Alexanders Erzieher: Laharpe, M. N. Muravjev, Graf Saltykow

Diese Erziehung war der Gegenstand großer Sorgen Katharinas. Sie verfasste selbst gewisse Regeln als Leitfaden für diejenigen, denen dieselbe anvertraut war. Hier wie auch in der „Instruktion" (Nakaz), nahm Katharina zu ihren philosophischen Autoritäten Zuflucht und stützte sich auf die Ideen Lockes und Rousseaus. Indem sie die, Überwachung der Erziehung Alexanders dem Grafen N. J. Saltykov anvertraute, wählte sie den Haupterzieher aus der europäischen Sphäre, zu der sie gern Beziehungen unterhielt. Der Schweizer Laharpe war nicht nur Philosoph im Sinne der französischen Aufklärung und nicht nur ein theoretischer Republikaner; der Vermittler bei dieser Berufung war der philosophische Agent und das Faktotum der damaligen liberalen Höfe, der bekannte Verfasser der „Korrespondenz", Grimm. Laharpe, der sich bei Alexander in den Jahren 1783 — 1795 befand, stand zweifelsohne an Geist, Kenntnissen und Charakter über allen Erziehern desselben und hatte selbstverständlich den größten Einfluss auf die Entwicklung der Anschauungen und der Richtung seines Zöglings. Aber Laharpes Lage war eine sehr schwierige: Er nahm seine Pflichten zu streng und wollte keine Zugeständnisse den höfischen Berechnungen machen, deren es jedoch in Fülle gab. Indem er sich bestrebte, Alexander vor den Einwirkungen der Hofatmosphäre zu schützen und seine Denkweise nicht verbarg, musste er sich dadurch Feinde zuziehen, um so mehr, als er auch am Hofe Katharinas seine politische Tätigkeit zu Gunsten seines Vaterlandes nicht aufgab. Diese Feindseligkeiten, die von seinen schweizerischen Gegnern und von russischen Höflingen ausgingen, störten ihn auch in seiner erzieherischen Aufgabe. Endlich wurden gegen ihn politische Beschuldigungen gerichtet, aus Anlass seiner politischen Wirksamkeit in schweizerischen Angelegenheiten, obwohl diese nicht öffentlich war. Besonders gefährlich waren diese Beschuldigungen zur Zeit, als die französische Revolution in ihrer terroristischen Phase Katharina Furcht einflößte. Wie immer unterstützte die Kaiserin Laharpe und nachdem sie seine Erklärungen in Bezug auf die ihm zur Last gelegten Beschuldigungen angehört hatte, ließ sie ihn auch weiterhin bei Alexander, schenkte aber endlich doch, wie es scheint, den Befürchtungen Gehör; nach der Hochzeit des Großfürsten, den man sehr jung verheiratete, blieb Laharpe nicht lange mehr in Petersburg und wurde ziemlich kalt entlassen.

Trotz seiner schwierigen Lage bei Hofe, insbesondere aber in den letzten Jahren , wo Alexander gerade fähiger gewesen wäre, seine Lehren zu begreifen, trotzdem, dass mithin der Einfluss Laharpes nur in den ersten Jugendjahren seines Zöglings zur Geltung kam, war dieser Einfluss immerhin sehr groß. Alexander wurde seinem Erzieher im höchsten Grade zugetan, weil dessen Lehren wohl am meisten jenem Jugendlichen Streben entsprachen, von dem er durchdrungen war, und weil sie am meisten seinen idealistischen Träumen von Freiheit und Menschenglück Nahrung gaben. Nach seiner Thronbesteigung berief Alexander Laharpe nach Petersburg; zur Zeit der Kriege mit Napoleon lud er ihn wieder zu sich ein als alten Freund und vertraute ihm seine Gefühle und politischen Sorgen an.


