Fortsetzung 04

Die neue Lokomotive dampfte schon vor dem Zug. Ein schriller Pfiff ließ sich hören. Mit einem Lächeln voll verzweifelter Entschlossenheit wandte sich Valentin nach dem Zug zurück und sagte: „Gut, so gehen wir, mein Fräulein."

Im nächsten Augenblick sing die Lokomotive schon langsam zu keuchen an, dann immer rascher und rascher; die weißen Wölkchen zerflatterten in der Luft, und das Fräulein sah nun deutlich, wie der Zug sich entfernte.


„Um Gottes willen!" rief sie erschrocken aus. „Laufen wir, laufen wir! Wir kommen zu spät!"

„Hier hilft kein Laufen mehr", sagte Valentin mit merkwürdiger Ruhe. Bei Gott — der Zug ist schon fort."

„Oh!" — sagte sie zu ihm gewandt, in einem Ton des Vorwurfs, der ihr dann aber auf den Lippen erstarb. „Was haben Sie — — Was haben wir nur gemacht!" — Sie erschrak auf einmal heftig und fing an zu zittern.

„Mein Gott, Sie ängstigen mich!" rief Valentin, der nun selbst erschrak. „Ich bin Schuld, ich muss um Verzeihung bitten. Ich dachte nicht — —“ Er wollte sich rechtfertigen, aber schon im Vorgefühl der Lüge wurde er rot und verstummte.

„Was soll nun geschehen! Was sollen wir nun tun!" fiel sie ihm ins Wort. „Es geht heute kein Zug mehr. Es wird Nacht! Und wir — wir müssen hier bleiben!"

„Ja, im Ernst, so scheint es!" erwiderte Valentin, der jetzt einen Anflug von Triumph nicht unterdrücken konnte. „Es ist — ein Unglück, mein Fräulein. Zürnen Sie mir nur nicht! Morgen mit dem ersten Zug fahren wir nach, und so ist nichts verloren."

„So ist wenigstens Zeit gewonnen!" wollte er eigentlich sagen; aber er behielt es bei sich. Ein zurückgedrängtes Jauchzen saß ihm in der Kehle, dass sie wenigstens für heute nicht von ihm zu trennen sei. Er ging neben ihr her, da sie nun unruhig nach dem Bahnhofsgebäude zurücklief, sah ihr nach den Augen, und glaubte zu sehen, dass auch sie sich schon zu fassen begann. „Man erwartet Sie heute Abend ganz bestimmt?" fragte er endlich, so sanft als möglich.

„Ja, allerdings!"

„Hm!" sagte er und suchte in diese Silbe das tiefste Bedauern zu legen. — „So sollte man telegraphieren", setzte er nach einer Pause hinzu.

„Ja, das sollte man!"

„Sie erlauben mir, dafür zu sorgen, mein Fräulein; es versteht sich, dass ich es tue!" — Indem er das sagte, fiel ihm plötzlich ein, dass er keinen Pfennig mehr in der Tasche habe. „O weh!" murmelteer verstört.

„Was gibt's?" fragte sie.

Valentin stand still und blickte ihr ehrlich ins Gesicht. „Es ist nur gar zu sonderbar!" sagte er, wobei er krampfhaft zu lächeln suchte. „Sehen Sie, dieses Portemonnaie ist leer — ganz leer. Diese Brieftasche ist leer. Ich habe in Pasewalk meinen letzten Silbergroschen ausgegeben, mein Fräulein."

Sie sah ihn befremdet an

„In Güstrow — in Güstrow erwartete ich Geld zu finden!" fuhr er fort (natürlich errötete er). „Ich hatte in Berlin Ordre gegeben, mir nachzuschicken. Nun hab' ich nichts — das ist komisch."

„Ja, das ist komisch!" sagte sie und hatte wieder Humor genug, zu lachen. „Und mir geht es ebenso" — und sie zeigte ihm ihre offene Geldbörse. „Vier Silbergroschen! Wenn ich mit Ihnen teile, so hat Jeder zwei."

„Wir müssen telegraphieren!" wiederholte er, da ihm nichts Anderes einfiel.

„Ja — aber wovon? wofür?"

Valentin zuckte die Achseln. Sie hatten das Gebäude erreicht; vor der Tür des Telegraphen Bureaus stand der Bahnhofs-Inspektor in seiner roten Mütze, ein jovialer Mann mit einer stattlichen, etwas beleibten Gestalt, eine Zigarre im Mund. „Guten Abend, mein Herr!" sagte Valentin und trat auf ihn zu.

„Guten Abend!" erwiderte der Inspektor, der das Paar mit einem stillen Lächeln betrachtete.

„Darf ich fragen: wie heißt diese Station?"

„Malchin. Die Herrschaften sind wohl aus Versehen ein Bisschen sitzen geblieben!"

„Ja, so ist es. Sie haben ja den Zug ohne uns abgehen lassen."

Der Inspektor lachte. „Sie können ja einen Extrazug nehmen, meine Herrschaften!" sagte er vergnügt.

Valentin lachte gleichfalls. „Davon abgesehen", sagte er dann — „wie lange fährt man noch von hier bis Güstrow?"

„Eine Stunde, mein Herr."

„Sie hören!" sagte Valentin tröstend, zu dem Fräulein gewandt. „Und der Telegraph fährt ohne Zweifel noch schneller?"

„Man sagt es ihm nach!" erwiderte der Inspektor mit drollig ernstem Gesicht.

„Kann man heute Abend noch telegraphieren — nach Güstrow, mein' ich?"

„Gewiss."

„Auch nach Berlin?"

„Ohne Zweifel."

„Aber es kostet Geld?"

„O ja; eine Kleinigkeit!"

