen Nachbarn wagt ihm in den Weg zu treten; selbst die von der Obrigkeit gegen ihn ausgesandten Häscher weiß er in Furcht und Schrecken zu setzen, so dass sie ihm zu Füssen fallen und sich ruhig von ihm durchprügeln lassen. — In jeder Hinsicht sein Gegenstück, aber deshalb nicht minder ein Naturphänomen, ist endlich der Zwerg Kassjan aus Schönschwerte in der gleichnamigen Skizze. Das Volk nennt ihn „gestört" und betrachtet ihn seines sanften, stillen Wesens wegen, seiner seltsamen Einfälle und Redeweise halber mit einer aus Furcht gemischten Zuneigung. Vermöge der ihm innewohnenden Kraft verscheucht Kassjan dem Jäger das Wild, denn er hält das Töten der in Freiheit lebenden Tiere für Sünde, und das Blut für etwas Heiliges: „Die Sonne Gottes scheint nirgends auf Blut und das Blut ist vor dem Lichte verborgen", spricht er. Die Natur versetzt ihn in Entzücken und Begeisterung; dann fließen ihm die Worte leicht und reich von den Lippen, und seine Rede tönt süß und poetisch.
Die Bauern sind Turgeniews Lieblinge, ihnen gegenüber geht ihm das Herz auf, und er zeichnet sie mit Sympathie und Wohlwollen. Aber mit dem Verlassen der Volkskreise ist seine Feder in Ironie und Sarkasmus getaucht, und es läuft viel Spott, Bitterkeit und Verachtung unter. In der ganzen Sammlung gibt es nur zwei oder drei Portraits von Gutsbesitzern, die man mit Behagen betrachtet; z. B. das des stotternden, um alle reichen Bräute auf zehn Meilen in der Bunde freienden Herrn Polutükin, der aber, unbeschadet dieser und noch manch anderer kleinen Schwächen, ein vortrefflicher Mensch und ein humaner Gebieter seiner Bauern und Untergebenen ist. — Auch für seine persönliche Freundin, die einfache würdige Matrone Tatjana Borissowna — die „das ganze Jahr auf dem Lande vergraben lebt, nicht klatscht, nicht piept, nicht knixt, nicht außer sich kommt, nicht erstickt, nicht vor Neugierde zittert. . . . Wunderbar !" — hat der Dichter nur Worte des Lobes und der Verehrung. Ihr Haus ist in der ganzen Nachbarschaft das gemütlichste und anziehendste, bis ein dicker fauler Neffe, den die Tante in ihrer Einfalt als ein großes Malergenie vergöttert, die Gäste allmählich verscheucht. — Im Übrigen ist Turgeniew den regierenden Gutsbesitzerinnen gar nicht grün, besonders nicht, wenn sie etwa deutschen Ursprungs sind; und er schildert mit unverhehlter Indignation eine Reihe von launischen, boshaften, grausamen, überspannten, verschrobenen Herrinnen. In welch lächerlicher Weise oft solche Trau ihr Gut verwaltet oder auch verwalten lässt, mit welchem Heer von betrügerischen Beamten und faulen nichtsnutzigen Domestiken sie sich umgibt, wie sie in ihren Leuten nur ein Spielzeug für Laune und Langeweile sieht, sich um die Wohlfahrt ihrer Bauern gar nicht kümmert, sondern diese nach dem Belieben der Schreiber und Aufseher placken und schinden lässt: das Alles wird in dem Abschnitt „Das Comtor" eingehend und überzeugend zur Anschauung gebracht.
Groß ist ferner die Zahl der liederlichen verkommenen Gutsbesitzer und sonstigen Edelleute dieses Schlages, die alle Zeugnis ablegen von der Hohlheit und Zersetzung der höheren russischen Gesellschaft. — Peter Karataew, ein roher aber sonst braver Landjunker, geht materiell und moralisch zu Grunde, weil er nicht das Mädchen seiner Liebe, die Leibeigene einer Nachbarin heiraten kann. Madame weigert sich, Matrona ihm abzutreten, und möchte dafür ihre alte fahlblonde schiefmäulige Gesellschafterin zum Ehegespons ihm anschmieren. Peter Karataew ergibt sich dem Rum und rezitiert — was freilich seinem Bildungsgrad nicht ganz zu entsprechen scheint — den bekannten Monolog aus Hamlet: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage." — Der Wittwer Radilow wird gleichfalls das Opfer eines Ehehindernisses. Er liebt die Schwester seiner verstorbenen Gattin ; da er diese aber nach den Satzungen der russischen Kirche nicht heiraten darf, lässt er Haus und Gut, sowie die alte hochbetagte Mutter im Stich und verschwindet mit der Geliebten. — Der abgedankte Leutnant Chlopakow ernährt sich als Spaßmacher eines jungen Fürsten, den er mit ein paar einfältigen Redensarten zu belustigen weiß. — Ein anderer Edelmann, der seine Geschichte selber erzählt, ist trotz seiner akademischen Bildung, trotz längeren Aufenthalts im Auslande, und obwohl er nach seiner Rückkehr zuerst geehrt und bewundert wurde, so sehr in der allgemeinen und in seiner eigenen Achtung gesunken, dass ihm Jedermann an die Nase fährt, und er sich absichtlich allerhand Erniedrigungen aussetzt. Er nennt sich den „Hamlet des Stschigrow'schen Kreises" (wie man sieht, geht Shakespeare und namentlich Hamlet unserm Dichter viel durch den Kopf), und er behauptet, dass es in jedem Kreise solcher Hamlets gebe. — Wovon dieser Unglückliche zu wenig besitzt, hat der „Reichsedelmann" Tschertapchanow zu viel. Durch die wahnsinnige Verschwendung seines Vaters um das ganze reiche Erbe gebracht, und nunmehr der kläglichsten Armut überantwortet, kennt er trotzdem vor Stolz und Dünkel sich selber nicht, ist hochfahrend und frech gegen Vornehm und Gering, und gerät, wenn ihm irgend etwas nicht zu Willen geschieht, sofort in die rasendste Wut.
Der gewöhnliche Landadel ist in Russland zwar ungebildet, dafür aber in seinem Familienleben und in der Behandlung seiner Untergebenen von patriarchalischem Zuschnitt, so dass er im Ganzen genommen einen mehr günstigen als ungünstigen Eindruck macht. Weit unvorteilhafter nimmt sich der hohe gebildete, im Hof- oder Staatsdienst beschäftigte oder beschäftigt gewesene Adel aus, der mit geringen Ausnahmen ein sonderbares Gemisch von Blasierteit und Rohheit verkörpert. Seine ganze, oft anscheinend so feine und vielseitige Bildung ist in der Regel nur eine formale und äußerliche; ein Firniss, der bei näherem Zusehen bröckelt und rohe wüste Leidenschaften verdeckt. Solchen Leidenschaften und Ausschweifungen frönt die Aristokratie heimlich und offen, meist ungestraft und auf Kosten ihrer Leibeignen und anderer kleinen Leute, die das Gesetz schutzlos lässt, und die das Gesetz nicht einmal anzurufen wagen. In dieser Beleuchtung, mit all diesen Torheiten und Auswüchsen, Lastern und Sünden erscheint der russische Adel in Turgeniews Skizzen. Wir erblicken aufgeblasene „Zivil-Generale"; Hohlköpfe, vor welchen alle niedriger Stehenden im Staube kriechen; Verschwender, denen ihre tollen Einfälle, ihre unsinnigen Pläne Millionen kosten; Wüstlinge, die sich von ihren Maitressen beherrschen lassen; Tyrannen und Wüteriche, die entweder nach Sibirien oder in das Irrenhaus gehören.
