„Aus dem Tagebuche eines Jägers"

Turgeniews Naturschilderungen und Tiermalereien.

Die Skizzen „Aus dem Tagebuche eines Jägers“ spielen im Herzen von Großrussland; zum größten Teil im Gouvernement Orel, also in der Heimat des Verfassers; die übrigen in den benachbarten Gouvernements Tula, Kaluga, Kursk, Woronesch. Ein leidenschaftlicher Jäger streift mit Büchse und Waidtasche, allein oder in Begleitung eines Dieners, zu Fuß oder auf einer Droschke oder Telega, vom frühen Morgen bis späten Abend, oft Tag und Nacht umher; er streift durch Feld und Wald, Sumpf und Dickicht, nächtigt im Freien oder in einem Schuppen oder bei einem Hirtenfeuer, oder er nimmt die Gastfreundschaft eines Bauern oder Gutsnachbarn in Anspruch; wobei er allerhand Bekanntschaften macht und in die verschiedensten Geschichten und Verhältnisse eingeweiht wird.


Wahrscheinlich sind diese Streifereien und Abenteuer kaum erdichtet, sondern sie beruhen auf eigenen Erlebnissen. Turgeniew selber ist, wie er aus manch humoristischen Bemerkungen schließen lässt, ein leidenschaftlicher Jäger. Von Kindesbeinen an hat er viel und gern in der freien Natur und mit dem gemeinen Manne verkehrt; lange bevor er daran dachte, diesen Verkehr literarisch auszunutzen. Er hat eine große Liebe, eine wahre Leidenschaft für die Natur, und ein warmes Herz für das Volk; er hat beide in ihren geheimsten Eigentümlichkeiten belauscht und studiert, und darum ist er auch ein so gefeierter Dichter geworden. Freilich genügte das noch nicht; er musste auch andere Länder und Völker kennen lernen, er musste die Heimat mit der Fremde, seine Landsleute mit anderen Nationen vergleichen können, er musste den Geist und die Bildung des Auslandes studiert haben, ehe es ihm gelingen konnte, diese Skizzen zu schreiben: denn trotz ihrer nationalen und patriotischen Färbung zeigen sie alle eine überlegene Bildung und überlegene Kenntnisse, einen, so zu sagen, kosmopolitischen Geist.

Die Skizzen haben fast alle einen landschaftlichen Vorder- oder Hintergrund, die einzelnen Szenen lassen fast immer landschaftliche Perspektiven durchschimmern, oder sie sind durch landschaftliche Bilder von einander getrennt; oft überwiegt die Landschaftsmalerei, z. B. in „Der Teufelsgrund" und „Zwei Tage im Urwalde"; ja zuweilen scheint sie, wie in dem Stück „Der Wald und die Steppe", der eigentliche und alleinige Zweck zu sein.

Landschaftliche Beschreibungen pflegen nun dem Leser selten zu behagen, sehr häufig von ihm überschlagen zu werden; aus dieser Rücksicht, oder vielleicht im Gefühl ihrer Ohnmacht, vermeiden sie auch die meisten modernen Dichter. Jedenfalls ist aber die Gabe, die Natur anschaulich und poetisch zu schildern, mit ein Kennzeichen des echten Dichters; und jedenfalls sind gelungene Landschaftsbilder zur rechten Zeit und an der richtigen Stelle angebracht, von großer Wirkung, von einem Effekte, den ein begabter Dichter sich nicht leicht entgehen lassen wird.

Turgeniew vermeidet nicht nur landschaftliche Schilderungen nicht, sondern umgekehrt, er sucht fast nach einer Gelegenheit, um sie anbringen zu können; er verweilt bei ihnen mit sichtlicher Vorliebe, und er ist bei der Beschreibung der Natur eigentlich ausführlicher als bei der Schilderung des Menschen. Und doch ist er in seinen Landschaftsbildern nie und nirgends ermüdend, sondern stets frisch und neu und fesselnd, weil er alle Phrasen, alles bloße Wortgeklingel hasst, und nur malt, was er selber gesehen und empfanden hat. Und deshalb stehen ihm auch ganz eigene Ausdrücke, immer neue Vergleichungen und überraschende Wendungen zu Gebote. Er ist zu jeder Tages- und Nachtzeit draußen gewesen, er hat jeden Wind erprobt und jedes Wetter gekostet, stundenlang auf dem Rücken gelegen und nichts weiter getan, als die Bildung der Wolken, den Wechsel des Sonnenlichts, das Geringel der Flusswellen, das Glühen der Libelle beobachtet, dem Singen der Vögel, dem Flüstern der Blätter, dem Klingen der Lüfte gelauscht. Seine Darstellungsweise ist anscheinend eine sehr realistische, oft sogar von praktischen Fingerzeigen für Jagd und Landwirtschaft durchflochten; trotzdem entbehrt sie nirgends einer idealen Verklärung und poetischen Absicht; nur dass diese sich nicht aufdrängt, sondern unbewusst in das Gemüt des Lesers einzieht und es nach dem Willen des Dichters umstimmt.