„Und nun haben wir keins!" sagte Valentin mit etwas künstlicher Heiterkeit. „Wir haben die Entdeckung gemacht, dass wir zusammen nur vier Silbergroschen besitzen. (Das Fräulein sah verlegen vor sich hin.) Sagen Sie, Herr Inspektor: trauen Sie mir auf mein ehrliches Gesicht?"

„Machen Sie keine Umstände!" erwiderte der Inspektor heiter. „Ich soll die Depeschen für Sie auslegen; — gut. Telegraphieren Sie, ich will Ihnen assistieren. Aber machen Sie rasch: sonst wird die Bude geschlossen."

Damit winkte er, in das Telegraphen-Zimmer einzutreten, und schnitt Valentin den Dank mit einer Bewegung ab. Das Fräulein blieb vor der Tür verwirrt und unschlüssig stehen. „Sie müssen folgen, mein bestes Fräulein!" sagte Valentin, gleichfalls etwas verlegen. „Sie müssen mir ja sagen, was und an wen ich telegraphieren soll."

„Wann kann eine briefliche Antwort da sein?" fragte sie aufgeregt.

„Aus Güstrow? Morgen Vormittag um neun!" antwortete der Inspektor,
Das Fräulein tat einen tiefen Atemzug. Sie trat nun ein und diktierte leise: „Rudolf Müller, Güstrow. Ich habe hier den Zug versäumt und bitte, mir Geld zu schicken oder mich abzuholen."

„Und Ihr Name?" fragte Valentin

„Betty."

„Betty!" wiederholte er vor sich hin. Den Namen liebte er sehr. „Sie telegraphieren an Ihren Bruder?" fragte er mit verzeihlicher Neugier.

„Ja."

Er nahm ein zweites Blatt vom Pult, um nun auch an seinen Vetter in Berlin zu telegraphieren, dass er sich schleunigst hierher Geld erbitte; alles Andere mündlich. Der Inspektor zog seine Geldbörse, um zu zahlen. „Bitte, keinen Dank!" sagte er abwehrend zu Valentin. „Sie wünschen nun vermutlich in einen Gasthof zu gehen?"

Valentin nickte.

„Ich werde Sie hinführen lassen!" — Er rief, einen Packträger des Bahnhofs heran, der eben vorüberging. Mittlerweile war es beinahe dunkel geworden; der Mond stieg auf, als sie ins Freie hinaustraten. Valentin bot dem Fräulein seinen Arm; doch unter einem Vorwand lehnte sie ihn mit unsicherer Stimme ab. Ihr kurzer Anflug von guter Laune war wieder weggeweht. Sie lächelte wohl, wenn er etwas Freundliches sagte, doch ohne dass ihr Gesicht den befangenen Ausdruck verlor. Zuweilen schien sie nicht einmal zu hören, was er ihr sagte. Ihm ward wieder außerordentlich beklommen zu Mut. So kamen sie durch ein altertümliches Tor und eine stille Straße auf den Marktplatz neben der Kirche, wo der vornehmste Gasthof stand. Als sie im Torweg den Kellner und den herzutretenden Wirt begrüßt hatten und Valentin das Fräulein in das Speisezimmer führen wollte, um zu Abend zu essen, erklärte sie, dass sie durchaus keinen Hunger habe und zu Bette verlange. Ihr blasses, aber entschlossenes Gesicht zeigte, hier sei kein Zureden am Platz. Der Kellner kam mit Licht, sie auf ihr Zimmer zu führen. „Gute Nacht!" sagte sie halblaut und wandte sich ab. Valentin ging ihr bis an die Treppe nach: „Sie sind mir böse, mein Fräulein?"

„Nein!" antwortete sie, schüttelte lebhaft den Kopf, wechselte die Farbe, und stieg dann auf ihren raschen Füßen die Treppe hinauf. So blieb er unten allein. In sehr verworrenen Gefühlen trat er ins Speisezimmer, setzte sich an einen einsamen Eckplatz, ohne auf die übrigen Gäste Acht zu geben. Sein zurückgedrängter Hunger brach mit unwiderstehlicher Kraft wieder hervor; aber es war ihm noch nie so trübselig vorgekommen, wie heute, dass er allein aß. Er hatte sich so lebhaft darauf gefreut, ihr reizendes Gesicht sich gegenüber zu sehen. Es war ihm zu Mut, wie wenn er sich schon seit Jahren an sie gewöhnt hätte. Endlich hielt er es nicht mehr aus, so dazusitzen, ließ den Rest seines Weines und den Rest seines Hungers stehen und zog sich gleichfalls zurück. Es war erst neun Uhr. Ihm kam es vor, als hätte er den längsten und inhaltreichsten aller Tage erlebt — aber nur im Traum; und so weiterträumend schwankte er, wie vom Wein trunken gemacht, die Treppe hinauf.
Sein Zimmer lag neben dem des Fräuleins; er hörte sie auf und ab gehen, sie war also nicht zu Bett. Ihm widerstand es gleichfalls, sich zu Bette zu legen. Er ließ sein Licht brennen, setzte sich auf sein Sopha und starrte durch das Fenster in den aufsteigenden Mond hinaus. Seine sonderbare Lage trat ihm in ihrer ganzen Abenteuerlichkeit vor Augen, machte ihn sorgenvoll, schwermütig und unendlich verliebt. Dann lächelte er wieder vor sich hin, dass sie da drüben auf und ab gehe und nicht in Güstrow und ihm so nahe sei. Dann hörte er sie seufzen, aber nur ein paar Mal, darauf wurde es wieder still. Sie rührte sich auch nicht mehr. Es dauerte nicht lange, so stand nun Valentin auf und ging, ruhelos wie er war, zwischen Tür und Fenster auf und nieder. Inzwischen schien auch das Mädchen nicht zu schlafen: denn als er endlich, des Gehens müde, sich auf die Bettkante setzte, fing sie in ihrem Zimmer wieder zu wandeln an. Er hörte zu, ohne an Schlummer zu denken. So verging fast die ganze Nacht. Es war ein eigentümliches Gefühl, das sie abhielt, gleichzeitig auf und ab zu gehen; aber sie wechselten von Zeit zu Zeit, Valentins Kerze brannte bis auf den Leuchter herab; endlich kam der frühe Tag mit Vogelgesang, der aus den Bäumen um die Kirche her lieblich herüberflötete. Mit überwachten Augen legte sich Valentin in das offene Fenster, ließ die frische Morgenluft seine Schläfen kühlen und sah auf den toten Platz und zu der hohen gotischen Kirche hinauf und wie das Morgenrot über den Häusern aufzusteigen begann. Zuletzt drückte er die Augen ein und lag so im halben Schlaf. Als er sie wieder öffnete und um sich blickte, bemerkte er Fräulein Betty, deren Arme gleichfalls auf dem Fenstersims lagen und die blass und mit dunkel beringten Augen zu ihm herübersah.