Wie der Adel mit dem gemeinen Mann umspringt, scheint der Dichter in seiner eigenen Familie erfahren zu haben. Wenigstens lässt er den Freisassen Owssianikow dem „Jäger" folgendes Stückchen erzählen: „Ja, Ihr Großvater, das war ein gewaltiger Herr. Kommt er mal geritten, zeigt mit der Hand auf ein Stück Feld, das unser war, so lang wir denken können, sagt: Mein Gebiet! und eignet sich's zu. Mein Vater wollte das nicht ertragen, und gab bei Gericht eine Klage ein. Gleich schickt Ihr Großvater seinen Oberjäger mit Kommando zu uns, die meinen Vater ergreifen und auf Ihr Erbgut schleppen. Ich war damals noch ein kleiner Junge und lief barfuß nach. Was geschieht! Man führt ihn unter die Fenster und peitscht ihn dort mit Ruthen. Und Ihr Großvater steht auf dem Balkon und sieht zu, und Ihre Großmutter sitzt am Fenster und sieht auch hin. Mein Vater schreit: Liebe Marja Wassiljewna, nehmen Sie sich meiner an, haben Sie wenigstens Erbarmen! Aber sie legte sich nur weiter vor und guckte. Nun nahm man dem Vater das Wort ab, sich von dem Landstrich loszusagen und befahl ihm, sich noch zu bedanken, dass man ihn lebendig gehen ließ." Ebenso soll Turgeniews Mutter ihre Erbmägde bis aufs Blut gepeinigt und sie, um sich in müßigen Stunden eine Unterhaltung zu verschaffen, allerlei sinnreichen Foltern unterworfen haben.
In der Hauptsache sind die Skizzen gegen die Leibeigenschaft gerichtet, von welcher der Dichter viele farbenreiche Illustrationen gibt. Die Leibeigenen werden nach dem Belieben ihrer Herren, ohne Grund und Not hin- und hergeworfen, plötzlich ihrer Heimat entrissen und nach einem Hunderte von Wersten entlegenen anderen Dorfe versetzt; aus bloßer Grausamkeit oder Bachsucht schimpflich degradiert oder zu Funktionen gezwungen, für welche sie sich durchaus nicht eignen, denen sie schlechterdings nicht gewachsen sind; man verweigert ihnen den Freikauf oder die Erlaubnis, auf Obrok*) zu gehen und sich eine ihren Fähigkeiten angemessene Stellung, einen einträglicheren Erwerb zu suchen, auch wenn man sie gar nicht nötig hat; sie werden mit unerträglichen Fronden, mit unerschwinglichen Steuern belastet, an Körper und Geist, Gut und Ehre geschädigt und systematisch verdorben und ruiniert: Alles, wie es ihren Despoten gerade einfällt, gegen deren Launen und Gelüste es keine Appellation gibt, oder eine Appellation doch ganz fruchtlos, wo nicht gar unheilvoll finden Beschwerdeführer sein würde. Es gibt aalglatte, heuchlerische Tyrannen, die wie der Gardeleutnant außer Dienst, Penotschkin, den Schein zu vermeiden wissen, mit ihren Bauern außer aller Berührung bleiben, und es nicht sehen mögen, wie diesen von dem harten spitzbübischen Verwalter das Fell über die Ohren gezogen wird; die ihre Bauern auf hohen Zins setzen, und dem Verwalter alles Andere, nur keine Rückstände gestatten. Es gibt gedankenlose Tyrannen, Despoten aus Gewohnheit, die wie Herr Stjegunow, ein Gutsbesitzer aus der guten alten Zeit, milde lächeln, wenn man ihnen von einer Verbesserung der Lage ihrer Bauern spricht, die sich ohne Kopfzerbrechen und Gewissensskrupel einfach an das Herkommen halten, und wenn sie einen Diener prügeln lassen, vergnüglich mit der Zunge den Takt dazu schnalzen. Es gibt allerdings auch Herren, die es mit den Bauern gut meinen, ihnen gerne aufhelfen wollen, aber in diesem Sinne nur Reden halten, sich deshalb nicht in eigene Unkosten stürzen mögen; junge Herren, welche direkt vom Auslande kommen, „für Alles, was Russisch ist" schwärmen, aber die Bauern nur kopfscheu und sich selber nur lächerlich machen. Solch' neumodische liberale Gutsbesitzer kann der Leser in den Erzählungen des Freisassen Owssianikow kennen lernen.
*) Obrok hieß die Abgabe, welche die Leibeigenen ihren Herren zu entrichten hatten, wenn sie mit dem Willen derselben ein Gewerbe oder ein Geschäft auf eigene Hand trieben. Selbstverständlich hing die Höhe des Obroks von beiderseitigem Übereinkommen ab und richtete sich nach den Fähigkeiten und dem Gewinnst des Leibeigenen. Es gab reiche, angesehene Kaufleute, sogar einige Millionäre, die trotzdem Leibeigene waren und blieben, ihren Herren natürlich einen sehr hohen Obrok zahlen mussten, aber vergebens die höchsten Summen für ihre Freilassung boten. Viele Edelleute schickten alle oder den größten Teil ihrer Bauern auf Obrok, wozu indes diese wieder auch nicht gezwungen werden durften.
Die Gelehrten der Moskowiter Partei sind beeifert gewesen zu beweisen, dass die Leibeigenschaft in Russland nicht ursprünglich bestanden hat, sondern verhältnismäßig erst spät eingeführt worden ist, dass die eigentlich altrussische Institution die des Gemeindebesitzes und Gemeindewesens war. In der Tat geschah es erst Ende des 16. Jahrhunderts, dass der Usurpator Boris Godunow die Freizügigkeit des Bauern aufhob und diesen an die Scholle fesselte; und erst der gewaltige Reformator Peter der Große begründete die persönliche Leibeigenschaft, indem er dem Adel vollkommen freie Verfügung über seine Gutsinsassen verlieh. Alle späteren Herrscher waren hingegen wieder bemüht, die Fessel der Leibeigenschaft zu lockern und ihre gänzliche Beseitigung anzubahnen. In diesem Sinne befahl Katharina II. die Entlassung der Leibeigenen auf Obrok, während Alexander I. sogar ihre völlige Emanzipation beschloss und in Litauen und in den Ostseeprovinzen auch wirklich durchführte; nur der nationalrussische Adel leistete Widerstand. Kaiser Nikolaus endlich war der Sache, schon um der Heeresorganisation willen, nicht weniger hold, und setzte zu drei verschiedenen Malen: 1826, 1836 und 1839, geheime Comites ein, welche die Aufhebung der Leibeigenschaft in Vorberatung zogen. Erst seit dem Revolutionsjahr von 1848 ließ er den Gedanken fallen, soll jedoch auf dem Sterbebette die Emanzipation der Leibeigenen seinem Sohne und Nachfolger ausdrücklich zur Pflicht gemacht haben.