Mit welch feiner Berechnung Turgeniew verfährt, wie er die Natur, die Elemente und die Landschaft stets in seine Erzählung hineinzuziehen weiß, sie nicht nur als bedeutsame Staffage, als wirkungsvolles Vorspiel, Zwischenspiel oder Nachspiel benutzt, sondern sie zuweilen in dem sich abrollenden Drama auch selber eine tätige eingreifende Rolle übernehmen, oder gar den etwas dunkel bleibenden Ausgang durch sie andeuten lässt — davon ein paar Beispiele:

Der Jäger hat schon öfters von einem finstern, harten, ganz für sich lebenden Menschen gehört, der in der Umgegend der „Werwolf" heißt. Und wo macht er endlich dessen Bekanntschaft? — Im unwegsamen Walde, in stockfinsterer Nacht, als der Jäger, um sich vor dem plötzlich hereingebrochenen Unwetter zu schützen, unter einem Strauche kauert, erblickt er beim Aufleuchten des Blitzes den „Werwolf", dicht vor sich, als wäre die riesige Figur aus der Erde gewachsen. In seiner armseligen Hütte, allein mit zwei unerzogenen Kindern, beim Flackern eines Holzspans, während der Regen an die Fensterchen klatscht und der Sturm im Dache wütet, erklärt der „Werwolf" die Ursache seiner Seelenstimmung, dass ihm sein Weib mit einem vorbeiwandernden Kleinbürger davongelaufen ist.

In schwüler Mittagsglut, wo es selbst im Schatten der Uferschlucht, am Rande des murmelnden Quells unerträglich ist, erzählt ein altes Bäuerlein, das eben verstäubt und in zerfetzten Kleidern, lechzend vor Hitze und Durst, von einer weiten zu seinem Gutsherrn unternommenen Reise zurückkehrt, seine verzweifelte Lage. Der Sohn, der ihn bisher teilweise erhalten, ist gestorben; der Verwalter schindet ihn wegen der rückständigen Kopfsteuer, und auch der harte Erbherr hat ihm keinen Nachlass bewilligt. „Aber", meint Wlas, indem er sonderbar auflacht — „nehmen kann man mir nichts mehr, man mag es noch so pfiffig anfangen — es ist Alles umsonst. O, Du mein unschuldiges Haupt!" — „Am andern Ufer", bemerkt der Jäger, „stimmte Jemand ein Liedchen an. Ach, das klang so schwermütig und der arme Wlas blickte so bekümmert nieder."

Es ist Herbst. Der Himmel umzieht sich bald mit lockern weißen Wolken, bald wird er auf Augenblicke wieder stellenweise frei. Ebenso verändert der Wald, je nachdem die Sonne hervorbricht oder sich wieder verschleiert, fortwährend sein Aussehen. Die Vögel haben sich geborgen und schweigen. Da belauscht der Jäger das letzte Stelldichein eines Liebespärchens; aus den Armen des betrogenen, vor Liebe und Trennungsweh kranken Mädchens reißt sich kalt und roh ihr erbärmlicher geckenhafter Verführer. Und nun erhebt sich der Abendwind und jagt die abgefallenen, verschrumpften Blätter vor sich her, in der Luft krächzt unheilschwanger ein Rabe, die Sonne blickt bleich und kalt; die Natur scheint das Nahen des Winters zu empfinden und bang in sich zusammenzuschauern.

Die Slawen leben in innigster Beziehung zu der sie umgebenden Natur und Tierwelt, und überall ist der Glaube an Haus-, Feld- und Waldgeister verbreitet. Auch diese Sympathie mit der Natur, diesen poetischen Aberglauben des Volkes weiß Turgeniew meisterhaft wiederzugeben, wofür u. A. die Skizze „Der Teufelsgrund“ einen glänzenden Beleg bietet.

