Erste Fortsetzung

In veränderter, großen Teils umgearbeiteter und erweiterter Gestalt bilden diese Aufsätze die Grundlage des vorliegenden Buches. Es haben sich seit drei bis vier Jahren die Verhältnisse sehr wesentlich geändert. Damals fand der Stoll" keinesfalls die verdiente Beachtung; selbst in England, dem Lande dessen Handelsinteressen zunächst davon berührt werden, hatte man erst begonnen sich mit dem hochwichtigen Gegenstande ernstlich zu befassen. Lord John Lawrence, der ehemalige Vizekönig von Indien und Edward B. Eastwick, der tiefe Kenner asiatischer Verhältnisse haben sich über die mittelasiatische Frage vernehmen lassen, man kann aber nicht behaupten, dass dieselben sich stets einer besonderen Gründlichkeit beflissen hätten. In der englischen Presse wurde die asiatische Frage von Zeit zu Zeit ventiliert, leider kaum mit besserem Verständnis als in den leitenden Kreisen. Was die „Times" über den Gegenstand mitunter veröffentlicht, ist oft das Papier nicht wert worauf es gedruckt ist. Das tonangebende Blatt ist eben häufig genötigt Ansichten Raum zu geben welche gewissen politischen Parteirichtungen entsprechen. Im übrigen trachtet es zumeist die englischen Gemüter zu beruhigen. Gediegeneren Anschauungen begegnen wir in William Howard Russels trefflich redigierten „Army and Navy Gazette," welche mehr denn einmal an den Times-Artikeln eine scharfe Kritik geübt hat. Unter den österreichischen Blättern verdient lediglich der trefflich redigierte „Wanderer" wegen des Augenmerkes erwähnt zu werden, welches er der Frage zuwendet und der Sachkenntnis womit er sie behandelt. Sein Redakteur, der geistvolle C. von Vincenti, ein Schriftsteller von seltener Begabung, ist durch längeren Aufenthalt in den ferneren Gebieten des Orients ein trefflicher Kenner desselben und mit gründlicher wissenschaftlicher Sprachkenntnis ausgerüstet. In Deutschland hat die Frage sich ebenfalls noch keiner eingehenden Würdigung zu erfreuen, so weit wenigstens vom großen gebildeten Publikum die Rede ist. Sorgsam verfolgt und studiert wird dieselbe nur vom königlich preußischen großen Generalstabe, der freilich kaum irgend ein Feld des Wissens seiner bewundernswerten Tätigkeit entgehen lässt. In der deutschen Presse sind es zunächst die „Allgemeine Zeitung" und die „Kölnische Zeitung," welche zeitweise Aufsätze von kundiger Feder über die russischen Bestrebungen in Innerasien publizieren; in diesem Falle rühren solche Artikel mit geringer Ausnahme von einem Manne her, der vielleicht mehr denn irgend jemand tätig ist die Aufmerksamkeit Europas auf die Vorgänge in Asien hinzulenken. Es ist Professor Hermann Vámbéry in Pest, der gelehrte ungarische Reisende in Iran und Turkestan. Seit seiner Rückkehr aus jenen Regionen, die er als muselmännischer Derwisch bereist hat, war es seine unablässige Sorge die Kenntnis von den Dingen in der centralasiatischen Tiefebene nach Möglichkeit zu verbreiten. Will man auch nicht in allen Punkten seine Anschauungen teilen, so wird doch kein billig Denkender — gleichviel welcher Meinung er sonst huldigen mag — ihm die Anerkennung versagen dürfen dass es lediglich seinem rastlosen Bemühen zu verdanken ist, wenn es heute überhaupt Leute gibt die anscheinend so fern liegende Fragen in den Kreis ihrer Forschungen gezogen haben. Hätte Vámbéry auch nichts anderes geleistet als dieses eine, wahrlich er hätte genug getan!

In den letzten Wochen ist die zentralasiatische Frage plötzlich eine brennende geworden, die für einen Augenblick sogar Kriegsbesorgnisse hervorrief. Alle Zeitungen beschäftigten sich mit derselben. Niemand hegt mehr einen Zweifel, dass früher oder später dieselbe zum Austrage kommen müsse. Dies ist begründet in der Natur der Dinge selbst so wie in dem Entwicklungsprozess den bisher das russische Reich durchgemacht hat. Wir überzeugen uns davon am besten wenn wir einen Blick auf das stetige Wachsen des russischen Reiches werfen.


