Fortsetzung 03

So kamen sie nach Angermünde, wo der Zug eine Weile anhielt. Niemand stieg bei ihnen ein, das Fräulein schlief ruhig fort. Einen Augenblick dachte Valentin, wie nützlich es wäre, in die Restauration zu eilen und irgend etwas Essbares zu holen: denn sein Hunger wuchs mittlerweile sehr bedrohlich heran und das bisschen Schokolade war aufgezehrt. Aber dann sah er wieder auf seinen „Schatz", fürchtete, dass irgend Jemand inzwischen einsteigen möchte, und fand nicht den Mut, seinen Wachtposten zu verlassen. Der Zug ging weiter, und die Bewegung hatte alsbald den unglücklichen Erfolg, auch seine Phantasie in rascheres Rollen zu bringen. Er sah sich bald vor einer langen Tafel, bald einem Büffet gegenüber und eine solche Auswahl von kalten und warmen Speisen, dass ihm übel und weh wurde. Hätte ich mich doch nicht so ans Mittagessen gewöhnt! dachte er sorgenvoll. Der Geruch seiner Zigarren in der Brusttasche stahl sich zu ihm herauf und vermehrte seine Bedrängnisse. „Wenn ich nur wenigstens rauchen dürfte", dachte er, „um mir den nichtswürdigen Hunger zu vertreiben — das wäre wundervoll; — aber ich darf es nicht! — In alten Liebesgeschichten heißt es so oft (er sah dabei seine holde Schläferin mit melancholischem Vergnügen an): „Er konnte sich nicht satt an ihr sehen"; — ja, ich kann leider bezeugen, dass es buchstäblich wahr ist!" Indessen schlief das Fräulein aufs allerfriedlichste fort. Sie schien angenehm zu träumen, wenigstens verzog zuweilen ein kleines Lächeln ihren ernsten Mund. Das Klingeln und Pfeifen auf den Stationen weckte sie nicht auf. Sie kamen an Prenzlau vorüber, rollten schon auf Pasewalk zu. Nun endlich packte Valentin eine bange, wachsende, rasende Ungeduld. Noch hatte er ihr ja nichts von dem gesagt, was er ihr sagen wollte. Es fiel ihm auf einmal ein, dass sie wahrscheinlich in Pasewalk auf dem Bahnhof erwartet werde; ein ganzes Dutzend harrender, zurufender, um den Hals fallen der Tanten und Cousinen stieg vor ihm auf — und wie das Mädchen ihm dann ein letztes Nicken zuwerfen werde — — Und nur noch eine Viertelstunde bis dahin — —

Das Fräulein machte hastig die Augen auf, sah sich von ihrem Gegenüber am Arm gepackt und sein angstvolles Gesicht auf sie gerichtet. „Was gibt's?" fragte sie noch schlaftrunken, aber sichtlich erschreckt. „Was ist geschehen — was gibt's?"


„Ich dachte — Sie haben Sie haben im Schlaf um Hilfe geschrien, mein Fräulein!" sagte er schnell gefasst. „Und da weckte ich Sie denn auf. Nicht wahr, Sie hatten einen ängstlichen Traum?"

„Dass ich nicht wüsste!" sagte sie verwundert.

„Übrigens, was ich noch fragen wollte: wo denken Sie in Pasewalk zu übernachten, mein Fräulein? Oder werden Sie — oder werden Sie von Ihren Verwandten erwartet?"

„Ich werde gar nicht in Pasewalk übernachten, mein Herr!" antwortete sie müde. „Ich fahre weiter."

„Sie fahren weiter?"

„Ja. Nach Mecklenburg. In Berlin sagte man mir, ein direktes Billet bis an mein Reiseziel würde ich nicht bekommen, darum nahm ich ein Billet bis Pasewalk, wo die Bahn nach links abgeht."

„Und wollen dort noch heute ein neues nehmen?"

„Ja freilich."

„Wohin?"

„Nach Güstrow, in Mecklenburg-Schwerin. Bei Nacht komm' ich dort an."

„Nach Güstrow?"

„Ja, mein Herr!"

„So hätten Sie" — sagte er, sich von seiner Überraschung erholend — „So hätten Sie wohl auch in Berlin schon ein direktes Billet bekommen, mein liebes Fräulein. Doch gleichviel. Ich werde Ihnen in Pasewalk Billet und Koffer besorgen, wenn Sie freundlichst erlauben."