Bei solchen von Herrscher auf Herrscher sich forterbenden Sympathien war es wohl natürlich und kein besonderes Wagnis, wenn auch die Schriftsteller und Dichter sich des Themas bemächtigten und es zu mehr oder weniger künstlerischen Gebilden verarbeiteten. Das geschah schon vor Turgeniew von mehreren andern Romantikern; und namentlich sind es zwei Novellen, die besondere Erwähnung verdienen. Die eine, in den dreißiger Jahren erschienen, ist von Nikolas Pawlow, heißt „Der Namenstag" und behandelt den Fluch der Leibeigenschaft weit tragischer, als es je wieder geschehen ist. Der Held wird vermöge seines großen Talents zum Musiker ausgebildet, kommt als solcher in verschiedene vornehme Häuser und verliebt sich in ein junges Edelfräulein. Sie erwidert seine Neigung und würde nicht anstehen, dem armen Künstler ihre Hand zu reichen; als er ihr aber bekennt, dass er Leibeigener ist, wird sie vor Schrecken ohnmächtig. Er hat reiche Gönner, die ihn gern loskaufen würden, aber verschiedene Umstände stellen sich dem entgegen. Voll Verzweiflung entflieht er, wird aufgegriffen, zuerst in ein Arrestantenregiment gesteckt, und später zu seiner großen Freude in die aktive Armee versetzt. Er kämpft im Kaukasus, zeichnet sich aus, wird Offizier und erhält das Georgenkreuz ; einen Orden, der nur im Kriege erworben werden kann und außerordentlich geschätzt wird. Nun will er die Geliebte aufsuchen und findet sie auch, aber bereits verheiratet. Sie erkennt ihn, ihr Gemahl wird eifersüchtig und tötet ihn im Duell. — Die andere Erzählung fuhrt den Titel „Wer ist Schuld" und hat Alexander Herzen zum Verfasser, der sich zeitweise auch mit der Poesie beschäftigt hat. Sie wurde im Jahre 1847 veröffentlicht und spielt gleichfalls in der höheren Gesellschaft. Hier ist es Lubinka, die natürliche Tochter eines Generals und seiner Leibeigenen, die abwechselnd der Gesindestube zugeteilt, abwechselnd in die Familie gezogen wird, drei bis vier Mal ihre Rolle tauschen muss und immer eine Zwitterstellung einnimmt, die sie bitter empfindet und schließlich einem sentimentalen Kandidaten in die Arme treibt; bis sie, schon mit diesem verheiratet, einen ihrem Geiste und ihrem Wesen ebenbürtigen Mann kennen und lieben lernt, und an dieser Liebe dahinsiecht.
Weit größeres Aufsehen als diese und ähnliche Tendenzgeschichten, helle Begeisterung für die Sache der Bauernemanzipation, und zwar auch in den maßgebenden Kreisen der großen Grundbesitzer und der hohen Staatsbeamten, erweckten die Skizzen Turgeniews, was sie ebenso sehr ihrem poetischen Glänze, als der damaligen Zeitströmung verdanken. Auch an dem Großfürsten Thronfolger fanden sie einen eifrigen Leser und Bewunderer. Der Dichter ist übrigens mit großer Wahrheitsliebe und Unparteilichkeit verfahren. Beispielsweise sieht der wohlhabende Bauer Khor keinen Grund, sich freizukaufen, und weist das desfallsige Anerbieten seines Herrn wiederholt zurück. Und der geprügelte Büffetdiener Wassja knackt unmittelbar nach der Exekution ganz vergnüglich Nüsse und preist seinen Gebieter, der ihm die Strafe zudiktiert hat, aus Herzensgrund: „Bei uns wird nicht für Kleinigkeiten gestraft, ruft er aus; unser Herr ist nicht so Einer; nein, nein, einen solchen Herrn findet man im ganzen Gubernium nicht mehr!" — Noch in der 1861 erschienenen größeren Erzählung „Väter und Söhne" meint der Held Bazarow, dass „die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht viel Gutes stiften werde, weil der russische Bauer im. Stande sei, sich selber zu bestehlen". Und diese Prophezeiung hat sich leider erfüllt. Es ist bekannt, dass die nächsten Folgen der Abschaffung jenes traurigen. Zustandes sehr bedenklicher Art gewesen sind; und ein ebenso gut unterrichteter wie maßvoller Schriftsteller*) malt sie, selbst abgesehen von den großen Bauernrevolten, mit folgenden düstern Farben: „Der große Grundbesitz geht dem Bankerott entgegen, die Bauernschaften sind in Liederlichkeit, Arbeitsscheue, Völlerei und Verarmung versunken. Konservative, demokratische und politisch -neutrale Beurteiler der ländlichen Zustände stimmen darin überein, dass die Produktion rückwärts geht, dass der Viehstand und der Umfang der bebauten Territorien fortwährend abnehmen, der Wert, des Grund und Bodens zugleich sinkt, die bäuerliche Moralität ungeheure Rückschritte gemacht hat, und dass alle Mittel zur Hebung der Volksbildung fehlen". — —
*) Julius Eckardt, in dem schon genannten Buche und Artikel.
„Es ist im nördlichen Russland bereits dahin gekommen, dass die Gemeinden nur noch mit Mühe Individuen ausfindig machen können, welche die Bewirtschaftung leer gewordener Parzellen übernehmen, auch wenn dieselben ihnen zu Spottpreisen angeboten werden". — — — „Die furchtbare Hungersnot, welche im Winter 1867 — 1868 wüthete, legte nicht nur einen furchtbaren Grad wirtschaftlicher Verkommenheit, sondern die gewissenlose Ausplünderung der Gemeindekassen und Gemeindemagazine durch die von den Bauern selbst gewählten Beamten bloß". — — Selbstredend sind das unvermeidliche Übergangszustände, die sich überall geltend machen würden; nur werden sie in Russland, wegen der totalen Unbildung des gemeinen Mannes und seiner jahrhundertelangen grausamen Knechtung, weil ihn die neue Freiheit völlig unvorbereitet traf und er sie überhaupt nicht einmal zu begreifen vermag, viel länger anhalten, weit schwerer zu beseitigen sein, als sonst irgendwo.