Einige Hirtenknaben, zu denen der Jäger sich gesellt, lagern um das nächtliche Feuer, und als sie den Fremden eingeschlafen wähnen, fahren sie in ihren Gesprächen fort. Der feige, aber ungemein geisterkundige Iljuscha erzählt von dem Kobold, der ihn kürzlich in der Schöpfmühle erschreckt hat; der für sein Alter sehr ernste und nachdenkliche Kostja berichtet von der Russalka, der Wassernixe, die es dem Dorfzimmermann Gawril angetan habe, dermaßen, dass dieser jetzt siech und traurig umhergehe. Es folgen noch zahlreiche Spuk- und Geistergeschichten: von dem redenden Hammel; von dem im Grabe nicht Ruhe findenden Gutsherrn; von der alten Uljana, die auf dem Kirchhofe sich selber gesehen; von dem Trischka oder Antichrist, der zugleich mit dem „Himmelszeichen", d. i. der Sonnenfinsternis, erscheint; vom Waldteufel, und so fort. Diese Erzählungen erfahren mancherlei Unterbrechung, aber auch gewissermaßen eine Bekräftigung durch fortgesetzte Zwischenfälle, die sich selber wieder wie Spuk und Zauber ausnehmen. Ein weißes Täubchen, „die gen Himmel steigende Seele eines Gerechten", flattert in den Lichtschein; im nahen Schilfe rauscht und stöhnt es; die Hunde erheben sich mit krampfhaftem Geheul und stürzen fort in die Finsternis. — „Plötzlich ertönte irgendwo in der Ferne ein gedehnter, klingender fast seufzender Laut; einer von jenen unbegreiflichen nächtlichen Lauten, wie sie oft inmitten der tiefsten Stille sich erheben, in der Luft stehen bleiben und sich dann gleichsam dahinsterbend verflüchtigen. Man lauscht und es scheint Einem, als ob es nichts wäre, aber es tönt. Es schien, als ob Jemand einen langen Schrei am Himmelsgewölbe selbst ausgestoßen habe . . . als ob ein Anderer ihm aus dem Walde mit einem dünnen scharfen Gelächter antwortete, und ein schwaches Zischen und Pfeifen auf dem Fluss dahinzöge. Die Knaben blickten sich an und erbebten ..." — „Mit uns ist die Kraft des Kreuzes!" stammelte Iljuscha. — Die Knaben berauschen sich förmlich an ihren Geschichten, sie zittern vor Furcht, aber diese Furcht ist Wollust, und der jüngste von ihnen, der erst siebenjährige Wanja wagt sich nicht unter seiner Bastdecke hervor, die ihn bis zur Nasenspitze einhüllt, und verzichtet um dieses Schlupfwinkels willen sogar auf die am Feuer gekochten „Kartoschki" (Kartoffeln). Nur Pawluschka, der Zweitälteste Knabe, zeigt sich furchtlos und beherzt und bis zu einem gewissen Grade auch als Freigeist. Er deutet die nächtlichen Töne, zur geringen Befriedigung seiner Kameraden, als Stimmen von Vögeln und Fröschen; und erzählt, dass der Trischka, welcher um die Zeit der Sonnenfinsternis in sein Dorf gekommen und die Leute bis auf den Tod erschreckt habe, hinterher kein Anderer gewesen sei, als der Böttcher Wawil, der eine neue Kanne gekauft und diese sich auf den Kopf gestülpt habe. Pawluschka reitet durch Nacht und Graus dem Wolf entgegen, und geht nach dem Fluss, um Wasser zu schöpfen. Als er aber zurückkehrt, erklärt er, dass es dort denn doch nicht richtig sei. Aus dem Wasser habe er eine Stimme gehört, die Stimme seines kürzlich ertrunkenen Gespielen Wassja, der ihm gerufen: „Pawluschka, du, Pawluschka, komm zu mir!“ — Bezeichnend für den Dichter, nämlich für seine eigenen mystischen und fatalistischen Neigungen, ist der Schluss dieser Skizze: — „Zu meinem Bedauern muss ich noch hinzufügen, dass Pawluschka in demselben Jahre schon nicht mehr war. Er ertrank nicht, aber er starb an einem Sturze mit dem Pferde. Schade, es war ein prächtiger Bursche!" — — —