Laharpe ist zweifelsohne ein großer Teil jener abstrakten Vorstellungen Alexanders über Menschenwohl, Bürgerfreiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, sowie über die Abscheulichkeit des Despotismus, der Sklaverei u. s. w. zuzuschreiben, Gefühle, die Alexander in der ersten Zeit so begeistert aufwertete und die auch späterhin, als er sich sehr veränderte, nie ganz in ihm erloschen. Diesen Idealismus haben wohl auch seine anderen Erzieher unterstützt, besonders der bekannte M. N. Muravjev, der ihn im Russischen unterrichtete. Muravjev, der Vater der beiden bekannten Dekabristen Nikita und Alexander, seinerzeit als Schriftsteller im sentimental-philosophischen Stile bekannt, der Karamzin in seinem historischen Unternehmen förderte und nach Alexanders Thronbesteigung zum Kurator der Moskauer Universität ernannt wurde, war ein kluger und gebildeter Mann, dessen Charakter Achtung einflößte und dessen Überzeugungen den Geist der französischen Philosophie trugen. In seinen Werken predigt er die Liebe zur Menschheit, die Notwendigkeit der ausschlaggebenden Macht des Gesetzes, welches dem Despotismus Schranken setzt, und die „Freiheit in der Untersuchung der Meinungen", d. h. die Freiheit des Forschens; dieselben Ideen war er bemüht, seinem Zögling einzuflößen. Als Alexander erst 10 — 12 Jahre zählte, las Muravjev mit ihm beim Studium des Russischen seine eigenen idyllischen Werke und gab ihm Rousseaus „Emile", Gibbon, Montesquieu (Über Bürgerfreiheit) u. dergl. zu übersetzen *).

*) „Michail Nicolaevic Muravjev war ein Muster aller Tugenden und nach Karamzin der beste Prosaiker seiner Zeit. Gemeinschaftlich mit Laharpe war er bei Alexanders Erziehung tätig und zollte seinem Jahrhundert das Träumen von Volksfreiheit. Das Wort Tyrannei empörte seine sanfte Seele. Seine Prinzipien, von seiner Frau übernommen, wurden das Erbe seiner Familie." Wigel, Memoiren II, IV, 131 — 132. Siehe auch „Rufskij Archiv" 1866, S. 111 — 113. Indem wir die Memoiren Wigels zitieren, finden wir eine kleine Erläuterung vonnöten. Im allgemeinen sind sie eine Quelle, zu der man nur ungern Zuflucht nehmen kann, so falsch ist ihr Ton überall, wo es sich um die Beurteilung der Richtungen und Menschen handelt, welche zu einer anderen Kategorie als der Verfasser gehörten. Die Memoiren stammen nicht aus der Zeit der beschriebenen Ereignisse, und Wigel schob seiner Erzählung den späteren Ton der Beamtenloyalität der 30er und 40er Jahre unter und verhielt sich boshaft gegen alles, was sich mit seiner Gesinnung nicht vertrug. Aber er sah und hörte vieles; in seinen Memoiren sind viele interessante Einzelheiten und treffende Beobachtungen. Wenn man ihn liest, muss man bedenken, dass er sich durch eine besondere Geneigtheit jenen seiner Bekannten gegenüber auszeichnet, die später hohe Rangstufen erreichten, von den Vertretern der damaligen liberalen Regierung aber alles Schlechte sagt, das er nur über sie ausdenken kann. Übrigens treffen in manchen besonderen Fällen seine galligen Angriffe auch das Richtige. Liprandi, Wigels Zeitgenosse, der ihn nahe kannte, urteilte über seine Memoiren sehr kategorisch: „Wigel schrieb nachlässig, seine Erinnerungen sind meistens nur Erfindungs- und Unsinnskram." „Russkij Archiv“ 1866, S. 1247, 1420.

Jedoch diese Einflüsse wurden durch die andern Erzieher und vor allem durch N. J. Saltykov eingedämmt und beschränkt. Saltykov wird als ein guter und religiöser Mensch geschildert; nach den Worten Gribovskijs „wurde er als klug und einsichtsvoll, d. h. als ein guter Kenner der Hofwissenschaft, geschätzt, der aber in den Staatsangelegenheiten nur oberflächliche Kenntnisse besaß er gebärdete sich den Günstlingen gegenüber knechtisch und hielt sich von den in Ungnade Gefallenen fern ; dann wurde er von seiner Frau, in Amtsangelegenheiten aber von seinem Sekretär beherrscht. Wie Masson mitteilt, der auch ein Lehrer des Großfürsten war, „bestand die Hauptbeschäftigung Saltykovs bei den Großfürsten darin, dass er sie vor Zugluft und Magenverstopfung bewahrte". Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Saltykov keinen besonderen Einfluss auf die geistige Entwicklung seines Zöglings gehabt, dennoch war er keineswegs überflüssig und nicht ohne Grund vertraute ihm Katharina die Oberaufsicht an. Als ein Mann, der die „Hofgelahrtheit" erlernt hatte, war Saltykov ihr treuester Diener, erfüllte alle ihre Befehle, beaufsichtigte die ganze äußere Umgebung seines Zöglings und war, im höfischen Sinne, keiner Fahrlässigkeit fähig, die Katharina unangenehm sein konnte. Dann genoss er auch die Gnade Pauls. Wahrscheinlich war auch er es eben, der Alexander mit der höfischen Politik vertraut machte und von diesem Standpunkte aus setzte er den liberalen Lehren Laharpes seine Lebenssentenzen entgegen. Wenigstens erwarb Alexander schon frühe Fähigkeiten, die ihm halfen, seine Gedanken und Gefühle zu maskieren *). Das übrige Personal der Lehrer und Gouverneure spielte die zweite Rolle.