Neben den zahlreichen Landschafts- und Tierbildern enthalten die Skizzen „Aus dem Tagebuche eines Jägers" in der Hauptsache eine Naturgeschichte des russischen Volks, vornehmlich der ländlichen Bevölkerung Großrusslands. Sie spielen fast alle auf dem platten Lande, unter Bauern und Gutsbesitzern; und schon dieser Schauplatz, diese Helden bedingen ihren poetischen Fond; denn die einfachsten Zustände sind auch immer die poetischesten, der Landbewohner ist stets ursprünglicher und eigentümlicher als der Städter, und namentlich zeichnet sich das russische Landvolk durch eine Fülle und Mannigfaltigkeit von Typen und Originalen aus. Diese Fülle und Mannigfaltigkeit bringt Turgeniew zur vollen Geltung; er führt uns Bauern und Landedelleute, Herrschaften, Haus- und Hofgesinde in den allerverschiedensten Sorten und Exemplaren vor; und er weiß sie miteinander in dramatische Wechselbeziehung zu setzen, so dass uns in diesen gesammelten Skizzen ein buntes bewegtes Leben entgegentritt.
Was zunächst den Bauer betrifft, so behandelt ihn Turgeniew mit sichtlicher Vorliebe. Wenn die Moskowiter von ihren Nationalhoffnungen sprechen, dann verweisen sie auf den russischen Bauernstand, als die Grundlage und den Keim einer großen Zukunft; und diese Ansicht und Hoffnung teilt auch Turgeniew, soweit ihm dies nämlich bei seiner pessimistischen Lebens- und Weltauffassung möglich ist. Er zeigt uns, von welch inniger Heimatsund Vaterlandsliebe, von welcher Ehrfurcht und Opferfreudigkeit gegen Czar und Kirche der russische Bauer beseelt ist, wie hoch und heilig er die Bande des Familienlebens, das altertümliche Institut des Gemeindewesens hält, welch echte Nationaltugenden ihm also beiwohnen. In der Tat scheint das despotische Regiment, der Jahrhunderte lange Druck diese Nationaltugenden eher gestählt denn zerrüttet zu haben; trotz der versteinerten Formen der byzantinischen Kirche, trotz der Unwissenheit der Priester und der geringen Achtung in welcher diese stehen, lebt im Volke ein tiefreligiöser Sinn, und man findet unter ihm meist mehr Mitleid, Barmherzigkeit und Nächstenliebe, Friedlichkeit und Verträglichkeit, als Neid, Eifersucht und Bosheit, Streitsucht und Kampflust. Der russische Bauer ist, wie Turgeniew zeigt, ein äußerst gutmütiger und geduldiger, genügsamer und bedürfnisloser anstelliger und geschickter Mensch, der sich außerdem durch robuste Gesundheit, unverwüstliche Kraft und so reiche Natur-Anlagen auszeichnet, dass man fast Alles aus ihm machen könnte. Von offenem Verstände, instinktartiger Schlauheit, natürlichem Witz und Humor, besitzt er namentlich auch das, was man sonst nur dem Deutschen, oder doch nur den germanischen Völkern zuerkennt, nämlich Gemüt, und zwar Gemüt in hohem Grade.
Belege für irgend eine dieser Eigenschaften, Tugenden und Talente finden sich in jedem Stücke der Turgeniew'schen Sammlung. Zwei wahre Prachtkerle von Bauern sind die beiden Freunde Khor und Kalinitsch in der gleichnamigen Skizze. Khor ist der Realist, „ein positiver praktischer Charakter, ein administrativer Kopf, das Oberhaupt einer grossen blühenden Familie und im Besitze einer wohlgeordneten Wirtschaft, Dank welcher er wahrscheinlich auch schon ein hübsches Sümmchen erspart hat. Kalinitsch „gehört zur Zahl der Idealisten, der Romantiker, der exaltierten träumerischen Menschen"; er läuft mit dem Gutsherrn auf der Jagd herum und vernachlässigt darüber sein Hauswesen, er steht Jedermann zu Diensten und denkt an sich immer zuletzt, 'weshalb es ihm auch sogar an den wenigen Kopeken fehlt, um sich ein Paar neue Bastschuhe zu kaufen. Kalinitsch kann lesen und schreiben, auch lieblich singen ; er bespricht das Blut, den Schreck, die Käserei, vertreibt die Würmer; die Bienen gedeihen bei ihm wie bei keinem Andern, er hat in Allem eine glückliche Hand; ist aber einfältig und leichtgläubig, sorglos und unbekümmert wie ein Kind. Khor ist ein „Ungelernter", und er fühlt diesen Mangel, er weiß Bildung und Talent wohl zu schätzen: „Dieser Duselfritze hat schreiben gelernt", bemerkt er von Kalinitsch; „darum geraten ihm auch die Bienen so gut". Und er lässt, weil Kalinitsch eine glückliche Hand hat, ein neuangekauftes Pferd durch diesen in den Stall führen. Aber Khor hat viel gesehen und erfahren, er beobachtet gut und macht seine Schlüsse; er übersieht Kalinitsch zehnmal und neckt ihn ganz weidlich. Trotz dieser großen Unähnlichkeit sind Khor und Kalinitsch die besten Freunde und haben einander von Herzen lieb; wenn Kalinitsch den Khor besucht, dann bringt er ihm ein Büschel frischgepflückter Walderdbeeren mit, und Khor erweist dem Kalinitsch jede mögliche Gunst.
Eine noch stattlichere Figur als Khor ist der Freisasse Owssianikow. Obgleich kinderlos, nimmt er sich doch wie ein Patriarch aus, steht bei Jung und Alt, bei Vornehm und Gering in Ehre und Ansehen, und ist der Stolz und die Zierde seiner gewöhnlich sonst etwas verkommenen Standesgenossen. In Tracht und Lebensweise hält er an den alten Gebräuchen, ist sich seines Wertes voll bewusst, überhebt sich aber in keiner Weise, drängt sich nicht an die Gutsbesitzer, sondern lebt und bewegt sich genau in seiner Sphäre. Er rühmt nicht die alte Zeit, wiewohl er in der Gegenwart mancherlei vermisst; er verkennt nicht, dass die Zeit fortgeschritten, aber er sieht „keine neue Ordnung". — „Die jungen Herren klügeln gar zu sehr", bemerkt er von der neuen Generation der Gutsbesitzer. „Mit den Bauern gehen sie um wie mit einer Puppe. Drehen und zerren daran, zerbrechen's und werfen's von sich. Das Alte stirbt aus, und das Junge kommt nicht zum Leben".