Durch ihren Anblick überrascht, fand er kaum die Worte, ihr guten Morgen zu wünschen. „Wie haben Sie geschlafen?" setzte er sehr zerstreut hinzu.

„Wie Sie!" antwortete sie kurz.

„Die Luft — nicht wahr, die Luft tut Einem gut!" sagte er und atmete sie mit offenen Lippen ein.

„O!" seufzte das Mädchen. „Es würde Einem noch besser tun, in ihr spazieren zu gehen."

„Darf ich Ihnen meine Gesellschaft anbieten?" fragte er mit einiger Förmlichkeit. Sie blickte ihn freundlich an, als wünsche sie ihr ablehnendes Benehmen von gestern gut zu machen, und nickte ihm zu. Im nächsten Augenblick war sie vom Fenster verschwunden und schien durchs Zimmer zu gehen, um sich zu rüsten.

Valentin fühlte sich auf einmal wie neu belebt, er wusste selbst nicht, warum. Sogleich griff er zum Hut, und als er draußen auf dem Vorplatz erschien, kam ihm Bettys bewegliche Gestalt schon entgegen. „Man wird hoffentlich nicht glauben", sagte sie scherzend, dass wir schon so früh ausfliegen, um unser Hotel ohne Bezahlung zu verlassen! Alles, was von uns zurückbleibt, ist mein Ledertäschchen."

Sie sagte das mit wirklicher Heiterkeit, aber doch erschreckte ihn ihr bleiches und überwachtes Gesicht. Sie sah aus als wäre sie krank, und er konnte nicht umhin, diese seine Empfindung auszusprechen.

„Wie sollte ich krank sein?" erwiderte sie rasch und schüttelte den Kopf. „Kommen Sie — lassen Sie uns ins Freie gehen!" — Damit schnitt sie ihm jedes weitere Wort über ihren Zustand ab und ging voran, in die nächste Straße hinein. Sie kamen durch dasselbe Tor, durch das sie gestern eingezogen waren, zur Stadt hinaus und am Bahnhof vorbei und auf die große, von Bäumen eingefasste Chaussee, die quer durch das ebene Land auf die Waldhügel zuführte. Auf den weiten Wiesen rechts und links weideten bunte Herden, deren Farben in der Morgensonne glänzten; dazwischen zog sich ein kleiner Fluss in äußerst eigensinnigen Windungen hin. Feiner Nebelduft stieg von seinen blitzenden Schlangenbewegungen auf; auch von den kleinen viereckigen Seen, die man in das dunkle Torfland eingeschnitten hatte. Umso reiner und schleierloser lagen die besonnten Wälder auf den Hügeln da, die über den maigrünen Saatfeldern wie bepflanzte Grenzwälle aufstiegen. Weiter rechts kahle, bräunliche Anhöhen, zum Teil mit dünnen Saaten bestellt. Ein gelinder Wind strich die Ebene entlang und schien alles Lebendige zu wecken und zu erfrischen.

„Nicht wahr, das tut Ihnen gut?" fragte Valentin zärtlich, da er das Mädchen mit immer noch gespannten Zügen und aufgeregten Augen umherstarren sah.

„O ja, es tut mir gut!" sagte sie schwach.

Er führte sie weiter, zeigte ihr das Land, verglich es mit seiner Heimat, und fing an, ihr von seiner schönen Jugend auf dem Lande, von seiner eigenen Besitzung zu erzählen. Sie hörte ihm, wie es schien, nicht ohne Anstrengung, aber aufmerksam zu. Ein paar Male strauchelte sie und dann griff er nach ihrem Arm, um sie zu halten; und dann sagte sie errötend, dass ihr Fuß heute so leicht einknicke, sie wisse nicht, warum. Aber sie gehe gern und wolle noch nicht zurück. So kamen sie an das Chausseehaus, an dessen Schlagbaum zwei Straßen zusammenliefen, wandten sich nach rechts, wo der Weg in den ansteigenden Wald hineinführte, und vertieften sich in ein neues ländliches Gespräch. Nicht weit vom Waldsaum lag ein Gehöft an der Straße, klein, mit einem niedrigen, einfachen Herrenhaus, aber für das Auge des Landmanns reinlich und behaglich anzusehen. Hier stand Valentin still, brach mitten in einem Satze ab und blickte mit einem leisen Seufzer nach dem Hof hinüber.

„Warum seufzen Sie?" fragte das Mädchen. „Warum ich seufze? — Fräulein Betty, sehen Sie dort nach der Tür."

„Ja — dort steht eine junge Frau!"