*) J. J. Dmitriev charakterisiert in seinen Memoiren den Grafen, später Fürsten Saltykov folgendermaßen: „In beiden Residenzen, besonders aber in Moskau, schätzte man ihn, trotz seiner äußeren Demut, als einen sehr weitblickenden und schlauen Mann. Diese Meinung gründete sich hauptsächlich darauf, dass er unter drei Regierungen dasselbe Maß kaiserlicher Gunst genoss. Ich verneine nicht die ihm zugeschriebenen Eigenschaften, aber wenn ich ihn als Staatsmann betrachte, so weiß ich nicht, wann und wodurch er diese hohe Meinung verdient hat. In den Jahren seiner Tapferkeit, zur Zeit des Türkenkrieges, der mit dem Frieden von Kutschuk Kainardsche endete, war er, sozusagen, ein einfacher Frontgeneral, in keiner einzigen Relation erklang sein Name . . . Als er nachher im Kriegskollegium den Vorsitz führte und Gelegenheit genug hatte, alle Fähigkeiten seines Staatsgeistes zu entwickeln, schlug er bloß den Weg ein, den sein Vorgänger, der Fürst Potemkin, betreten hatte. In einem war er besser, im schnelleren Unterschreiben der Papiere. Ich erinnere mich nicht, dass er irgendwann im Rate oder im Komitee eine entschiedene eigene Meinung geäußert hätte: Nachdem er einige bedeutungslose Worte fallen ließ, pflegte er sich auf die Seite desjenigen zu stellen, der nach seiner Meinung bedeutender, d. h. in Gunst, war. War es denn daraufhin schwierig, sich so lange in derselben Stellung zu behaupten?" (Rückblick auf mein Leben, Moskau 1866. S. 203.)

So müssen wir also Laharpe den vorherrschenden Einfluss auf die geistige Entwicklung Alexanders zuschreiben. Welcher Art war dieser Einfluss? Nach den Resultaten seiner Erziehungsmethode wurde Laharpe verschieden beurteilt. Die einen äußerten sich über ihn nur lobend, als einem Muster uneigennütziger bürgerlicher Tugend; die anderen beschuldigten ihn, dass er, indem er seinem Zöglinge die republikanische Philosophie einflößte, das russische Wesen nicht beachtend, aus ihm einen Träumer und Kosmopoliten machte. Beide Urteile bedürfen der näheren Erläuterung. Die erzieherische Tätigkeit Laharpes zeigt viele Seiten, die volle Achtung verdienen; es liegt außer Zweifel, dass sein unabhängiger Charakter, die strenge Festigkeit seiner Ideen, seine moralische Würde auf Alexander die wohltuendste Wirkung ausübten; Laharpe war ein Mann, fähig, eine moralische Autorität zu sein, aber es ist doch kaum zu bezweifeln, dass seine philosophische Erziehungsart bei Alexander zur Entwicklung der Schwärmerei beigetragen hat. Soviel man auf Grund der bekannten Tatsachen zu urteilen vermag, war dies wirklich der Fall, obwohl die negativen Seiten nicht allein oder zum größten Teile Laharpe zuzuschreiben sind *).

*) Über Laharpe siehe: Mémoires de Fred. César Laharpe etc. Paris et Geneve 1864; „Russkij Archiv 1866 S. 75—94; 1860 S. 70-81; Mem, secr. II S. 159— 163, 195. La Kussie et les Kusses I, 431—442. Siehe auch „Russkaja Starina" 1870 I. S. 34—44; II S. 161—174, 253—266. Die Briefe des Kaisers Alexander und anderer Persönlichkeiten des regierenden Hauses an Laharpe im „Sammelwerk der Kaiserl. russ. histor. Gesellschaft", Bd. 5. Petersburg 1870. Die Briefe der Kaiserin Katharina II. an Grimm. Herausgegeben von Grot. Petersburg 1878 (aus dem „Sammelwerk der histor. Gesellschaft"). Aufsatz Suchomlinovs in der „Zeitschrift des Unterrichtsministeriums" 1871, Januarheft.