Von der Resignation, mit welcher der Bauer die härtesten Schläge des Schicksals, die Tyrannei seiner Herren erträgt, weiß Turgeniew viele Geschichten zu erzählen. Ein Held dieser Art ist Jegor in der Skizze „Zwei Tage im Urwalde". Häusliches Unglück aller Art verfolgt ihn unerbittlich; er ist ein fleißiger Arbeiter, aber er kann auf keinen grünen Zweig kommen; in der letzten Nacht ist ihm seine einzige, seine letzte Kuh gefallen: doch keine Klage, kein Seufzer kommt über seine Lippen; er duldet schweigend und überlässt sich nur dann und wann einem starren Hinbrüten. — Solche Resignation kann aber auch häufig zur Unempfindlichkeit, zum völligen Stumpfsinn werden. In dem Kapitel „Das Himbeerwasser" heißt es von einem alten Leibeigenen: „Stjopuschka war mit Niemandem verwandt, Niemand kümmerte sich um ihn, Niemand sprach von ihm; er hatte nicht einmal eine Vergangenheit, kaum dass er bei der Seelenzählung mit eingerechnet wurde. Im Sommer wohnte er in einer verfallenen Vorratskammer hinter dem Hühnerstalle; im Winter in dem früheren Badeeingange; war die Kälte groß, dann übernachtete er auf dem Heuboden. Man war gewohnt, ihn zu sehen, ihm dann und wann wohl auch einen Fußtritt zu geben, aber Niemand wechselte je ein Wort mit ihm, und er selbst schien den Mund seit seiner Geburt nicht aufgetan zu haben". — Eine ebenso fragwürdige Existenz tritt uns in dem Abschnitt „Lgow" entgegen. Sutschok ist aus einer Hand in die andere gegangen, und nach der Laune seines jeweiligen Herrn alles Mögliche gewesen: Gärtner und Vorreiter, Schuster und Hundewärter, Koch und Kutscher, ja sogar einmal „Acteur" auf dem Privattheater einer seiner Gebieterinnen. Jetzt fungiert er als Fischer, sein Nachen ist aber von einer so elenden Beschaffenheit, dass er mit ihm auf ein Haar ertrunken wäre. "Während er nämlich im Gefolge des Jägers einer Entenjagd beiwohnt, füllt sich der Kahn mit Wasser und sinkt unaufhaltsam zu Grunde. Über eine Stunde stehen Alle bis an den Hals im Wasser und spähen nach Rettung umher; nur Sutschok bleibt steif und still, zwinkert bisweilen mit den Augen und schickt sich an einzuschlafen. Als man endlich wagt, das Wasser zu durchwaten und nach einer Furt zu suchen, kann sich der kleine Sutschok vor lauter Respekt selbst in der äußersten Not nicht entschließen, nach dem Rockschoß des vor ihm tappenden Jägers zu greifen; und es bedarf wiederholter Drohungen, nur um ihn zu nötigen, dass er den Kopf über dem Wasser behält und sich nicht willenlos der Gefahr ergibt. — Auch Angesichts des Todes schwindet jene Resignation nicht, und die Skizze „Der Tod" handelt eine Reihe von Fällen ab, wie „merkwürdig der Russe stirbt". Er stirbt ohne Angst und Klagen, kaum dass er seinen Qualen einen Seufzer erlaubt; er erwartet sein Ende mit beinahe gleichmütiger Fassung und ist nur bedacht, die wenigen Augenblicke, die ihm bleiben, zum Ordnen seiner irdischen Angelegenheiten zu verwenden. Der Jäger erzählt u. A. von einem Müller, der beim Abladen von Mühlsteinen sich einen Schaden zugefügt hatte, aber erst nach geraumer Zeit zum Arzte fuhr. Dieser erklärt ihm, dass die Sache sehr bedenklich, ja das Schlimmste zu fürchten sei. Der Müller ist darüber sehr erstaunt, schlägt aber den dringenden Rat des Arztes, bei ihm zu bleiben und sich von ihm behandeln zu lassen, entschieden aus. „Nein, antwortet er, muss man einmal sterben, so stirbt man doch lieber zu Hause. Wenn ich hier nun sterbe, der Herrgott mag wissen, was unterdessen zu Hause geschieht". Jede Erschütterung des Körpers muss ihm, wie der Arzt nochmals und aufs Nachdrücklichste versichert, zum sichern Verderben gereichen; trotzdem besteigt der Müller wieder seinen Wagen und fährt langsam, vorsichtig den holprigen Weg zurück, indem er wie sonst rechts und links die Vorübergehenden grüßt. Natürlich starb er nach wenigen Tagen. — Ein anderer Fall ist noch merkwürdiger. Der Geistliche reicht einer Sterbenden das Sakrament. Sie küsst das Kreuz, will mit der Hand unters Kopfkissen fahren — und haucht den letzten Seufzer aus. Unter dem Kissen lag ein Silberrubel. Sie wollte den Geistlichen für ihr eigenes Scheidegebet bezahlen.
Gesunde normale Menschen bilden bei Turgeniew die Ausnahme (sie sind bei ihm noch seltener als bei den anderen russischen Dichtern). Er liebt die Originale, an denen, wie schon bemerkt, das russische Volk so außerordentlich reich ist; er liebt vor Allem absonderliche, rätselhafte, krankhafte Originale, welche scheinbar dem Dichter einen sehr dankbaren Stoff bieten, und die Blicke des Lesers zumeist reizen und blenden. Tatsächlich erfordert ihre Herstellung jedoch großen Aufwand, einen Aufwand von mancherlei mehr künstlichen als künstlerischen Hilfsmitteln; und trotzdem werden sie bei näherer Prüfling stets an einer gewissen Unwahrscheinlichkeit leiden, in der Seele des Lesers eine Unbefriedigung und Verstimmung zurücklassen — gleichviel ob sie treu nach dem Leben kopiert oder bloß der überhitzten Phantasie des Dichters entnommen sind; denn Abnormitäten gehören an und für sich nicht in die Poesie. — Solch befremdliche paradoxe Naturen lässt Turgeniew schon unter Bauern auftreten, und ihre Zahl mehrt sich bedenklich, sobald es sich um die höheren Schichten der Gesellschaft handelt.