Unserem Dichter selber ist die Natur, eine wie große Leidenschaft er auch für sie fühlt, nicht immer sympathisch; sie erregt in ihm zuweilen Grauen und Schrecken, wenn ihre eigne Übermacht der Unmacht des Menschen gegenübertritt. So wird die Skizze „Zwei Tage im Urwalde" mit folgender Betrachtung eingeleitet: „—— Aus dem tiefsten Innern der malten Waldung, aus dem ewigen Schoße der Wasser ertönt die gleiche Stimme der Natur, welche zum Menschen spricht: Ich habe mit Dir nichts zu schaffen, ich herrsche — Du aber sorge um Dein Leben." — — — „Der unveränderliche finstre Nadelwald zeigt sich entweder in mürrischem Schweigen, oder mit dumpfem Geheul, und das Bewusstsein unserer Nichtigkeit durchdringt bei seinem Anblick das Herz noch tiefer und unwiderstehlicher. Schwer fällt es dem Menschen, dem gestern geborenen und schon heute dem Tode geweihten Eintagswesen, den kalten teilnahmslos auf ihn gerichteten Blick der ewigen Isis zu ertragen. Nicht bloß die kühnen Hoffnungen und hochfliegenden Träume der Jugend werden gedemütigt und erlöschen in ihm beim Eiseshauch der Elementarmächte: seine ganze Seele zieht sich gebeugt und scheu in sich selbst zurück; er fühlt, dass der letzte seiner Brüder vom Angesicht der Erde verschwinden könnte, ohne dass nur eine Kiefernadel an den Zweigen darüber erzitterte; er fühlt seine Vereinsamung, seine Schwäche, seine Abhängigkeit vom Zufall, und mit hastiger heimlicher Angst kehrt er zu den kleinen Sorgen und Mühen des Lebens zurück; ihm wird's leichter ums Herz in dieser von ihm selbst geschaffenen Welt ; hier fühlt er sich heimisch, hier wagt er noch an seine Bedeutung zu glauben und seiner Kraft zu vertrauen." In diesem Ton geht es weiter, das Gefühl der Nichtigkeit, Abhängigkeit und Verlassenheit übermannt immer mehr den Jäger — was uns übrigens bei einem so unermüdlichen Jäger etwas befremdlich dünkt — und eine geradezu krankhafte Furcht und unheimliche Verdüsterung bemächtigt sich seiner:

„Ich setzte mich auf einen gefällten Baumstamm, die Ellbogen auf die Kniee stützend. Nachdem ich so lange schweigend den Kopf gesenkt, erhob ich ihn langsam wieder und Hess die Blicke spähend umherschweifen. 0, wie Alles ringsum still, finster und traurig war — nein, nicht bloß traurig, sondern zugleich stumm, kalt und grausig! Das Herz schnürte sich mir zusammen. In diesem Augenblick, an diesem Orte spürte ich den Hauch des Todes, ich fühlte seine unaufhörliche Nähe, als hätte ich ihn mit der Hand tasten können. Wenn auch nur ein Schall hörbar gewesen, ein flüchtiges Bauschen aus dem Schlünde des mich umgebenden Waldes zu mir gedrungen wäre! Ich senkte wieder, fast aus Furcht, den Kopf; mir war, als hätt' ich einen Blick getan, wohin dem Menschen nicht gestattet ist zu sehen . . . Ich drückte meine Hand vor die Augen."

Dem tiefen Instinkt der Slawen für die Natur, dem innigen fast kindlich zu nennenden Verhältnis, in welchem sie zur Mutter Natur stehen, entspricht die Neigung und Begabung ihrer Dichter zu Naturschilderungen und Naturmalereien, deren Auffassung und Durchführung meistens eine wahrhaft poetische ist, deren poetischer Glanz und Gehalt noch verstärkt wird durch jenen schon bei Turgeniew angedeuteten mystisch-fatalistischen Zug, welchen auch die anderen slawischen Dichter mehr oder weniger mit ihrem Volke teilen. In der russischen Literatur ist es freilich wieder erst Puschkin, der als selbständiger Beobachter und Maler der Nato auftritt, während alle seine Vorgänger sich noch von bloßen, den fremdländischen Mustern entlehnten Reminiszenzen nähren. Puschkin nahm zuerst die Natur, wo er sie fand und wie er sie fand, die Natur seines Vaterlandes und seiner Umgebung, und meistens weniger die romantische als die heitere gemütliche und, so zu sagen, prosaische Natur. Seine Naturschilderungen sind kurz und kernig, mit Laune und Behagen ausgeführt, und im Verhältnis zum übrigen Inhalt der Dichtung nur Beiwerk. Weit farbiger und glänzender, tiefsinniger und vieldeutiger, detaillierter und langatmiger sind die Natur Schilderungen Lermontows; namentlich hat er die großartige Gebirgswelt des Kaukasus mit einem Feuer und einer Pracht geschildert, die das Herz des Lesers unwiderstehlich hinreißen und seine Sinne entflammen. Aber er liebt es, viel Schwermut und viel Rätselhaftes in die Natur hineinzutragen, ihr das Bewusstsein von Hoheit und Macht anzudichten, und seine Schilderungen nehmen einen unverhältnismäßig großen Raum ein. Nach allen diesen Richtungen ist Turgeniew sein Schüler und Nachahmer, und man kann fast behaupten, dass Lermontow auf dem Felde der Naturschilderung von Turgeniew noch übertroffen wird, dem noch mehr Farbenschmelz und Reichtum an feinsinnigen philosophischen Gedanken, noch süßere, einschmeichelndere und bezauberndere Töne zu Gebote stehen. Außer den gegebenen Proben mag nur noch eine, wieder aus dem „Teufelsgrund", folgen, die des Dichters Meisterschaft in ihrer ganzen Glorie bekundet : „ . . . Die königliche Nacht stand feierlich über uns. Die mitternächtige trockene Wärme war der feuchten Frische des Spätabends gefolgt und hatte noch lange auf den entschlafenen Feldern wie ein weicher Flaum zu ruhen, denn noch musste eine geraume Zeit vergehen, bevor das erste Zwitschern der Waldvögel ertönen und die ersten Strahlen der Morgenröte in den Tautropfen erzittern konnten. Der Mond stand noch nicht am Himmel, er ging erst später auf. Das zahllose Heer der goldenen Sterne schien leise nach der Milchstraße hin zu fließen; dann und wann flackerten einige hell auf, und wie ich so auf sie hinschaute, fühlte ich gleichsam den strebenden, unaufhaltsamen Flug der Erde! "