Laharpes erzieherische Tätigkeit in der ersten Zeit ist von keinem besonderen Interesse. Über die letzten Jahre sind einige interessante Angaben vorhanden. Zur Zeit, wo Laharpe bereits mit seinem Zögling ernsthafte Gespräche führen und mit ihm über politische und gesellschaftliche Fragen sprechen konnte, flößte die französische Revolution dem Hofe und der Gesellschaft Schrecken ein und brachte Laharpe bei Hofe in die bereits erwähnte schwierige Lage; natürlicherweise musste der Unterricht selbst auf Schwierigkeiten stoßen, wenn die Theorien, die Laharpe seinem Zöglinge vortragen konnte, von vornherein verdächtigt wurden. Die französischen Ereignisse waren Gegenstand ununterbrochener Gespräche und riefen lebhafte Debatten Über Prinzipien hervor, und Laharpe konnte es nicht vermeiden, sieh an denselben zu beteiligen. „Wenn die Reihe an mich kam," erzählt er, „äußerte ich aufrichtig meine Meinung, und wenn das Gespräch in Gegenwart der Großfürsten stattfand, so bemühte ich mich, die Prinzipien zu rechtfertigen, und führte solche Beispiele aus der alten und neuen Geschichte an, die am besten auf deren klaren, gesunden Menschenverstand und junge Herzen wirken konnten." Im Unterricht spiegelte sieh diese Lage der Dinge folgendermaßen:

„Statt ihnen einen gewöhnlichen Kursus über das natürliche und menschliche Recht zu erteilen, nahm ich mir vor, ihnen ausführlich und ganz frei die große Frage über den Ursprung der Gesellschaften darzustellen. Diesen Plan begann ich auszuführen, aber die gegen mich gerichteten Angriffe hinderten mich daran, weil er eine Zeitlang sogar für jakobinisch galt. Ich musste Halt machen, was ich auch tat, indem ich mit meinen Schülern Werke zu lesen begann, in welchen die Frage der Freiheit der Menschheit von merkwürdigen Menschen, die jedoch vor der Revolution gelebt hatten, energisch verteidigt wurde. Dies gelang auch, und Dank den Reden von Demosthenes, Plutarch , Tacitus, der Geschichte der Stuarts, Locke, Sidney, Mably, Rousseau, Gibbon und den posthumen Memoiren von Duclos konnte ich als Mann, der seine Pflichten einem großen Volke gegenüber erkannte, meine Aufgabe erfüllen."

So wurde die systematische Darlegung unterlassen und durch die erklärende Lektüre von Schriftstellern ersetzt; den Mangel an systematischen Erklärungen bemühte sich Laharpe auch, durch historischen Unterricht zu ergänzen. Mit dem Charakter des letzteren machen uns die Vorlesungen bekannt, welche Laharpe für diesen Unterricht Alexanders verfasste (dieselben befinden sich in der öffentlichen Bibliothek in Lausanne). Der Geschichtskursus war bei Laharpe ein Kursus der gesellschaftlichen und politischen Moral; indem er die Ereignisse schilderte, machte er sie gewöhnlich zum Thema moralischer Betrachtungen, die er der besonderen Lage seines Zöglings anpasste. Mit besonderer Teilnahme sprach er von der griechischen und römischen Geschichte, die ihm am meisten Gelegenheit bot, seine Ideen über Bürgerfreiheit zu entwickeln. Nach den damaligen Ansichten war dies wahrscheinlich die beste Methode des historischen Unterrichts, und eben die alte Geschichte der Griechen und Römer schien der dankbarste Teil dieses Unterrichts in erzieherischer Hinsicht. Der literarische Klassizismus stand noch in voller Kraft und man liebte es damals, sich am Altertum zu erbauen: Fénelons „Télémaque" und die Reise des Anacharsis von Barthelemy waren die populärsten Bücher, Plutarch der unvermeidliche Begleiter der „rationellen" Erziehung; Laharpe nahm in schwierigen Fällen seines Petersburger Lebens zu „Freund Plutarch" Zuflucht, und in der Geschichte Catos, Brutus', Demosthenes', Aratos' u. s. w. fand er eine Stütze für seinen sinkenden Mut. Mit einem Worte, Laharpe wandte ein pädagogisches Verfahren an, welches damals nichts Ungewöhnliches vorstellte, und es ist unmöglich, zu behaupten, dass dasselbe an sich etwas Irrtümliches hatte. Wenn Laharpe seinen Moralkodex auf den Idealen des Altertums aufbaute und aus ihnen moralische Anregung zu schöpfen vermochte, so war dies damals keine seltene Sache — ein Muster des damaligen Geschmacks und der erzieherischen Methode, durch die unter Hinzufügung von Realkenntnissen das Ziel der moralisch politischen Erziehung erreicht werden konnte. Und in der Tat eignete sich Alexander sehr vieles aus dieser Schule an; aber sie blieb zu isoliert und abstrakt und darum gab sie ihm nicht alles, was man erwarten konnte.