Zu den Bauern dieser Art gehört z. B. der finstere, unheimliche, seiner herkulischen Stärke wegen allgemein gefürchtete „Wilde Mann" in der Skizze „Die Sänger"; welche übrigens ein höchst anziehendes und bewegtes Bild von dem Wesen und Treiben des gemeinen Russen, von seinen Belustigungen und Ausschweifungen, sowie von seiner tiefen Neigung und exaltierten Begeisterung für den Volksgesang gewährt. — Eine dämonische vulkanische Natur ist der kleine Spitzbube Jephrem in dem Artikel „Zwei Tage im Urwald". Er nährt sich von Diebstahl und Raub; sinnt auf Zerstörung, nur weil er daran Gefallen findet; und Niemand von seinen Nachbarn wagt ihm in den Weg zu treten; selbst die von der Obrigkeit gegen ihn ausgesandten Häscher weiß er in Furcht und Schrecken zu setzen, so dass sie ihm zu Füssen fallen und sich ruhig von ihm durchprügeln lassen. — In jeder Hinsicht sein Gegenstück, aber deshalb nicht minder ein Naturphänomen, ist endlich der Zwerg Kassjan aus Schönschwerte in der gleichnamigen Skizze. Das Volk nennt ihn „gestört" und betrachtet ihn seines sanften, stillen Wesens wegen, seiner seltsamen Einfälle und Redeweise halber mit einer aus Furcht gemischten Zuneigung. Vermöge der ihm innewohnenden Kraft verscheucht Kassjan dem Jäger das Wild, denn er hält das Töten der in Freiheit lebenden Tiere für Sünde, und das Blut für etwas Heiliges: „Die Sonne Gottes scheint nirgends auf Blut und das Blut ist vor dem Lichte verborgen", spricht er. Die Natur versetzt ihn in Entzücken und Begeisterung; dann fließen ihm die Worte leicht und reich von den Lippen, und seine Rede tönt süß und poetisch.
Die Bauern sind Turgeniews Lieblinge, ihnen gegenüber geht ihm das Herz auf, und er zeichnet sie mit Sympathie und Wohlwollen. Aber mit dem Verlassen der Volkskreise ist seine Feder in Ironie und Sarkasmus getaucht, und es läuft viel Spott, Bitterkeit und Verachtung unter. In der ganzen Sammlung gibt es nur zwei oder drei Portraits von Gutsbesitzern, die man mit Behagen betrachtet; z. B. das des stotternden, um alle reichen Bräute auf zehn Meilen in der Bunde freienden Herrn Polutükin, der aber, unbeschadet dieser und noch manch anderer kleinen Schwächen, ein vortrefflicher Mensch und ein humaner Gebieter seiner Bauern und Untergebenen ist. — Auch für seine persönliche Freundin, die einfache würdige Matrone Tatjana Borissowna — die „das ganze Jahr auf dem Lande vergraben lebt, nicht klatscht, nicht piept, nicht knixt, nicht außer sich kommt, nicht erstickt, nicht vor Neugierde zittert. . . . Wunderbar !" — hat der Dichter nur Worte des Lobes und der Verehrung. Ihr Haus ist in der ganzen Nachbarschaft das gemütlichste und anziehendste, bis ein dicker fauler Neffe, den die Tante in ihrer Einfalt als ein großes Malergenie vergöttert, die Gäste allmählich verscheucht. — Im Übrigen ist Turgeniew den regierenden Gutsbesitzerinnen gar nicht grün, besonders nicht, wenn sie etwa deutschen Ursprungs sind; und er schildert mit unverhehlter Indignation eine Reihe von launischen, boshaften, grausamen, überspannten, verschrobenen Herrinnen. In welch lächerlicher Weise oft solche Trau ihr Gut verwaltet oder auch verwalten lässt, mit welchem Heer von betrügerischen Beamten und faulen nichtsnutzigen Domestiken sie sich umgibt, wie sie in ihren Leuten nur ein Spielzeug für Laune und Langeweile sieht, sich um die Wohlfahrt ihrer Bauern gar nicht kümmert, sondern diese nach dem Belieben der Schreiber und Aufseher placken und schinden lässt: das Alles wird in dem Abschnitt „Das Comtor" eingehend und überzeugend zur Anschauung gebracht.
Groß ist ferner die Zahl der liederlichen verkommenen Gutsbesitzer und sonstigen Edelleute dieses Schlages, die alle Zeugnis ablegen von der Hohlheit und Zersetzung der höheren russischen Gesellschaft. — Peter Karataew, ein roher aber sonst braver Landjunker, geht materiell und moralisch zu Grunde, weil er nicht das Mädchen seiner Liebe, die Leibeigene einer Nachbarin heiraten kann. Madame weigert sich, Matrona ihm abzutreten, und möchte dafür ihre alte fahlblonde schiefmäulige Gesellschafterin zum Ehegespons ihm anschmieren. Peter Karataew ergibt sich dem Rum und rezitiert — was freilich seinem Bildungsgrad nicht ganz zu entsprechen scheint — den bekannten Monolog aus Hamlet: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage." — Der Wittwer Radilow wird gleichfalls das Opfer eines Ehehindernisses. Er liebt die Schwester seiner verstorbenen Gattin ; da er diese aber nach den Satzungen der russischen Kirche nicht heiraten darf, lässt er Haus und Gut, sowie die alte hochbetagte Mutter im Stich und verschwindet mit der Geliebten. — Der abgedankte Leutnant Chlopakow ernährt sich als Spaßmacher eines jungen Fürsten, den er mit ein paar einfältigen Redensarten zu belustigen weiß. — Ein anderer Edelmann, der seine Geschichte selber erzählt, ist trotz seiner akademischen Bildung, trotz längeren Aufenthalts im Auslande, und obwohl er nach seiner Rückkehr zuerst geehrt und bewundert wurde, so sehr in der allgemeinen und in seiner eigenen Achtung gesunken, dass ihm Jedermann an die Nase fährt, und er sich absichtlich allerhand Erniedrigungen aussetzt. Er nennt sich den „Hamlet des Stschigrow'schen Kreises" (wie man sieht, geht Shakespeare und namentlich Hamlet unserm Dichter viel durch den Kopf), und er behauptet, dass es in jedem Kreise solcher Hamlets gebe. — Wovon dieser Unglückliche zu wenig besitzt, hat der „Reichsedelmann" Tschertapchanow zu viel. Durch die wahnsinnige Verschwendung seines Vaters um das ganze reiche Erbe gebracht, und nunmehr der kläglichsten Armut überantwortet, kennt er trotzdem vor Stolz und Dünkel sich selber nicht, ist hochfahrend und frech gegen Vornehm und Gering, und gerät, wenn ihm irgend etwas nicht zu Willen geschieht, sofort in die rasendste Wut.
Der gewöhnliche Landadel ist in Russland zwar ungebildet, dafür aber in seinem Familienleben und in der Behandlung seiner Untergebenen von patriarchalischem Zuschnitt, so dass er im Ganzen genommen einen mehr günstigen als ungünstigen Eindruck macht. Weit unvorteilhafter nimmt sich der hohe gebildete, im Hof- oder Staatsdienst beschäftigte oder beschäftigt gewesene Adel aus, der mit geringen Ausnahmen ein sonderbares Gemisch von Blasierteit und Rohheit verkörpert. Seine ganze, oft anscheinend so feine und vielseitige Bildung ist in der Regel nur eine formale und äußerliche; ein Firniss, der bei näherem Zusehen bröckelt und rohe wüste Leidenschaften verdeckt. Solchen Leidenschaften und Ausschweifungen frönt die Aristokratie heimlich und offen, meist ungestraft und auf Kosten ihrer Leibeignen und anderer kleinen Leute, die das Gesetz schutzlos lässt, und die das Gesetz nicht einmal anzurufen wagen. In dieser Beleuchtung, mit all diesen Torheiten und Auswüchsen, Lastern und Sünden erscheint der russische Adel in Turgeniews Skizzen. Wir erblicken aufgeblasene „Zivil-Generale"; Hohlköpfe, vor welchen alle niedriger Stehenden im Staube kriechen; Verschwender, denen ihre tollen Einfälle, ihre unsinnigen Pläne Millionen kosten; Wüstlinge, die sich von ihren Maitressen beherrschen lassen; Tyrannen und Wüteriche, die entweder nach Sibirien oder in das Irrenhaus gehören.