Es war offenbar die Hausfrau, die auf der Schwelle stand; im Morgenrock, eine weiße Küchenschürze vorgebunden, die Wangen, wie es schien, von Arbeit und Lebenslust rosig angefärbt, und mit strahlenden Augen.

„Und nun sehen Sie dort nach der Scheune, Fräulein Betty!" fing Valentin wieder an.
Von der nächsten Scheune kam ein Mann gegen das Haus herangeschritten, den die junge Frau sichtlich erwartete; eine schlanke, kräftige Gestalt im grauen Rock, blond und blauäugig, und gleichfalls ein strahlendes Lächeln in dem jugendlichen, schön gebräunten Gesicht. Er ging mit großen Schritten auf das Weibchen zu, trocknete sich im Gehen die Stirn, rief sie zärtlich an, und sowie er sie erreicht hatte, nahm er sie in den Arm und gab ihr einen Kuss.

„Hm!" seufzte Valentin laut vor sich hin. „Haben Sie das gesehen, Fräulein Betty?"

Das Mädchen erwiderte nichts, sondern suchte zu lächeln.

„O Gott", seufzte Valentin von Neuem. In diesem Augenblick sah das zärtliche Paar zu den beiden Wanderern herüber. Die junge Frau lächelte etwas verschämt, machte sich los und lief in das Haus hinein. Der Mann lachte und ging ihr nach. Dann war wieder Alles still.

„Mein bestes Fräulein!" sagte Valentin, und wiederholte nach einer Weile die drei Worte noch einmal. „Ich — ich halt' es nicht länger aus. Es ist ein unmöglicher Zustand."

„Was?" fragte sie verwirrt.

„Fräulein Betty — haben Sie dort die beiden — die beiden Leute gesehen?"

Sie antwortete nicht, bewegte auch nicht den Kopf.

„Ach Gott, was red' ich da Alles? — Fräulein Betty, ich habe gestern den Zug mit Absicht versäumt. Ich will nicht, dass Sie den andern Menschen da heiraten. Ich liebe Sie, Fräulein Betty."

Das Mädchen starrte ihn weniger befremdet, als geängstigt an. Sie schien schon lange gefürchtet zu haben, dass so ein Ausbruch, so eine Enthüllung bevorstehe. Auf einmal traten ihr Tränen in die Augen, aber sie blieb ganz still.

„Ja wohl, ich habe Sie gestern mit Absicht zurückgehalten!" fuhr er fort, da sie gar keinen Laut vernehmen ließ. „Nicht wahr, das ist unpassend. Das hätte ich nicht tun sollen. Aber ich hab' es getan! — Fräulein Betty, warum wollen Sie sich an diesen Menschen verkaufen? Warum wollen Sie sich so wegwerfen? Wie können Sie den Mut dazu haben? Wissen Sie nicht, dass Sie zu gut dafür sind?"

Das Mädchen seufzte tief auf.

„Wissen Sie nicht, dass es sündlich ist, seine Seele so zu verkaufen? Soll das eine Ehe sein? — Herr Gott im Himmel — — Sehen Sie mich einmal an! Hier steh' ich, Fräulein Betty, und liebe Sie wie ein Narr. Nein — das ist nicht wahr. Ich habe noch alle meine Sinne; es ist nur, dass — dass ich Sie von Herzen lieb habe, Fräulein Betty,
und dass Sie wie zu meiner Frau geschaffen sind Und nun wollen Sie fort, um diesen Menschen zu heiraten!"

„Ach!" seufzte sie, wie wenn das für immer ihr letzter Atemzug sein sollte, ,,Wissen Sie nicht, dass ich gebunden bin?"

„Nein, nein, Fräulein Betty — —."

Bei diesen Worten brach er ab, denn er sah, dass sie die Augen schloss, ihre Lippen kreidefarben wurden und die Hände unsicher in die Luft griffen. Die schlaflose Nacht, die Aufregung dieser Tage, der Morgengang hatten ihr alle Kraft genommen, auch das noch zu überstehen. Valentin musste sie halten, da sie umzusinken drohte, und legte sie bestürzt an seine Brust. „Um Gotteswillen", sagte er, „wollen Sie hier vor meinen Augen — — Was hab' ich Ihnen getan?"

„Ich kann nicht mehr!" war ihre ganze Antwort. Sie versuchte sich aufzurichten und aus seinen Armen zu lösen, aber sogleich fühlte sie, dass sie zu schwach war, ungestützt zu gehen. Mit wieder zufallenden Augen ließ sie sich von ihm führen, von der Straße weg dem Hause zu, da sonst ein Ruheplatz nirgends zu erblicken war. Der Hausherr trat soeben wieder hervor, einen Wanderstock und ein paar Handschuhe in der Hand. Sowie er die Beiden sah und das totblasse Fräulein in des Anderen Armen, sprang er eilig hinzu. „Linchen! Frau!" rief er aus. „Was ist geschehen?" sagte er dann zu Valentin gewandt. „O, das Fräulein ist unwohl! Ich bitte, führen Sie sie in unser Haus — lassen Sie mich Ihnen helfen."

Valentin dankte, und von den beiden Männern gestützt schwankte Betty, zwar mit offenen Augen, aber verstört, schwer atmend und die Lippen halb geöffnet, über die Schwelle, wo die Hausfrau sie in aufgeregter Teilnahme empfing. Sogleich lief das junge Weib an die nächste Tür, und man trat in ein großes, freundlich kühles Gemach und von da in ein zweites, das Wohnzimmer der Frau. Hier ließen sie Betty auf das Sopha nieder und Valentin drückte sie sanft gegen die Lehne zurück. Nach ein paar Augenblicken kam die junge Frau durch eine andere Tür herein, ein Fläschchen mit Kölnischem Wasser und eine Essigkruke in der Hand. „Das wollen wir schon machen!" sagte sie geschäftig. Der Mann wollte ihr das Fläschchen aus der Hand nehmen, um zu helfen, aber sie hatte es schon geöffnet, wehrte ihn ab und fing an, Bettys Stirn zu besprengen und ihr die Schläfen zu reiben. „Ach, was für ein hübsches Fräulein!" sagte sie dann gerührt.