Denn, wenn eine Erziehung von Erfolg sein soll, muss sie immer zu Ende geführt werden und muss neben dem theoretischen Bücherunterricht, noch mehr aber neben dem idealistischen, durch Gelegenheit zur praktischen Berührung mit dem Leben auf die Prüfungen desselben vorbereiten: Die Beispiele Catos und Aratos, die Lektüre von Plutarch und Tacitus konnten freilich nur einem zur Richtschnur im Leben werden, der es verstanden hätte, die abstrakten Ideale der Bürgertugend auf praktische Fälle anzuwenden und deren Forderungen auch in anderen Umständen und Bedingungen zu begreifen. Aber für einen Jüngling, wie Alexander, genügte es nicht, bloß diese erhabenen Ideale kennen zu lernen. Indem die Einbildungskraft sich in die Epoche der Scipios und Catos zurückversetzte, schwebte sie eigentlich in einer phantastischen Sphäre, aus der der Gedanke nicht zur Gegenwart überzugehen vermochte; die Entfernung zwischen den Idealen und dem praktischen Leben war eine sehr große, und man trug sehr wenig dazu bei, dass Alexander deren Beziehungen richtig verstünde. Dasselbe lasst sich auch über jene gesellschaftlichen Theorien sagen, die Laharpe ihm nach Gibbon oder Sidney, Mably oder Rousseau darlegte. Das waren zweifelsohne höchst erfrischende Elemente für die Ansichten und Sitten eines Lebens, wie das russische am Ende des vorigen Jahrhunderts. Aber um wirklich diese Elemente in sich aufzunehmen und deren wohltuende Bedeutung zu realisieren, musste man einen starken Geist und festen Willen besitzen, geschult in moralischen Anstrengungen und in Lebenserfahrung; sonst musste dieser ganze Reichtum an moralischen Idealen entweder ganz unfruchtbar bleiben oder wenigstens nicht alle jene wohltätigen Resultate liefern, die zu erwarten waren. Dies war auch in hohem Maße bei Alexander der Fall.

Es wäre jedoch ungerecht, Laharpe allein dafür verantwortlich zu machen. Wenn vielleicht auch Unvollkommenheit und Inkonsequenz in seiner Erziehungsmethode herrschte, so muss man weit eher die Mängel und Einseitigkeit dieser Erziehung den Umständen zuschreiben, gegen welche Laharpe nichts ausrichten konnte. Vor allem hätte Katharina voraussehen sollen, was Alexander aus den Lehren des republikanischen Philosophen sich aneignen konnte, und Laharpe leistete wirklich das, was man von ihm erwarten durfte und was Katharina gerade begehrte, nämlich, — die Erziehung im Sinne der abstrakten Moral und idealistischen Liebe zu Bürgertugend und Freiheit *).

*) Überhaupt war Katharina sehr zufrieden mit den erzieherischen Leistungen Laharpes. Vergl. ihre Urteile im „Russkij Archiv" 1865, S. 952, 953, 958; 1866, S. 70, 82 u. a.