Wie der Adel mit dem gemeinen Mann umspringt, scheint der Dichter in seiner eigenen Familie erfahren zu haben. Wenigstens lässt er den Freisassen Owssianikow dem „Jäger" folgendes Stückchen erzählen: „Ja, Ihr Großvater, das war ein gewaltiger Herr. Kommt er mal geritten, zeigt mit der Hand auf ein Stück Feld, das unser war, so lang wir denken können, sagt: Mein Gebiet! und eignet sich's zu. Mein Vater wollte das nicht ertragen, und gab bei Gericht eine Klage ein. Gleich schickt Ihr Großvater seinen Oberjäger mit Kommando zu uns, die meinen Vater ergreifen und auf Ihr Erbgut schleppen. Ich war damals noch ein kleiner Junge und lief barfuß nach. Was geschieht! Man führt ihn unter die Fenster und peitscht ihn dort mit Ruthen. Und Ihr Großvater steht auf dem Balkon und sieht zu, und Ihre Großmutter sitzt am Fenster und sieht auch hin. Mein Vater schreit: Liebe Marja Wassiljewna, nehmen Sie sich meiner an, haben Sie wenigstens Erbarmen! Aber sie legte sich nur weiter vor und guckte. Nun nahm man dem Vater das Wort ab, sich von dem Landstrich loszusagen und befahl ihm, sich noch zu bedanken, dass man ihn lebendig gehen ließ." Ebenso soll Turgeniews Mutter ihre Erbmägde bis aufs Blut gepeinigt und sie, um sich in müßigen Stunden eine Unterhaltung zu verschaffen, allerlei sinnreichen Foltern unterworfen haben.
In der Hauptsache sind die Skizzen gegen die Leibeigenschaft gerichtet, von welcher der Dichter viele farbenreiche Illustrationen gibt. Die Leibeigenen werden nach dem Belieben ihrer Herren, ohne Grund und Not hin- und hergeworfen, plötzlich ihrer Heimat entrissen und nach einem Hunderte von Wersten entlegenen anderen Dorfe versetzt; aus bloßer Grausamkeit oder Bachsucht schimpflich degradiert oder zu Funktionen gezwungen, für welche sie sich durchaus nicht eignen, denen sie schlechterdings nicht gewachsen sind; man verweigert ihnen den Freikauf oder die Erlaubnis, auf Obrok*) zu gehen und sich eine ihren Fähigkeiten angemessene Stellung, einen einträglicheren Erwerb zu suchen, auch wenn man sie gar nicht nötig hat; sie werden mit unerträglichen Fronden, mit unerschwinglichen Steuern belastet, an Körper und Geist, Gut und Ehre geschädigt und systematisch verdorben und ruiniert: Alles, wie es ihren Despoten gerade einfällt, gegen deren Launen und Gelüste es keine Appellation gibt, oder eine Appellation doch ganz fruchtlos, wo nicht gar unheilvoll finden Beschwerdeführer sein würde. Es gibt aalglatte, heuchlerische Tyrannen, die wie der Gardeleutnant außer Dienst, Penotschkin, den Schein zu vermeiden wissen, mit ihren Bauern außer aller Berührung bleiben, und es nicht sehen mögen, wie diesen von dem harten spitzbübischen Verwalter das Fell über die Ohren gezogen wird; die ihre Bauern auf hohen Zins setzen, und dem Verwalter alles Andere, nur keine Rückstände gestatten. Es gibt gedankenlose Tyrannen, Despoten aus Gewohnheit, die wie Herr Stjegunow, ein Gutsbesitzer aus der guten alten Zeit, milde lächeln, wenn man ihnen von einer Verbesserung der Lage ihrer Bauern spricht, die sich ohne Kopfzerbrechen und Gewissensskrupel einfach an das Herkommen halten, und wenn sie einen Diener prügeln lassen, vergnüglich mit der Zunge den Takt dazu schnalzen. Es gibt allerdings auch Herren, die es mit den Bauern gut meinen, ihnen gerne aufhelfen wollen, aber in diesem Sinne nur Reden halten, sich deshalb nicht in eigene Unkosten stürzen mögen; junge Herren, welche direkt vom Auslande kommen, „für Alles, was Russisch ist" schwärmen, aber die Bauern nur kopfscheu und sich selber nur lächerlich machen. Solch' neumodische liberale Gutsbesitzer kann der Leser in den Erzählungen des Freisassen Owssianikow kennen lernen.
*) Obrok hieß die Abgabe, welche die Leibeigenen ihren Herren zu entrichten hatten, wenn sie mit dem Willen derselben ein Gewerbe oder ein Geschäft auf eigene Hand trieben. Selbstverständlich hing die Höhe des Obroks von beiderseitigem Übereinkommen ab und richtete sich nach den Fähigkeiten und dem Gewinnst des Leibeigenen. Es gab reiche, angesehene Kaufleute, sogar einige Millionäre, die trotzdem Leibeigene waren und blieben, ihren Herren natürlich einen sehr hohen Obrok zahlen mussten, aber vergebens die höchsten Summen für ihre Freilassung boten. Viele Edelleute schickten alle oder den größten Teil ihrer Bauern auf Obrok, wozu indes diese wieder auch nicht gezwungen werden durften.
Die Gelehrten der Moskowiter Partei sind beeifert gewesen zu beweisen, dass die Leibeigenschaft in Russland nicht ursprünglich bestanden hat, sondern verhältnismäßig erst spät eingeführt worden ist, dass die eigentlich altrussische Institution die des Gemeindebesitzes und Gemeindewesens war. In der Tat geschah es erst Ende des 16. Jahrhunderts, dass der Usurpator Boris Godunow die Freizügigkeit des Bauern aufhob und diesen an die Scholle fesselte; und erst der gewaltige Reformator Peter der Große begründete die persönliche Leibeigenschaft, indem er dem Adel vollkommen freie Verfügung über seine Gutsinsassen verlieh. Alle späteren Herrscher waren hingegen wieder bemüht, die Fessel der Leibeigenschaft zu lockern und ihre gänzliche Beseitigung anzubahnen. In diesem Sinne befahl Katharina II. die Entlassung der Leibeigenen auf Obrok, während Alexander I. sogar ihre völlige Emanzipation beschloss und in Litauen und in den Ostseeprovinzen auch wirklich durchführte; nur der nationalrussische Adel leistete Widerstand. Kaiser Nikolaus endlich war der Sache, schon um der Heeresorganisation willen, nicht weniger hold, und setzte zu drei verschiedenen Malen: 1826, 1836 und 1839, geheime Comites ein, welche die Aufhebung der Leibeigenschaft in Vorberatung zogen. Erst seit dem Revolutionsjahr von 1848 ließ er den Gedanken fallen, soll jedoch auf dem Sterbebette die Emanzipation der Leibeigenen seinem Sohne und Nachfolger ausdrücklich zur Pflicht gemacht haben.