Valentin nickte unwillkürlich und empfand ein sehr beruhigendes Gefühl, zu einer so verständigen Frau gekommen zu sein. In seiner Bewegung drehte er sich herum, drückte erst dem jungen Hausherrn und dann dem Weibchen die Hand. Betty schien sich inzwischen nach und nach zu erholen. Die erste Farbe kam ihr wieder zurück; die Augen hielt sie geschlossen, aber, wie es schien, mehr um nicht zu sehen, als weil ihr die Kraft gefehlt hätte. Endlich schickte die junge Frau die beiden Männer hinaus, und Valentin, von dem freundlichen Wirt geführt, trat wieder ins vordere Zimmer und hörte durch die geschlossene Tür, wie die Frau weich und herzlich dem Mädchen zusprach, und endlich auch Bettys gedämpfte Stimme. Er fühlte, wie ihn gleich bei ihrem ersten Ton die Fassung wieder verließ. Kaum, dass es ihm gelang, ein paar Worte zu finden, wie sie ihm in seiner Lage passend schienen, seinen Dank zu sagen, seinen Namen zu nennen. Dann besann er sich einen Augenblick, ob er das Fräulein für seine Schwester, oder für seine Braut, oder für was er sie ausgeben sollte; doch weil ihm dabei das Blut ins Gesicht und zum Herzen schoss, tat er nur einen tiefen Atemzug, starrte dem jungen Mann auf die Weste und sagte nichts.

Der Hausherr schien Valentins Aufregung zu bemerken und sich das Nötige dabei zudenken; aber er lächelte nur für sich hin und schwieg ebenfalls. Jeder trat an ein Fenster und sah auf die Viehställe und Scheunen hinaus. Endlich kam das Frühstück, das der junge Mann vorhin leise bestellt hatte, von einer Magd hereingetragen, die es stumm auf den Tisch stellte und sogleich wieder verschwand. „Sie werden heute noch nichts genossen haben!" sagte der Wirt zum Gast, Valentin versuchte nicht, zu leugnen, sein Hunger sing plötzlich an, auf die Seite des Frühstücks zu treten. Sie fetzten sich, er aß und trank und horchte dazwischen nach der geschlossenen Tür. Bettys Stimme war wieder still geworden. Nach einer Weile erschien dann auch die Hausfrau auf leisen Füßen und berichtete, das Fräulein sei offenbar erschöpft, es habe nach Schlaf verlangt, dann wieder aufstehen wollen, sei aber endlich, nach einigen Beruhigungsversuchen, plötzlich eingeschlummert.

„Sie haben keine Eile, wieder fortzugehen?" fragte der junge Mann. Valentin verneinte. Es sei gut so, und er danke von Herzen für alle die Freundlichkeit. Als Antwort darauf sing die junge Frau zu lächeln an: sie müsse nun leider in die Küche und ihr Mann nach der Ziegelei; der Herr werde es ja wohl nicht übel nehmen, wenn man ihn auf einige Zeit sich selbst überließe. Wenn irgend etwas vorfiele, so möge er sie nur rufen. „Da ist auch die neueste Zeitung!" setzte sie, wie zu seinem Trost, hinzu. Walentin nahm die Zeitung sogleich in die Hand und versicherte, dass ihm grade unendlich daran gelegen sei, sie zu lesen. Die junge Frau sah ihm freundlich in die Augen — mit einiger weiblicher Neugier, wie es schien —, und mit dem Versprechen, bald wieder da zu sein, und einem treuherzigen Gruß gingen Mann und Frau zur vorderen Tür hinaus.

Es wurde nun völlig still, und Valentin, von der Liebenswürdigkeit dieser Menschen gerührt, von der sonderbaren Situation überwältigt, warf sich in eine Sophaecke, um die neuesten Weltbegebenheiten zu studieren. Schon im ersten Berliner Artikel blieb er stecken — bei der Frage, ob es noch in diesem Jahr zum Krieg mit Frankreich kommen werde, oder nicht —, um die Zeitung ein wenig tiefer sinken zu lassen und auf ein Geräusch zu horchen, das er selber gemacht hatte. Er glaubte, Betty habe sich gerührt. Aber er hörte nichts. Sein ganzes Schicksal, seine Liebeserklärung, seine Seelenangst tanzten ihm im Puls. Da liegt sie nun nebenan, dachte er, in einem unbekannten Landhaus in Mecklenburg, und ich sitze hier und tue, als wenn ich lese! — Das ist eine sonderbare Reise nach Freienwalde! staunte er vor sich hin.

Die junge Hausfrau erschien einige Male leise in der Tür, flüsterte ihm zu, dass das Fräulein noch immer schlafe, ohne sich zu rühren, und glitt dann wieder hinaus. So vergingen Stunden. Die Schatten, die draußen die Gebäude warfen, wurden kürzer und kürzer; die Fliegen summten unruhiger im Zimmer umher. Endlich stand Valentin auf, der auch seine Unruhe nicht mehr zu bändigen wusste. Er ging an die Tür zum anderen Zimmer und lauschte. Es blieb Alles still. „Herr Gott!" seufzte er. Es schien ihm ganz unmöglich, noch so eine Stunde zu überleben, ohne Betty zu sehen. Er bildete sich ein, vielleicht sei eben diese Totenstille ein bedenkliches Zeichen. Durch die Angst, die ihm dieser Gedanke machte, ermutigt, legte er seine Hand auf den Türdrücker, öffnete geräuschlos und trat ein. „Nur um zu sehen, ob sie wirklich schläft!" sagte er zu sich selbst.

