Die Reise um die Erde in vierundzwanzig Stunden. Ausblicke in die Zukunft

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Prof. Dr. Richard Hennig, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Reise, Tempo, Geschwindigkeit, Flugzeuge, Schnelligkeitsrekord, Durchschnittsgeschwindigkeit, Datumsgrenze, Jungbrunnen,
„Wenn früh mit der Sonne Ihr sattelt und reitet und stets sie in einerlei Tempo begleitet“ - wer kennt sie nicht, die köstlich humorvolle Antwort des klugen Schäfers und Pseudoabtes Hans Bendix auf des Kaisers Frage, wieviel Zeit er brauche, „die Welt zu umjagen, doch keine Minute zu wenig und viel“! Wie viele haben in ihrer Jugend und später als Erwachsene mit Vergnügen dies Herumjonglieren „mit Wenn und mit Aber“ vernommen und die daraus abgeleitete Folgerung, dass man „in zweimal zwölf Stunden“ die Erde müsse umkreisen können!

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Und nun werden wir - wenn nicht alles täuscht - in wenigen Jahrzehnten, ganz sicher aber noch in diesem Jahrhundert so weit sein, dass Hans Bendix!’ kühne Phantasie Wirklichkeit wird, dass man wirklich in der Lage ist, sobald die Sonne am Himmel steht, „stets sie in einerlei Tempo“ zu begleiten!

Freilich nicht auf dem Rücken des Pferdes, sondern natürlich mit Hilfe des Flugzeuges wird der Mensch in Zukunft den Wettlauf mit der Sonne wagen können, und zwar zunächst in den nördlicheren Breiten der Erde, wo ihr Umfang bedeutend kleiner als in den südlicheren ist. Aber es ist keineswegs ausgeschlossen, dass man dereinst auch am Äquator in zweimal zwölf Stunden die Welt wird umjagen können.

Noch sind wir natürlich nicht so weit. Als neulich die zwei japanischen Flieger die etwa dreizehntausend Kilometer lange Entfernung von Tokio nach Berlin in fünfundsechzig Stunden zurücklegten, war dies schon eine außergewöhnliche Leistung. Ergab sich doch dabei mit Aufenthalten und Störungen eine Durchschnittsstundengeschwindigkeit von rund zweihundert Kilometer, was bei so riesigen Entfernungen zurzeit noch eine ganz hervorragende Leistung ist. Aber was heute im Luftverkehr noch eine Ausnahme bildet, pflegt morgen schon die Regel und übermorgen überholt zu sein. Wir brauchen nur einen Blick auf die erstaunlich rasche Steigerung der Schnelligkeitsrekorde von Flugzeugen in den letzten Jahren zu werfen, und wir werden sogleich erkennen, dass wir uns mit Riesenschritten dem Zeitpunkt nähern, zu dem wir daran denken können, in unseren mitteleuropäischen Breiten den Wettlauf mit der Sonne aufzunehmen.

Als die Brüder Wright am 17. Dezember 1903 den ersten erfolgreichen Flug mit einem Motorflugzeug unternahmen, erreichten sie auf ihrem nur wenige Minuten dauernden Wagnis eine Stundengeschwindigkeit von einundfünfzig Kilometer. Als sie 1908 zum ersten Mal öffentlich auftraten, brachten sie es im Höchstfall auf eine Stundengeschwindigkeit von sechsundsiebzig Kilometer, so dass also damals die schnellsten Eisenbahnen dem Flugzeug noch stark überlegen waren - ganz zu schweigen von den elektrischen Schnellbahnen, mit denen auf der Berlin-Zossener Versuchsstrecke schon am 25. Oktober 1903 eine Stundengeschwindigkeit von zweihundertacht Kilometer erreicht worden war. Dann aber nahm die Höchstgeschwindigkeit der Flugzeuge von Jahr zu Jahr in immer schnellerem Tempo zu, und zwar wurden erreicht im Jahr 1909 86 Kilometer in der Stunde, 1910 109 Kilometer, 1911 133 Kilometer, 1912 170 Kilometer, 1913 203 Kilometer, 1920 809 Kilometer, 1921 330 Kilometer, 1922 361 Kilometer, 1923 429 Kilometer, 1924 448 Kilometer in der Stunde. Der augenblickliche Rekord von vierhundertachtundvierzig Kilometer, der sehr bald überholt sein wird, wurde von dem französischen Flieger Bonnet am 11. Dezember 1924 auf einem Ferbois-Eindecker erreicht. In vier Jahren ist die höchste Schnelligkeit von dreihundertneun auf vierhundertachtundvierzig Kilometer, also aufs Anderthalbfache, gesteigert worden: wo werden wir da um 1930 angelangt sein? Die Theoretiker haben berechnet, dass sich mit dem Flugzeug eine Stundengeschwindigkeit von tausend Kilometer in jedem Fall, vielleicht gar bis zu zweitausend Kilometer müsse erreichen lassen, zumal wenn die Flugzeuge sich in sehr großen Höhen bewegen, wo der Luftwiderstand gering ist, etwa in zehn Kilometer Höhe, wie es die Holländer für ihren indischen Flugverkehr planen. Die Stundenhöchstleistungen sind bisher durchweg in den untersten Atmosphärenschichten erzielt worden und können wohl schon heute unter günstigen Umständen in den Regionen der Zirren bedeutend überboten werden. Obwohl in großen Höhen fast immer heftige Stürme wehen, werden sie dem Flugzeug nicht so viel anhaben können, denn die schwersten Orkane, die man bisher messen konnte, erreichten nur siebzig Meter in der Sekunde; beim Flugzeug aber bedeutet eine Stundengeschwindigkeit von rund vierhundert Kilometer bereits eine Schnelligkeit von hundertelf Meter in der Sekunde. Die Tausend-Kilometer Geschwindigkeit je Stunde, auf die wir unverkennbar lossteuern, bedingt ; aber eine Sekundengeschwindigkeit von zweihundertsiebenundsiebzig Meter!