„Sie sind sehr gütig, mein Herr! — Und Sie bleiben in Pasewalk?"

„Ich? O nein! Ich reise gleichfalls nach Güstrow."

Ein Schimmer von freudiger Überraschung flog über ihr Gesicht, „O, das ist schön!" flüsterte sie. „Aber Sie sagten doch, dass Sie nur bis Pasewalk reisten?"
„Ich? O nein! Ich bin ganz in demselben Fall, wie Sie. Aus reiner Laune" — er errötete wieder stark — „hab' ich mein Billet nur bis Pasewalk genommen; und nun nehm' ich das zweite."

„O, das trifft sich gut!" — Sie sagte das sehr vergnügt; plötzlich aber sah sie verlegen weg, wurde gleichfalls dunkelrot übergossen und stand auf, um durch das Fenster zu sehen. Der Zug brauste unterdessen in großer Schnelligkeit fort, immer durch ebenes Land, das sich hier und da ein wenig hügelte; endlose Äcker, breite Wiesenstreifen, dunkle Nadelholz-Linien in der Ferne. Es fiel Valentin plötzlich wie ein Hammer aufs Herz, dass er so in die Welt hinausfahre, wie ein Narr. Dann starrte er wieder die weißen Rosen im Nacken des Mädchens an — und wie er unmöglich umkehren könne, ohne sein Schicksal diesen weißen Rosen gegenüber entschieden zu haben — und dieser zweite Hammer fiel ihm noch schwerer aufs Herz; und so stand er gleichfalls auf, griff nach seinem Hut und setzte sich wieder hin.

„Mein Fräulein —!" wollte er eben sagen, um seiner überladenen Seele Luft zu machen, als die Lokomotive langatmig pfiff und der Bahnhof von Pasewalk zu seiner Rechten erschien. Das Fräulein fuhr auf, setzte sich den verschobenen Hut zurecht und hängte sich das Ledertäschchen über den Arm. „Wir müssen hier doch aussteigen?" fragte sie. Valentin nickte. „Geben Sie mir Ihren Gepäckschein, mein liebes Fräulein — geben Sie her", sagte er mit etwas gepresster Stimme. Sie gab ihm den Schein und ihre Geldbörse dazu. „Sie wollen also die Güte haben —?" fragte sie und sah ihm mit reizender Müdigkeit ins Gesicht.