Ja, in der Tat, sie schlief. Sie lag so bequem und anmutig da wie er sie noch nicht gesehen hatte, und schlief wie ein Kind. Kein Atemzug war zu hören. Auf ihrer blassen Stirn lag wohl noch ein kleiner ängstlicher Zug, aber sonst war ihr nichts Betrübliches anzusehen. „Ich kann mich also wieder zurückziehen!" dachte Valentin, blieb aber ruhig stehen. Der Anblick war ihm zu tröstlich. Ihre kleinen Hände lagen so weich übereinander auf der Decke, die das junge Weibchen über sie hingebreitet hatte, und da sie den Kopf etwas auf die Seite gelegt, zeigte sich ihr rundliches, weißes Hälschen so schön. Eine Weile lag sie noch bewegungslos da; dann aber fing sie an den Kopf zu rühren, den einen Arm an sich heranzuziehen und die Lippen zu öffnen, wie wenn sie sprechen wollte. Offenbar träumte sie. Auf einmal hob sich ihr Busen stärker und sie murmelte halblaut: „Ach ja, ich habe Sie lieb!"

Valentin erschrak heftig, von ihrer herzlichen Stimme so ein Wort zu hören. Das Mädchen zog bald darauf die Brauen zusammen, machte ein finsteres Gesicht und murmelte allerlei, das er nicht verstand. Endlich hörte er: „Ich will ihn nicht! Ich will ihn nicht! Nein, es soll nicht geschehen!"

„Wen wollen Sie nicht?" fragte er unwillkürlich. Es schien, als setze sie im Traume das Gespräch von vorhin fort, das ihre Ohnmacht abgebrochen hatte. „Wen wollen Sie nicht?" fragte er noch einmal in begreiflicher Aufregung. Die Schläferin schien das Geräusch seiner Stimme zu hören und dadurch in ihrem Traum gestört zu werden: denn sie veränderte die Züge, machte eine unruhige Bewegung und lag dann, statt zu erwachen, wieder in ausdruckslosem Schlummer da. Valentin bereute, dass er sie gestört hatte. Ganz leise trat er heran und blieb neben ihr stehen, immer die Augen an ihren Lippen. Es dauerte nicht lange, so kamen ihr, wie es schien, die Traumbilder zurück. Sie hatte das Gesicht ihm zugekehrt, ohne es zu wissen, und mit einer plötzlichen Halsbewegung sagte sie laut: „Wie heißen Sie?"

Valentin musste lächeln. Es fiel ihm ein, dass er ihr noch immer nicht seinen Namen genannt hatte; offenbar redete sie mit ihm. „Was sie sich nun wohl selber darauf antwortet!" dachte er vergnügt, trotz all' seiner Beklemmung. Aber sie schien die Antwort ganz umsonst zu erwarten. Beunruhigt und ungeduldig warf sie sich umher, stieß mit ihrem Arm gegen die Sophalehne und wachte darüber auf.

„O!" sagte sie verwirrt, als ihre aufgerissenen Augen erkannten, wer vor ihr stand. Valentin aber hielt sich nicht länger, kniete — zum ersten Mal in seinem Leben — neben ihr hin, um ihr näher zu sein, und erwiderte treuherzig, doch mit etwas zitternder Stimme: „Wie ich heiße, Fräulein Betty? Valentin Weinberg heiße ich — und ich gehe zu Grunde, wenn Sie einen anderen Menschen heiraten, als mich."

„Mein Gott, was kann ich dazu tun?" seufzte sie, noch mit einem Rest von Schlaftrunkenheit kämpfend und vor Scham über und über rot.

„Was Sie dazu tun können? — Sie haben vorhin im Schlafe gesagt, dass Sie ihn nicht wollen. Sie haben gesagt: Ach ja, ich habe Sie lieb! — Wen haben Sie lieb, Fräulein Betty?"

„Ich weiß es nicht", sagte sie verlegen.

„Mein Gott, wie können Sie das nicht wissen? — Sind Sie krank, Fräulein Betty? Oder wollen Sie mich nur unglücklich machen? Mich — und sich — und uns Beide? — O, es wäre sehr Schade, wenn wir Beide unglücklich würden!" setzte er mit einem tiefen Seufzer hinzu.

„Ach Gott ja!" seufzte sie nun auch.

Er hatte ihre Hand ergriffen und wollte sie eben küssen — denn so hielt er's nicht länger aus — als das Mädchen in die Höhe fuhr und mit einem schreckhaften Blick nach der Tür ihm die Hand entriss. Erschrocken wandte auch er sich um (zugleich sprang er auf) und sah hinter sich, in der offenen Tür, drei junge Männer stehen: den Herrn des Hauses, den Mann von der Photographie, mit hochgerunzelter Stirn und einen schwarzen Hut auf dem Kopf, und einen Dritten, der hinter diesem Hut noch im Schatten stand.

„Herr, was machen Sie da?" schrie der Mann mit den Runzeln mit wahrhaft furchtbarer Stimme, als ob er den verwegenen Valentin mit jeder Silbe niederschlagen wollte. „Was tun Sie mit meiner Braut? Sind Sie von einer Galeere weggelaufen, dass Sie ohne Weiteres Mädchen entführen — —" Er konnte vor Wut den Satz nicht zu Ende sprechen und trat mit geballter Faust auf den Entführer zu.

Valentin schoss alles Blut ins Gesicht. Es ward ihm auf einmal deutlich, dass er der Welt gegenüber eine schlechte Sache hatte, und zu gleich fuhr ihm sein ganzer Hass auf diesen Menschen bis in die Fingerspitzen, sein ganzer Stolz in die Augen. „Was ich mit diesem Fräulein da zu reden habe, ist meine Sache!" antwortete er zuversichtlicher, als ihm zu Mute war. „Was führt Sie in dieses Haus, mein Herr — was wollen Sie hier?"