Schon die von Bonnet erreichte Vierhundertachtundvierzig-Kilometer-Geschwindigkeit würde, über lange Zeit festgesetzt, ein Umrunden der Erde am Äquator in neunundachtzig, auf fünfzig Grad Nordbreite in etwa dreiundfünfzig Stunden gestatten. Der Umfang des Erdballs in der Breite Deutschlands beträgt rund vierundzwanzigtausend Kilometer. Wird also die Tausend-Kilometer-Geschwindigkeit in absehbarer Zeit erreicht und einen Tag lang durchgehalten, so werden wir von irgend einem beliebigem Punkte Mitteleuropas aus binnen vierundzwanzig Stunden „die Welt umjagen“ und „stets in einerlei Tempo“ die Sonne begleiten können. Außer zu sportlichen Zwecken wird ein solches „Kilometerfressen“ natürlich kein praktisches Interesse haben, und obendrein wird es sich ganz unvernünftig teuer stellen. Da wir nun in zwanzig oder höchstens dreißig Jahren, vielleicht schon früher, trotzdem so weit sein werden, so müssen wir einige weitere merkwürdige Folgerungen erwägen, die sich aus einer solchen Leistung ergeben würden.

Für den, der da künftig einmal sein Flugzeug „mit der Sonne sattelt und reitet und stets sie in einerlei Tempo begleitet“, steht zunächst einmal die Zeit still. Da für ihn während seines ganzen Fluges die Sonne in gleicher Stellung über dem Horizont verharrt, ändert sich für ihn während der gesamten Vierundzwanzig-Stunden-Reise die Ortszeit nicht ein einziges Mal. Ist seine Uhr beim Besteigen des Flugzeugs etwa zufällig stehen geblieben, ohne dass er es merkte, so zeigt sie ihm trotzdem überall die „richtige Zeit“! Ja, wenn die Fluggeschwindigkeit wirklich, wie viele es behaupten, noch über Tausend-Kilometer-Stundengeschwindigkeit hinaus gesteigert werden kann, so müsste eine „richtig gehende“ Uhr sich - rückwärts bewegen, und der Flieger würde dann das Kunststück fertigbringen - immer jünger zu werden, wenn nicht drüben im Stillen Ozean die „Datumgrenze“ läge, die den scheinbaren Gewinn wieder illusorisch machte. Schade, sonst hätten wir wirklich den „Jungbrunnen“ entdeckt, denn man brauchte nur einige tausendmal von Ost nach West um die Erde herumzufliegen, und man wäre wieder ein kleines Kind! Oder aber ein jugendfrischer Methusalem, wenn man in umgekehrter Richtung flöge!

Man sieht, dass allzu schnelle Fliegen kann einen im Kopf reichlich wirr machen. Und dennoch, wie lange wird's noch dauern, dass „der Kaiser und der Abt“ modern umgedichtet werden und der Kaiser sich andere Fragen ausdenken muss, wenn ihm nicht schon ein Kind mühelos ohne alles Wenn und Aber richtige Antworten auf seine zweite Frage soll geben können!