„Ich besorge Alles, geben Sie ruhig her!" — Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein, der Schaffner kam und öffnete das Coupé. Valentin stieg vor seiner Dame aus und reichte ihr dann die Hand. Sie gingen auf die andere Seite hinüber, hier stand der Zug nach Strasburg und Mecklenburg schon bereit. Sobald Valentin ein leeres Coupé zweiter Klasse sah, hob er seine Dame hinein und bat sie, ihn zu erwarten. Dann eilte er fort, für die Billette und den Koffer zu sorgen. Am Schalter erst fiel ihm ein, ob er auch Geld genug bei sich habe, um diesen wachsenden Reise-Bandwurm ernähren zu können. Seine Brieftasche war leer. Er suchte all' sein Silbergeld zusammen und fand, dass es eben für die Reise nach Güstrow ausreichte; fünf Silbergroschen blieben ihm noch übrig. Es wurde ihm seltsam zu Mut. Auch in der Geldbörse des Fräuleins blieb nur ein kleiner Rest, nachdem er Alles bezahlt hatte. Er ging durch das Bahnhofsgebäude zurück und kam am Buffet vorbei. Sein Hunger saß ihm auf einmal wieder zwischen den Zähnen. Fünf Silbergroschen hätte ich noch für ihn! dachte er halb verstört. Aber im nächsten Augenblick siegte schon sein Gemüt über seinen Appetit; er dachte an das Fräulein, das gewiss auch ein kleines Vesper-Gelüst verspüren würde, und ritterlich griff er in die hohle Geldtasche, um für das letzte Silberstück ein Fleischbutterbrot und ein paar Apfelsinen zu kaufen. Der Duft war ihm allzu aufregend, er steckte sie in die Tasche. So kam er endlich, aber noch zur rechten Zeit, an den Zug zurück. Er erkannte sein Coupé an den braunen Stiefelchen, stürzte darauf zu, und als sich der Wagen eben in Bewegung setzte, hatte er sich hineingeschwungen und sah sich atemlos um.
Sein Glück hatte ihn nicht verlassen, Niemand war eingestiegen — aber das Fräulein lag schon wieder und schlief. Sie hatte das halbe Gesicht in ihre Ecke gedrückt und die Hände im Schoß, und atmete lebhaft. „O!" sagte Valentin unwillkürlich, mit einem bekümmerten Seufzer. Doch davon erwachte sie nicht. Eine Weile stand er und wartete, ob sein auf sie gehefteter Blick (nach einem alten Aberglauben) sie nicht aufwecken werde; aber die ihm zugekehrte rechte Wange war gegen diesen Blick so unempfindlich, dass die junge Dame nur in tieferen Schlaf versank. Valentin setzte sich, legte seine Rocktasche mit den Früchten und dem eingepackten Butterbrot vorsichtig bei Seite, und ?ber dieser Bewegung wachte zwar nicht das Mädchen, aber sein Hunger auf. „O Gott, wie verschieden die Romane und die Wirklichkeit sind!" dachte er im Stillen; „in den Romanen zeigt man seine Liebe durch großartige, ritterliche Taten, die man für die Geliebte tut — in der Wirklichkeit hungert man für sie! Ich für meine Person wollte lieber drei Riesen umbringen, die es gar nicht gibt, als mit diesem Abendbrot in der Tasche den Tantalus spielen!" — Im nächsten Augenblick dachte er, ob er nicht, da sie doch allen Appetit verschlafe, das Butterbrot und die Apfelsinen aufessen sollte; — aber diese Versuchung dauerte nur einen Augenblick. Er schüttelte unwillig den Kopf, um sich einzuschüchtern, dachte dann an den Moment, wo sie aufwachen und ihm für diese Opfergabe aufs freundlichste danken werde, und so zum Ausharren ermutigt, lehnte er sich gleichfalls in seine Ecke zurück.

Der Zug brauste nach Strasburg und bald darüber hinaus, verließ die Ukermark, schlängelte sich ins Strelitzische hinein und immer so fort, der Abendsonne entgegen. Die Betrachtung der Saatfelder rechts und links begann Valentin zu ermüden. Er pfiff einige Male eine Melodie vor sich hin, ob vielleicht ein bisschen Musik das Fräulein aufwecken könnte; doch über dem gleichmäßigen Lärm der rollenden und aufstoßenden Wagen gingen wahrscheinlich diese Töne verloren, denn ihr kleines unachtsames Ohr schlief ruhig fort. „O Gott — wenn ich sie wenigstens küssen dürfte!" dachte er endlich. „Wenigstens diese eine Wange da, die mich so schlafrot anlächelt!" — Er beugte sich langsam vor, und wer weiß, was er in seinem chaotischen Gefühl von Hunger, Kummer und Verliebtheit getan hätte, wenn ihr nicht eben das Täschchen aus den Fingern geglitten und über ihre Knie weggerutscht und zu Boden gefallen wäre. Von diesem Fall sprang es auf und ein kleines Taschenbuch rollte daraus hervor. Valentin griff zu, und als er das Büchlein aufhob, das sich geöffnet hatte, blickten ihm die Augen einer Photographie entgegen, die Augen eines Mannes in Visitenkarten-Format, der in das kleine Taschenbuch eingelegt war. Unwillkürlich fuhr er bei dieser Entdeckung zusammen. Das Gesicht des fotografierten Mannes sah sehr herausfordernd aus; war offenbar das Gesicht eines Dreißigers; schien keineswegs einen Bruder vorzustellen, denn es war nicht die mindeste Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Fräulein zu entdecken; — dagegen hatte Valentin das sonderbare Gefühl, als müsse er diesem Menschen schon irgendwo, und zwar vor Kurzem erst, begegnet sein. Er suchte sich vergebens des Wie und Wann zu erinnern. Was hatte dieses Gesicht in des Fräuleins Taschenbuch zu tun? Wen und was stellte es vor? — Es überlief ihn heiß, und indem er sich mit Photographie, Büchlein und Tasche in die Höhe richtete —

„Wie, mein Herr — was machen Sie da?" sagte das Fräulein, das über einem plötzlichen, markdurchschneidenden Bremsen aufgewacht war und ihn nun befremdet anstarrte.