„Was ich hier will? — Herr, sind Sie von Sinnen? — Wir bekommen ein sonderbares Telegramm, wir machen uns mit dem Frühzug auf, wir fahren alle Drei hierher, das Fräulein, zu holen —"

Valentin sah sich unwillkürlich um: er bemerkte nur den Bräutigam und den jetzt vortretenden Bruder, einen bleichen, schüchternen, etwas verkümmerten Menschen, der gleichwohl an der Ähnlichkeit mit dem Mädchen zu erkennen war — ein Dritter war nicht zu sehn.

„Wir hören auf dem Bahnhof, wohin Sie gegangen sind — finden Sie nicht im Hotel — erfahren auf der Straße, dass Sie mit einander vors Tor hinausspaziert — fragen uns weiter und weiter — und da liegen Sie und knien vor meiner Braut! Herr, zum Teufel, wer sind Sie? Ich will sechsundsechzigmal in die Hölle verdammt sein, wenn ich Ihnen nicht alle Knochen zerbreche! Ich sage Ihnen — Sie sollen sich mit mir schießen, oder ich schmettere Sie nieder wie einen Hund!"

„Ich ziehe das Erstere vor!" erwiderte Valentin, der nun auch vor Wut zu zittern anfing.

„Es soll mir ein außerordentliches Vergnügen sein, wenn ich Ihnen Ihre grobe Seele zum Halse hinausjagen kann!"

„Meine Herren —!" rief jetzt der Landwirt dazwischen, dem diese Szene in seinem eigenen Hause schlecht zu behagen schien. Betty war vom Sopha aufgesprungen und offenbar bereit, sich zwischen die Gegner zu werfen; der Bruder blickte etwas furchtsam drein. Indessen Valentin sah und hörte nicht mehr. Nie in seinem Leben war es ihm in den Sinn gekommen, sich mit irgend einem Menschen schießen zu wollen; aber in diesem Augenblick kam ihm ein Duell als die menschenwürdigste und nützlichste Handlung vor. „Herr!" rief er, indem er seinem Feind noch nähertrat — „Sie werden dieses Fräulein da nicht heiraten!"

„Ich werde sie nicht heiraten?"

„Nein!"

„Wer will mich etwa daran hindern?"

„Ich! indem ich Sie töte!"

„Indem Sie mich töten?"

„Ja!"

„Nun, Gott verdamm' mich"

Der Mann mit den Runzeln suchte noch nach dem Nachsatz, als im Nebenzimmer eine helle, scharfe Stimme laut wurde, die Valentin schon gehört zu haben meinte. Er blickte hinaus und sah, dass neben der jungen Hausfrau eine zweite Dame im Federhut und gelbem Überwurf vom Hausflur her eintrat und die Augen lebhaft umherlaufen ließ. „Wo ist meine liebe Schwägerin?" rief sie wie eine Trompete in die Luft hinein. „Die Männer sind mir so rasch vorangerannt, ich konnte nicht mitkommen."

Im nächsten Augenblick trat die Dame auf die Schwelle, drängte sich bei den Männern vorbei — und die beiden zukünftigen Schwägerinnen standen sich überrascht gegenüber. Sie erkannten sich alle Beide. Das Frauenzimmer im Federhut, mit dem ungeheuren Chignon, war die „Mormonin" von gestern. Sowie sie Betty und Valentin entdeckte, zog sie vor sprachloser Bestürzung die Stirn in die Höhe und stand nun wie eine jüngere und blassere Nachbildung ihres Bruders da.

„Halt!" rief Valentin auf einmal überlaut, wie wenn Alles davonlaufen wollte. „Mein Herr — tun Sie Ihren verdammten Zylinder fort: Sie sind der Mann mit dem Strohhut!"

„Was soll das heißen?" fragte der Amerikaner, den die Bestürzung seiner Schwester etwas aus der Fassung brachte.

„Sind Sie nicht gestern von Neustadt-Eberswalde in einem Strohhut nach Güstrow gefahren?"

„Ja, allerdings! Ich glaubte, meine Braut sei schon am Tage vorher —"

„Das ist hier ganz gleichgültig! Sie sind mit dieser Dame da gefahren, und diese Dame da ist Ihre Schwester?"

„Ja — was geht Sie das an?"

„Was mich das angeht? — Herr, Sie sind ein Mormone!"

Diese Worte donnerte Valentin so kräftig heraus, dass die ganze Gesellschaft ein unwillkürlicher Schauder überlief. Betty war nahe daran, wieder umzusinken, die junge Hausfrau stieß einen kleinen Schrei aus.

„Wie viele Frauen haben Sie schon in Amerika?" fuhr Valentin mit der Stimme eines Untersuchungsrichters fort. Der Mormone antwortete nicht. Er war so bleich geworden, als es bei seiner verbrannten Haut noch möglich war, und schien nur über seinen Rückzug nachzudenken.

„Sie haben zwei, drei oder vier Frauen in Amerika?" fragte Valentin unerbittlich weiter.
„Und dieses Fräulein da sollte Ihre fünfte werden? Dieses Fräulein da? — Herr, wissen Sie, dass Sie für so eine Niederträchtigkeit den Galgen verdienten?'"

Der Mormone fuhr auf und wollte etwas erwidern, aber Valentins Blick und die Gesichter der ganzen Gesellschaft schüchterten ihn ein. „Herr —!" sagte er endlich, ward aber sogleich wieder von Valentin unterbrochen.