Wenn ein englischer Staatsmann nicht mit Unrecht behauptete, Britannien sei weit eher eine asiatische denn eine europäische Großmacht, so kann man dasselbe mit Fug und Recht von Russland sagen, dem Staatenkoloss, den man abusiv den nordischen zu nennen pflegt, dessen Gebiet sich aber bald nahezu über alle Zonen der Erde erstreckt und an Ausdehnung der halben Mondoberfläche gleichkommt. Seit wenigen Jahrhunderten hat sich das ungeheure Reich aufgebaut, und seitdem ist kein Dezennium verstrichen, in welchem es nicht unaufhaltsam, wenn oft auch unbeachtet, an seiner Erweiterung mit Erfolg gearbeitet hätte. Unter Iwan IV., der von 1533 bis 1584, also länger denn ein halbes Jahrhundert herrschte, unterwarf es sich die tatarischen Chanate des Südens, mit Ausnahme der Krim; Kasan, das schon früher (1487) den Czaren zeitweise untertan ward, erobert er 1552 nach langem blutigem Kampfe, Astrachan im Norden fällt 1554, und 155G werden die Baschkiren unterworfen, gleichzeitig aber fester Fuß in der Kabarda am Kuban gefasst. Die Kosaken Yermak und Timosejew endlich erschließen durch die Entdeckung Sibiriens in Iwans letzten Regierungsjahren ihrem Vaterlande einen neuen Kontinent und legen den Grund zu Russlands asiatischer Macht; 1587 wird Tobolsk gegründet. Im achtzehnten Jahrhundert, 1727, gewinnt Russland durch einen Vertrag mit Persien die schon vier Jahre früher unter Peter dem Großen eroberten Provinzen Daghestân, Schirwân, Ghilân und Mazenderân, das heißt die ganze Westküste der Kaspi-See, muss sie aber 1734 wieder zurückgeben; es sind die beiden letzteren die einzigen Landschaften, welche dieses Reich einmal besessen, verloren und nicht wieder gewonnen; 1813 mussten die Perser Daghestân und Schirwân wieder herausgeben, nachdem bereits seit 1806 das wichtige Derbend in den Händen der Russen war. Ein erneuerter Krieg mit Persien endlich dehnte das Gebiet des Riesenstaates über den Araxes und bis an den Ararat aus und erwarb ihm im Frieden von Turkmantschay 1828 die Provinz Arran. Und auch heute noch hat Russland sein Streben nicht aufgegeben, und jeder Tag sieht es fortschreiten mit Riesenschritten im Herzen der alten Welt. Russland steht nunmehr in Zentralasien.

Denkende Politiker können, seitdem der Weltverkehr nie geahnte Proportionen angenommen, seitdem der Dampf die gesalzene See durchpflügt, seitdem Schienenstränge die Ferne nahegerückt, und die Distanzen zusehend verschwinden, nicht mehr übersehen, von welch' unberechenbarer Tragweite die Machtentwicklung eines Staates sein muss, der nunmehr der uralten, nach Jahrtausenden zählenden Kultur Chinas eben so wohl die Hand reicht, wie des abendländischen Europas moderner Zivilisation. Kein nutzloses Beginnen ist's daher, wenn wir die Ereignisse der jüngsten Jahre ins Auge fassen, wie nicht minder, welcher Beschaffenheit die neuerworbenen Gebiete sind, welchen Nutzen sie dem russischen Reiche gewähren können, und welchen Einfluss diese Waffentaten auf die Staaten des uns näher gelegenen Europas voraussichtlich üben können *).

                  Gannstatt im März 1873.
                                    Der Verfasser.

*) Zwei Bücher, die ich gerne zu dieser Arbeit benutzt hätte, sind mir leider nicht zu Gesichte gekommen; es sind dies: J. & R. Michail. The Russians in Centralasia. London 1865. 8. und J. Mac Neil. The progress and present position of Russia in the East.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Russen in Zentralasien.
THE TARIKH-I-RASHIDI (07)

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