Aber indem sie selbst diesem Geschmacke der Zeit huldigte, wurde sie ihm untreu, sobald es sich um die praktische Anwendung desselben handelte. Die allgemeinen Ideen, die Laharpe predigte und welche die Kaiserin selbst zum größten Teile vormals verteidigt hatte, blieben für sie eine reine Theorie, wurden als Modephilosophie angenommen, als ein geistiger Luxus und Zierde der Regierung, in der Praxis aber nicht für obligatorisch angesehen. Die Inkonsequenz war bereits Gewohnheitssache. So schien die Verwandlung von vielen tausend freien Menschen in Leibeigene oder z. 15. die Beschränkung der Meinungsäußerungen und der Literatur nicht als ein Widerspruch gegen die liberale Philosophie. Aller Wahrscheinlichkeit nach setzte Katharina eine derartige Inkonsequenz in Theorie und Wirklichkeit auch bei Alexander voraus. Überdies ist es kaum zu bezweifeln, dass die Kaiserin in vielen Fallen, wie überhaupt die damaligen Verehrer der französischen Philosophie in der russischen Gesellschaft, die Widersprüche zwischen diesen ihren theoretischen Ansichten und der praktischen Wirklichkeit sogar nicht merkten. So schrieb z. B. der Verfasser des „Antidote" *) seine an den französischen Schriftsteller gerichteten Entgegnungen, in denen er überhaupt das Gedeihen Russlands zu beweisen suchte, wahrscheinlich sehr aufrichtig, obwohl viele dieser Entgegnungen durch ihre Übertreibung und Unzulänglichkeit auffallen. Und in der Tat ist das wirkliche Leben des Volkes in diesen Sphären sehr wenig bekannt, und die Geschichte der Dekorationen **), welche Potemkin auf der Krim-Reise der Kaiserin machen ließ, gibt einen genügenden Begriff davon, welche Dimensionen die Selbsttäuschung annehmen kann. Die Repräsentanten der damaligen Gesellschaft waren überhaupt noch nicht daran gewöhnt, mit irgendwelcher Konsequenz ihre Ideen zu fassen, und der abstrakte Volterianismus vertrug sich öfters recht gut mit den rohesten Traditionen und Sitten des alten Russland. Wenn diese Widersprüche der theoretischen Anschauungen mit den Handlungen eine so gewöhnliche Sache waren, so ist es klar, dass sie auch auf die neue Generation als eine fertige Gewohnheit übergehen konnten, die unter diesen Einflüssen heranwuchs. Und auch bei Alexander war das Gefühl des Wirklichen, dessen Entwicklung diese Gewohnheit hätte unterdrücken können, tatsächlich so schwach, dass dieser Mangel später für ihn die Ursache vieler trauriger Irrtümer wurde.

*) Eine Schrift von Katharina selbst, in der sie das damalige Russland so eifrig zu verteidigen suchte, wie sie es in den „Notizen zur Geschichte Russlands" getan hatte. Sie wollte in Russland sogar bessere Zustände erblicken, als irgendwo anders. Amerk. d. Übers.

**) Es sind dies die im Jahre 1778 auf der lustigen Reise der Kaiserin nach dem Süden von Potemkin künstlich errichteten Dörfer und theatralisch geschmückten Landleute, welche der Kaiserin und ihrem bunten Gefolge, in dem sich auch Vertreter auswärtiger Staaten befanden, Russlands Macht und Glanz illustrieren sollten. Anmerk. d. Übers.