„Ich glaube nicht, dass dieses Fräulein geneigt ist, Ihre fünfte Gattin zu werden!"
Betty schüttelte heftig den Kopf. „Ich kenne Sie nicht mehr!" sagte sie dann hastig zu dem Amerikaner gewandt. „Leben Sie wohl!"

„Sie hören: das Fräulein wünscht Ihnen Lebewohl!" setzte Valentin hinzu, da der Andere noch immer auf demselben Fleck stand und sich die Lippe biss. Doch als nun auch Bettys Bruder sich aus seiner Betäubtheit ermannte und auf den Mormonen zuging, als wenn er ihn demnächst mit irgend einem vergifteten Wort erdolchen wollte, verlor dieser den letzten Rest von Haltung und drehte sich um. „Gut!" sagte er nur noch, um das letzte Wort gesagt zu haben, ging dann, den Hut auf dem Kopfe, aus der Tür, und gleich darauf war auch der Federhut seiner Schwester hinter ihm drein verschwunden.

„Ein Betrüger bist Du! ein elender Betrüger!" rief Bettys Bruder ihm nach, der jetzt erst zu Worte kam. Der arme Mensch schien ganz zerbrochen zu sein. Er getraute sich nicht, seine Schwester anzusehen, die sich gegen den Ofen gelehnt hatte und weinte, und fuhr sich von Zeit zu Zeit mit den Händen durchs Haar. „Herr meines Lebens!" sagte er zwischendurch. Endlich fasste er wenigstens den Mut, Valentin ins Gesicht zu blicken. „Kein Mensch hat so etwas von ihm gedacht, mein Herr!" murmelte er, wie um sich zu entschuldigen. „Kein Mensch in der ganzen Stadt!"

„Schon gut, schon gut!"

„Es tut mir sehr leid, mein Herr", setzte er schüchtern hinzu, „dass Sie so eine Geschichte — — Wahrhaftig, es tut mir sehr leid!"

„Mir nicht", erwiderte Valentin gutmütig und mit einem heimlich fröhlichen Blick auf die weinende Betty —, „wenn nur das Ende gut ist!" — Und damit ließ er den Bruder stehen und ging auf die Schwester zu. „Haben Sie noch nicht genug geweint, Fräulein Betty?" fragte er so sanft und leise, dass ihn die Anderen beim besten Willen licht hörten.

Sie schüttelte nur den Kopf.

„Nicht wahr, es kommt nicht viel Gutes dabei heraus, wenn man sich aufopfern will? — Ach Gott, warum legen Sie sich nun wieder das Tuch vor die Augen. Betrügen ist ja so leicht! Wenn Sie mir nur endlich sagen wollten, was Sie über mich denken?"

„Es kann mich nun ja Niemand mehr heiraten!" sagte das Mädchen trostlos.

„Das ist noch die Frage!" antwortete er vergnügt, da ihm aus ihrer Antwort ein heimliches Ja ins Ohr klang. „Darüber denke ich ganz anders als Sie! — Fräulein Betty, ich habe noch keine Frau, keine einzige. Ich darf also noch heiraten! Können Sie einem armen Junggesellen, der nur um Ihretwillen bis hierher gereist ist, gar nichts Tröstliches sagen?"

Sie sah ihn wenigstens an. „Ich schäme mich bis in den Tod!'' seufzte sie.

„Das würde ich nicht tun! Betty, tun Sie das nicht! — — Können Sie mich gar nicht ein Bisschen lieb gewinnen?"

„Ach!" sagte sie und hob die Hände, ohne es zu wissen, um sie ihm sanft auf beide Schultern zu legen. „Ach, Sie wissen es ja!" —
Die junge Frau sah das Paar, das weltvergessen neben dem Ofen stand; sah, wie Valentin das Mädchen nun an sich zog, und mit weiblichem Wohlgefallen lächelnd und den Männern winkend ging sie leise zur Tür hinaus. Ihr Gatte und Betty's Bruder folgten. Auch im Nebenzimmer stand ein mächtiger Kachelofen; an den gelehnt blieb das Weibchen stehen, neben ihr die Männer, und alle Drei horchten nun andächtig durch die offene Tür.

Eine Weile hörten sie nichts, dann nur ein Flüstern — Betty sprach gar zu leise —; dann wieder Valentins gedämpfte, aber verständliche Stimme.

„Gleich im Anfang hab' ich Dir gefallen? — Hab' ich das? — O dafür muss ich Dich küssen" Und nun schien er's zu tun.

Dann lispelte sie wieder, und man verstand kein Wort.

„Wahrhaftig? In dieser Nacht? — Nein, davon ahnte ich nichts! Nein — Während Du den Gedanken hattest, ins Wasser zu gehen, um Allem ein Ende zu machen — währenddessen sagte ich mir hundertmal, Du würdest vielleicht in acht Tagen schon eine ganz zufriedene Frau sein, und mich in einem halben vergessen! — — Uno nun hast Du Vertrauen zu mir, dass ich Dich glücklich mache?"

Wieder das nutzlose Flüstern.

— „Ja, Betty, so wahr ich lebe!" — — Er schien sie aufs Neue zu küssen. — — „Weißt Du denn noch nicht, dass ich eigentlich auf der Reise nach Freienwalde war? Und dass nur Dein Stolpern auf dem Wagentritt Ach, sie kann wieder lächeln! — — Was meinst Du,
Betty? Da wir doch bald heiraten müssen — widersprich mir nicht! — — wollen wir uns nicht von meinem lieben Freund, dem Freienwalder Pfarrer, trauen lassen? Ganz stille unter uns — Dein Bruder brächte uns hin — und so wäre das Ganze doch die richtige Reise nach Freienwalde geworden!"

Betty antwortete leise; es schien eine verschämt verneinende Bejahung zu sein; aber man konnt' es nicht hören.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Freienwalde.