Bei solchen von Herrscher auf Herrscher sich forterbenden Sympathien war es wohl natürlich und kein besonderes Wagnis, wenn auch die Schriftsteller und Dichter sich des Themas bemächtigten und es zu mehr oder weniger künstlerischen Gebilden verarbeiteten. Das geschah schon vor Turgeniew von mehreren andern Romantikern; und namentlich sind es zwei Novellen, die besondere Erwähnung verdienen. Die eine, in den dreißiger Jahren erschienen, ist von Nikolas Pawlow, heißt „Der Namenstag" und behandelt den Fluch der Leibeigenschaft weit tragischer, als es je wieder geschehen ist. Der Held wird vermöge seines großen Talents zum Musiker ausgebildet, kommt als solcher in verschiedene vornehme Häuser und verliebt sich in ein junges Edelfräulein. Sie erwidert seine Neigung und würde nicht anstehen, dem armen Künstler ihre Hand zu reichen; als er ihr aber bekennt, dass er Leibeigener ist, wird sie vor Schrecken ohnmächtig. Er hat reiche Gönner, die ihn gern loskaufen würden, aber verschiedene Umstände stellen sich dem entgegen. Voll Verzweiflung entflieht er, wird aufgegriffen, zuerst in ein Arrestantenregiment gesteckt, und später zu seiner großen Freude in die aktive Armee versetzt. Er kämpft im Kaukasus, zeichnet sich aus, wird Offizier und erhält das Georgenkreuz ; einen Orden, der nur im Kriege erworben werden kann und außerordentlich geschätzt wird. Nun will er die Geliebte aufsuchen und findet sie auch, aber bereits verheiratet. Sie erkennt ihn, ihr Gemahl wird eifersüchtig und tötet ihn im Duell. — Die andere Erzählung fuhrt den Titel „Wer ist Schuld" und hat Alexander Herzen zum Verfasser, der sich zeitweise auch mit der Poesie beschäftigt hat. Sie wurde im Jahre 1847 veröffentlicht und spielt gleichfalls in der höheren Gesellschaft. Hier ist es Lubinka, die natürliche Tochter eines Generals und seiner Leibeigenen, die abwechselnd der Gesindestube zugeteilt, abwechselnd in die Familie gezogen wird, drei bis vier Mal ihre Rolle tauschen muss und immer eine Zwitterstellung einnimmt, die sie bitter empfindet und schließlich einem sentimentalen Kandidaten in die Arme treibt; bis sie, schon mit diesem verheiratet, einen ihrem Geiste und ihrem Wesen ebenbürtigen Mann kennen und lieben lernt, und an dieser Liebe dahinsiecht.
Weit größeres Aufsehen als diese und ähnliche Tendenzgeschichten, helle Begeisterung für die Sache der Bauernemanzipation, und zwar auch in den maßgebenden Kreisen der großen Grundbesitzer und der hohen Staatsbeamten, erweckten die Skizzen Turgeniews, was sie ebenso sehr ihrem poetischen Glänze, als der damaligen Zeitströmung verdanken. Auch an dem Großfürsten Thronfolger fanden sie einen eifrigen Leser und Bewunderer. Der Dichter ist übrigens mit großer Wahrheitsliebe und Unparteilichkeit verfahren. Beispielsweise sieht der wohlhabende Bauer Khor keinen Grund, sich freizukaufen, und weist das desfallsige Anerbieten seines Herrn wiederholt zurück. Und der geprügelte Büffetdiener Wassja knackt unmittelbar nach der Exekution ganz vergnüglich Nüsse und preist seinen Gebieter, der ihm die Strafe zudiktiert hat, aus Herzensgrund: „Bei uns wird nicht für Kleinigkeiten gestraft, ruft er aus; unser Herr ist nicht so Einer; nein, nein, einen solchen Herrn findet man im ganzen Gubernium nicht mehr!" — Noch in der 1861 erschienenen größeren Erzählung „Väter und Söhne" meint der Held Bazarow, dass „die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht viel Gutes stiften werde, weil der russische Bauer im. Stande sei, sich selber zu bestehlen". Und diese Prophezeiung hat sich leider erfüllt. Es ist bekannt, dass die nächsten Folgen der Abschaffung jenes traurigen. Zustandes sehr bedenklicher Art gewesen sind; und ein ebenso gut unterrichteter wie maßvoller Schriftsteller*) malt sie, selbst abgesehen von den großen Bauernrevolten, mit folgenden düstern Farben: „Der große Grundbesitz geht dem Bankerott entgegen, die Bauernschaften sind in Liederlichkeit, Arbeitsscheue, Völlerei und Verarmung versunken. Konservative, demokratische und politisch -neutrale Beurteiler der ländlichen Zustände stimmen darin überein, dass die Produktion rückwärts geht, dass der Viehstand und der Umfang der bebauten Territorien fortwährend abnehmen, der Wert, des Grund und Bodens zugleich sinkt, die bäuerliche Moralität ungeheure Rückschritte gemacht hat, und dass alle Mittel zur Hebung der Volksbildung fehlen". — —
*) Julius Eckardt, in dem schon genannten Buche und Artikel.
„Es ist im nördlichen Russland bereits dahin gekommen, dass die Gemeinden nur noch mit Mühe Individuen ausfindig machen können, welche die Bewirtschaftung leer gewordener Parzellen übernehmen, auch wenn dieselben ihnen zu Spottpreisen angeboten werden". — — — „Die furchtbare Hungersnot, welche im Winter 1867 — 1868 wüthete, legte nicht nur einen furchtbaren Grad wirtschaftlicher Verkommenheit, sondern die gewissenlose Ausplünderung der Gemeindekassen und Gemeindemagazine durch die von den Bauern selbst gewählten Beamten bloß". — — Selbstredend sind das unvermeidliche Übergangszustände, die sich überall geltend machen würden; nur werden sie in Russland, wegen der totalen Unbildung des gemeinen Mannes und seiner jahrhundertelangen grausamen Knechtung, weil ihn die neue Freiheit völlig unvorbereitet traf und er sie überhaupt nicht einmal zu begreifen vermag, viel länger anhalten, weit schwerer zu beseitigen sein, als sonst irgendwo.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,