„Verzeihen Sie! Mein bestes Fräulein —!" stammelte er sehr verwirrt. „Ich wollte nur — — Das Täschchen war Ihnen entfallen."

„So?" — fragte sie gedehnt.

„Konnten Sie mir zutrauen, mein Fräulein, dass ich mich so unverschämt in Ihre Geheimnisse eindränge? oder dass ich wohl gar — — Dieses Taschenbuch lag offen auf der Erde", sagte er blutrot. „So wie ich es da halte, hab' ich es aufgenommen — und hier haben Sie's wieder."

„Um Gottes willen!" sagte sie nun mit dem gutmütigsten Lächeln. „Ich habe Sie beleidigt! Nein, das wollte ich nicht. Bei Gott, nein; man sieht es Ihnen ja an" — und sie blickte ihm in die ehrlichen blauen Augen — „dass Sie — — Seien Sie mir nicht böse, und haben Sie
meinen Dank."

„Ich brauche keinen Dank", sagte er wieder in guter Laune. Aber nun warf er noch einen letzten Blick auf die Photographie und zog unwillkürlich die Stirn in Runzeln zusammen.
Die junge Dame schien es zu bemerken. Sie wurde flüchtig blass, suchte aber eine unbefangene Miene zu machen. Eine Weile hielt sie die Photographie, die er ihr zurückgegeben hatte, unschlüssig in der Hand; endlich drehte sie sie um, und ohne hinzusehen sagte sie: „Diese Photographie — — Dieser Mann da ist mein Verlobter, mein Herr"

Valentin fuhr zurück.

Sie blickte ihn ernsthaft an. „Und ich fahre heute nach Güstrow", setzte sie hinzu, „um dort morgen mit ihm getraut zu werden."

„Das lässt sich denken!" sagte er in seiner grenzenlosen Verstörtheit, um doch etwas zu sagen.

„Und ich gehe dann— —"

Sie brach ab, da er sie nicht mehr zu hören schien; denn er hatte das Gesicht zum Fenster hinaus gerichtet und beugte sich vor, um ihr auch seine Blässe zu verdecken. Es entstand eine Pause, die nicht beklommener sein konnte. Der Zug hielt an, es schien eine der größeren Stationen zu sein. Eine Menge Volks stand auf dem Bahnhof, drängte sich in der Abendsonne auf und ab, oder betrachtete müßig die Reisenden an den Fenstern und die Aussteigenden. Auch Valentin sah scheinbar die Menschen an, indes er innerlich nach Fassung rang. Auf einmal wandte er sich nach dem Mädchen zurück, dessen Gesicht sich nun auch entfärbt und seltsam verdüstert hatte.

„Sie wollten sagen, mein Fräulein", nahm er das Wort.— „Sie wollten sagen, dass Sie dann mit Ihrem Gemahl nach Amerika gehen?"

„Sie haben's erraten", sagte sie mühsam und nickte.

„Und Sie lieben ihn?"
Valentin hatte diese vier Worte kaum herausgestoßen, als er selbst erschrak. In seiner Verfassung war es ihm unmöglich, die Dinge anders zu sagen, als er sie empfand. Aber er erschrak über ihr Gesicht. Er sah nun erst die Melancholie, die sich darüber ausgebreitet hatte, und die Anstrengung, ihre Gefühle zu verbergen. Endlich sagte sie mit einer
Art von Ruhe:

„Nein."

„Wie — Sie lieben ihn nicht?"

„Ich sagte es schon, mein Herr."
„Und Sie wollen ihn heiraten?"

Das Mädchen sah ihm beklommen ins Gesicht. Doch seine guten, zuverlässigen Augen, seine aufgeregte Teilnahme löste sichtlich ihre ganze Seele auf — plötzlich liefen ihr die Tränen über die Wangen hinunter. „Ich will ihn heiraten — ja!" sagte sie wie in ihr Schicksal ergeben. „Ich will ihn heiraten, weil es so sein muss — — O!" unterbrach sie sich plötzlich, „was werden Sie von mir denken?"

„Nichts, als dass Sie unglücklich sind — und dass ich das sehr traurig finde" — sagte er kummervoll.