Aber die freiheitsliebende Moral, welche Laharpe Alexander predigte, blieb nicht ohne Einwürfe. In den erwähnten Memoiren eines seiner Erzieher finden wir Beispiele solcher Erwiderungen. Im Jahre 1791, als Alexander etwa 14 Jahre zählte, flößte ihm dieser Erzieher den Gedanken der Schädlichkeit der bedingungslosen Religionstoleranz ein, welche damals in Frankreich eingeführt wurde (und der Alexander unter dem Einfluss Laharpes scheinbar zuneigte): „Die vollständige Glaubensgleichheit ist eine Gleichgültigkeit gegen alle Religionen oder Mangel an Religion" ; dagegen erklärte er ihm die Vorzüge jener Ordnung der Dinge, die in dieser Hinsicht in Russland bestehe, wo die Toleranz nur in einer beschränkten Form existiere, wo eine bevorzugte Satzung herrsche, wo der „Kaiser das Haupt der Kirche sei", wo „kein Rechtgläubiger nicht nur nicht zum Heidentum oder Mohammedanismus noch zu irgend einer anderen christlichen Religion übergehen könne oder wenigstens es wage" u. s. w. Ein anderes Mal, wiederum aus Anlass der Zeitungsnachrichten über die französischen Angelegenheiten, kam die Rede auf die Adelsprivilegien. Alexander sagte, dass „die Gleichheit unter den Menschen ein gutes Ding wäre und dass die französischen Adeligen sich wegen des Verlustes der Adelswürde umsonst aufregten, da dieselbe doch nur ein bloßer Klang sei, ohne übrigens irgend welchen Nutzen mit sich zu bringen". Der Erzieher ließ diesen Gedanken nicht ohne Widerlegung. „Ich hielt es für meine Pflicht und Ehre, sagte er, Sr. Majestät die Ungerechtigkeit ihrer Gedanken zu beweisen, indem ich sah, dass dieselben ihr von einem Manne eingeimpft waren, welcher die Volksherrschaft liebte, wenn auch übrigens mit ehrlichen Absichten. Ich widerlegte diese Klügelei durch den Beweis, dass die Form jeder monarchischen Regierung unbedingt in den Bevorzugungen Ungleichheiten erheische und dass es da, wo kein Adel sei, auch keinen Herrscher geben könne (?): Sintemalen die Rechte eines Adeligen ihn zu seinem eigenen Nutzen verpflichten, seinem Herrscher mehr als irgend jemandem ergeben zu sein, und viele andere kräftige Beweise mehr, dass in Frankreich die Abschaffung der adeligen und geistlichen Macht alle Unruhen nach sich zog und dass die auf Aufklärung, nicht aber auf Aberglauben beruhende geistliche Macht dem Kaiser als guter Führer dienen könne bei seiner Hoffnung auf die Adelskorporation; dass der Adel in Russland noch größerer Achtung würdig sei, und zwar: 1) weil es viele Familien gebe, die von den russischen Herrschern stammen, 2) dass die Herrscher oft eheliche Verbindungen mit vielen adeligen Geschlechtern eingingen, 3) dass viele eingewanderte Adelsgeschlechter von Herrschern ihre Abkunft herleiten; und dass sie sich nach der Einwanderung, durch ihre berühmten Verdienste Achtung erworben haben u. dgl., und dass endlich das jetzt in Russland regierende Herrschergeschlecht aus einer Adelsfamilie stamme. Ich schloss damit, dass in allen wirren Zeiten und sogar während des letzten Aufstandes von Pugacev der Adel seine Anhänglichkeit an den Thron durch Blut besiegelt hatte und dass dies die große Katharina durch die dem Adel verliehenen Rechte bezeugte." Aller Wahrscheinlichkeit nach waren von gleicher Art auch alle Einwürfe, welche Alexander gemacht wurden, um Laharpes Ideen zu widerlegen oder abzuschwächen. Das heißt, gegen die abstrakten Sätze des natürlichen Rechts oder die faktischen des konstitutionellen wurden nicht rationelle Widerlegungen oder Einwände aufgestellt, den historischen Eigentümlichkeiten des Landes oder seiner gegenwärtigen Lage entnommen, die, wenn sie auch diese Sätze nicht widerlegen konnten , wenigstens bei der Anwendung auf das russische Leben deren gewisse Einschränkung nötig machten — sondern es wurde gegen sie nur ein unbegründeter Hinweis auf die in Russland herrschenden Zustände angeführt, deren Vorzüge durch keine besonders beweiskräftigen Argumente erwiesen wurden. Die Tatsache, dass niemand es wage, vom griechisch-orthodoxen Glauben zu irgend einem anderen christlichen überzutreten, war allerdings kein starker Beweisgrund gegen die theoretischen Beweise zugunsten der Glaubenstoleranz. Das Argument, dass der Adel zu seinem eigenen Nutzen dem Herrscher besonders ergeben sein müsse, war eine zum mindesten ungeschickte Verteidigung der Adelsprivilegien und ohne den geringsten Beweis gegen den Gedanken, dass die „Gleichheit der Menschen gut sei", zu erbringen, konnte es eher die Antipathie gegen diese Institution erwecken, deren Sinn nur durch diesen selbstsüchtigen Antrieb erklärt wurde. Für Laharpe konnte es ein Leichtes sein, diese Erklärung als neuen Beweis gegen jene Institution zu benutzen. Das Argument, dass deren Abschaffung in Frankreich alle Unruhen nach sich zog, war geschichtlich unrichtig; auch zu jener Zeit gab es sogar in der russischen Gesellschaft Männer (z. B. Lopuchin oder Radiscev) , die gut wussten, dass die Unruhen in Frankreich durchaus nicht dadurch herbeigeführt waren, sondern nämlich unter anderem durch die Verderblichkeit und Ungerechtigkeit dieser Institution, was eigentlich auch der Grund ihrer Aufhebung zur Zeit der Revolution war. Die Argumente zu Gunsten eines noch größeren Ansehens des Adels in Russland waren insofern unzureichend, als dieser fast überall dieselben Vorrechte (verschiedene Verbindungen des Adels mit den Herrschergeschlechten auf Grund der alten Abkunft oder der neuen Verwandtschaft) besaß. Was die Rechte des Adels anbetrifft, durch deren Verleihung seine Anhänglichkeit bezeugt wurde, so waren dieselben (wie bereits der Herausgeber dieses Memoire im „Russ. Archiv" bemerkt hatte) erst kaum sechs Jahre vorher verliehen worden, und schon allein deren Neuheit schwächte die Beweiskraft des Zeugnisses ab, welches sie darstellen sollten.