Mit derselben Liebe und Kunst, wie Turgeniew die Natur malt, malt er auch die Tierwelt. Er hat köstliche Portraits von Hunden, Pferden und Vögeln etc. geliefert, in welchen sich nicht nur eine genaue Kenntnis des äußern Tieres, sondern auch ein wunderbares Eindringen in die Tierseele offenbart, und die meistens von Humor und Komik strotzen. Er weiß auch dem Tiere eine eigene Physiognomie zu geben, die zwar menschenartig, aber niemals eine bloße Karikatur des Menschen wird. So schildert er in der Skizze „Jermolai und die Müllerin" einen magern Jagdhund mit folgenden glücklichen Strichen: „Gewöhnlich hatte er, wenn er saß, seinen Stumpfschwanz eingezogen, machte Mienen, schauderte zu Zeiten auf und lächelte niemals. (Und es ist doch bekannt, fügt der Dichter in Parenthese hinzu, dass die Hunde die Fähigkeit besitzen, zu lächeln und sogar recht freundlich zu lächeln). Er war grenzenlos hässlich, und nie ließ das müßig gehende Hofgesinde die Gelegenheit vorüber, sich mit giftigem Spotte über sein Äußeres auszulassen. Aber alle diese Spöttereien und selbst Schläge ertrug Waletka mit wunderbarer Kaltblütigkeit. Besonderes Vergnügen gewährte er den Köchen, die sogleich ihre Arbeit liegen ließen und ihm schreiend und schimpfend nachsetzten, wenn er seine hungrige Schnauze durch die halbgeöffnete Tür der einladend warmen und wohlriechenden Küche steckte. Auf der Jagd zeichnete er sich durch Unermüdlichkeit aus und hatte eine passable Witterung. Sein Herr fütterte ihn nie. Aber wenn Waletka gelegentlich einen Hasen erwischen konnte, so fraß er ihn auch mit wahrem Genüsse ganz und gar bis auf den letzten Knochen auf, irgendwo im kühlen Schatten unter einem grünen Strauche, aber in höflicher Entfernung von seinem Herrn, der ihn in allen bekannten und unbekannten Mundarten verwünschte." —

Natur wie Tiere weiß Turgeniew stets in gewisse Beziehungen zum Menschen zu bringen; in ihrem Tun und Wesen spiegelt sich irgend eine charakteristische Eigenschaft der betreffenden Person wieder, oder sie ergänzen doch den Charakter dieser Person. Wie zum Beispiel in Cervantes' unsterblicher Dichtung der jämmerliche Klepper Rozinante den edlen Bitter Don Quixote, und der graue Esel den verschmitzt einfältigen Schildknappen Sancho Pansa wesentlich mit kennzeichnen, und gewissermaßen integrierende Teile ihrer Gebieter ausmachen, so ist auch bei Turgeniew jener Köter Waletka ein würdiges Seitenstück zu seinem Herrn, dem langen mageren Jäger und Vagabunden Jermolai.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russische Literatur und Iwan Turgeniew,