Der Ton seiner Stimme trieb ihr vollends die Tränen in die Augen. „Sie müssen nicht schlecht von mir denken!" fiel sie ihm ins Wort. „Ich heirate ihn — um meines Bruders willen. Ich kenne ihn nicht. Mein Bruder kennt ihn — und meinem Bruder und meiner
Mutter zu Liebe — — Sehen Sie, das ist es!" setzte sie weinend hinzu, als sei damit Alles gesagt.

„Das ist ein sonderbares Schicksal, mein Fräulein! Warum heiraten Sie nicht sich selbst zu Liebe, sondern Anderen? Warum —"

„Warum? Mein Bruder ist in Not; Sie glauben gar nicht wie sehr! Meine Mutter nun auch. Und ich allein kann etwas für sie tun. Wenn ich den Mann da nehme" — und sie zeigte mit einer unwillkürlich verächtlichen Bewegung auf die Photographie — „so ist ja alle Not vorbei, mein Herr! Er ist reich. Mein Bruder, meine Mutter können dann leben, ohne in Sorgen zu vergehen. Und das ist doch auch etwas!" setzte sie weinend hinzu.

„Ihr Vater lebt nicht mehr?" fragte er gerührt.

Sie schüttelte den Kopf.

„Und Alles, was er hatte, ist fort?"

Sie nickte, und eine leise Handbewegung bestätigte es.

„Und Sie kennen Ihren Verlobten nicht?"

„Wie soll ich ihn kennen — als Kind hab' ich ihn gesehen, seitdem nicht wieder! In Amerika war er. Jetzt ist er zurückgekommen, eine Frau zu suchen und Deutschland wiederzusehen. Und ist zu meiner Mutter gegangen und zu meinem Bruder — und sie haben mir nach Berlin seine Photographie geschickt — diese da — und nun fahr' ich nach Güstrow, um das zu tun, was sie wollen."

„Und opfern Ihr Glück, Ihre Jugend, Ihre Zukunft — Alles opfern Sie auf?"

„Mein Glück? Meine Zukunft?" wiederholte sie mit einem trübseligen Lächeln. „Was hätte ich für eine Zukunft, mein Herr? Für mein bisschen Lebensunterhalt anderen Menschen zu dienen; Jahr aus, Jahr ein. Und oft was für Menschen!" — Sie sah vor sich hin, als sähe sie einige von ihnen, die ihr das Leben arg verbittert hatten. — ich war heute Morgen froh wie ein Kind, als ich von meinem Ladentisch Abschied nahm — und mir sagte, dass mein europäisches Sklavenleben nun ein Ende hätte! Und was nun auch drüben in Amerika kommen mag" — — Sie suchte durch ihre Mienen auszudrücken, dass sie mit ihrem Schicksal völlig zufrieden sei. Aber die Tränen liefen noch immerfort, und sie zog ihr Taschentuch und legte es sich über das ganze Gesicht.

„Und ich kann nichts für Sie tun?" sagte Valentin, ohne recht zu wissen, was er sagte.

„Was wollten Sie für mich tun?"

„Sie haben sich verkauft und dabei soll es nun bleiben? Sie fühlen sich an diesen Mann gebunden — wirklich gebunden, mein Fräulein?"

„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass er mein Verlobter ist!" antwortete sie.

Valentin verstummte. Der Wagen rollte schon längst wieder auf der Bahn dahin, und das Getöse unter ihren Füßen, das mit der schnelleren Bewegung wuchs, machte es ihm leichter, zu schweigen. Jedes Glücksgefühl war in ihm ausgelöscht. Er dachte, wie diese Reise begonnen hatte und wie sie nun enden sollte, erschien sich wie ein Wahnsinniger und stand plötzlich in seiner Fassungslosigkeit auf, um in dem engen Coupé auf und nieder zu gehen

„Sie brauchen mich wirklich nicht zu bedauern, mein Herr!" sagte das Mädchen nach einer langen Pause. „Die Meisten sind nicht glücklicher als ich. Mein Gott, ich hass' ihn ja nicht! Und dann" — sie lächelte melancholisch — „sie beneiden mich ja Alle, dass ich eine wohlhabende Frau werde! Eine Frau, die schon als Braut nicht mehr dritter Klasse fahren darf — Sie sehen ja" — — Und sie warf einen halb ironischen Blick im Coupé umher, „Und es schmeichelt Einem doch auch, wenn man schon nach der bloßen Photographie und nach ein bisschen Jugenderinnerung so ohne Weiteres geliebt wird!" — Sie sagte das mit herber Selbstverspottung und blickte ihn an, als wolle sie auf seinem Gesicht eine ebenso ironische Antwort lesen. Doch als sie nun seine ernste und tiefbekümmerte Miene sah, brach sie sogleich wieder in Tränen aus und fing an laut zu weinen.