Nach diesen Beispielen kann man sich im allgemeinen einen Begriff von der anderen Richtung machen, welche bei Alexanders Erziehung den Einflüssen Laharpes entgegengesetzt wurde. Diese Richtung bestand scheinbar nur aus Lobreden auf den russischen Status quo ohne genügende Beweise, welche in Alexanders Geist irgend eine bewusste Meinung über diesen Gegenstand hätten bilden können. Im Gegenteil, er blieb wahrscheinlich hilflos diesen beiden Widersprüchen gegenüber, und da er in seinen Kenntnissen und in seinem damals noch sehr unreifen Geiste keine Stütze für deren Lösung fand, schwankte er zwischen ihnen und löste sie zuletzt mit jenem Instinkte, welcher so mächtig bei der Meinungsbildung eines Jünglings zu sein pflegt. In solchen Instinkten gewinnen meistens die edlen, selbstlosen Bestrebungen über alles Engherzige, Egoistische, Ungerechte die Oberhand und was Wunder, dass Alexander, in dessen Wesen so viele solcher Triebe lagen, sich mehr für Laharpe als für dessen Gegner begeisterte *). Laharpes Persönlichkeit selbst ragte aus Alexanders Umgebung hervor und übte auf ihn eine starke Wirkung, und in seinen Lehren fand er eben jene Ideen über Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte, zu welchen ihn seine Jugendbegeisterung zog.

*) Man muss bedenken, dass der hier erwähnte Erzieher einer von den mildesten Gegnern Laharpes war und in ihm die „ehrlichsten Absichten" anerkannte.

Übrigens war auch Laharpe kein extremer Schwärmer. „Ich bemerkte immer, — sagt bei diesem Anlasse N. J. Turgenev — dass die Republikaner von Geburt, die ich praktische Republikaner nennen möchte, sich in vielen Beziehungen von den Republikanern aus Gesinnung unterscheiden, die ich theoretische bezeichnen möchte. Den ersteren fällt es nicht schwer, die von der Etikette und höfischen Schmeichelei vorgeschriebenen Formen zu beobachten, welche den anderen so missfallen. Ich merkte oft, dass die Republikaner von Geburt, wenn sie sich in einem Lande niederlassen, wo eine der ihrer Heimat diametral entgegengesetzte Regierungsform herrscht, es gut verstehen, sich einzuleben und sich unter der despotischen Regierung wohl zu fühlen; sie gewöhnen sieh sogar sehr leicht an die Sklaverei, deren bloßer Gedanke die theoretischen Republikaner empört." So legte Laharpe bei all' seinem Republikanertum in Betreff der Hauptfrage der russischen Gesellschaftsordnung, der Leibeigenschaft auch später, nach Alexanders Regierungsantritt, keinen besonderen Liberalismus an den Tag, sprach nicht von der Notwendigkeit der Befreiung und war sogar mit jenen russischen Fortschrittlern unter Alexanders nahen Freunden nicht einverstanden, die auf die Notwendigkeit der Befreiung drangen und deren vollständige Möglichkeit behaupteten. Ebenso sprach Laharpe, nach den Angaben N. J. Turgenevs, in den verschiedenen Memoirs, welche er dem Kaiser im Anfange seiner Regierung überreichte, nichts von festen Staatsinstitutionen, nichts von Verbesserung der ärgsten Missbräuche und Mängel der Verwaltung, die auch den gleichgültigsten Beobachter hätten frappieren müssen. Daraus ist ersichtlich, dass die alten und die neuesten Konservativen, die sich beklagten, dass der Kaiser durch die Schuld Laharpes übermäßig sich für das westliche Freidenkertum begeisterte, sich darüber beruhigen konnten: Sein republikanischer Erzieher war in Bezug auf die russischen praktischen Fragen ein so vorsichtiger Liberaler, wie man sieh ihn nur wünschen könnt". Wir müssen dabei bemerken, dass dies kein Meinungswechsel war, weil auch noch lange nachher Laharpe derselbe Republikaner blieb und im Jahre 1814 sich ebenso äußerte, wie er im Jahre 1793 gedacht und gesprochen haben muss.