„Das ist eine traurige Geschichte!" sagte Valentin, nachdem er noch eine Weile geschwiegen und auf ihr nach und nach leiser werdendes Weinen gehorcht hatte. Er fühlte sich ebenso unglücklich, wie sie, ja noch viel unglücklicher; aber was sollte er sagen. Plötzlich kam ihm der Duft der beiden Orangen zu nahe, und um etwas zu tun, holte er eine von ihnen aus der Tasche und hielt sie so vor sich hin. Das Mädchen, das sich wieder zu fassen suchte, sah auf und warf einen Blick auf die rote Frucht. „Gott — wenn ich Ihnen mit einer Erfrischung dienen könnte!" sagte er nun halblaut, in sehr mitleidigem Ton.

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe diese Orangen für Sie gekauft, mein Fräulein!" setzte er aufmunternd hinzu.

„Ich danke Ihnen von Herzen", antwortete sie und sah ihn sehr freundlich an. Darüber begegneten sich ihre Blicke, und zwar so warm, dass das Mädchen nach einer Weile in Verwirrung geriet und die noch feuchten Augen in ihren Schoß sinken ließ. „Ich danke Ihnen", wiederholte sie gedämpfter; „aber ich mag nichts essen."

„Nicht einmal so eine kleine Apfelsine?" sagte er bittend.

Der Ton seiner Stimme schien auf sie zu wirken. Um doch für seine Freundlichkeit nicht unempfänglich zu sein, vielleicht auch um die Unterhaltung wieder harmlos zu machen, nahm sie ihm die Apfelsine mit dankendem Kopfnicken aus der Hand und holte ein kleines Messer aus ihrem Täschchen hervor. Indem sie ein letztes leises Schluchzen unterdrückte, schnitt sie rund um die Orange herum, nur in die Schale, ohne das Fleisch zu verletzen, begann dann die dicke rote Haut mit äußerst geschickten Fingern abzulösen. Valentin sah ihr andächtig zu. Er hatte sich ihr wieder gegenübergesetzt. Sowie sie fertig war, breitete sie etwas Papier über ihren Schoß, zerteilte die Frucht, bis alle die Stücke in ihren dünnen Häutchen wie ein Kranz nebeneinander lagen, und sah ihn nun wieder an. „Bitte, nehmen Sie!" sagte ihre silberne Stimme.

„Die Apfelsine ist für Sie", entgegnete er abwehrend.

„Ich esse sie nicht allein. Wollen Sie nicht mit mir teilen?"

Auf diese Worte griff er zu, ohne sich länger zu sträuben. Sie nahm nach ihm. „O weh!" sagte er, als er gekostet hatte — „die Apfelsine ist sauer, und wir haben keinen Zucker, sie nachzusüßen."

„Die Gesellschaft muss es tun!" sagte sie liebenswürdig. Ein paar helle Tropfen standen ihr noch im Auge; ihr freundliches Lächeln nahm sich um so lieblicher aus, „Jetzt kommen Sie wieder!" setzte sie hinzu. „Es geht Stückchen um Stückchen."

„Nur weil Sie es so wollen!" sagte er und nahm wieder. Ein eigentümlich melancholisches Wohlbehagen erfüllte ihn, in so vertraulicher Gemeinschaft mit ihr zu essen. So saßen sie sich gegenüber und in all' ihrem Unglück aßen sie die Apfelsine Stück um Stück, aßen auch die zweite, und fingen an wieder zu scherzen, als sei nichts geschehen. Die Sonne ging unter und warf ihnen noch vom Horizont die letzten roten Strahlen schräg ins Gesicht. In dieser Beleuchtung nahmen sie sich Beide so sonderbar aus, dass sie lachen mussten. Doch über dem Lachen fuhr Valentin auf einmal wieder ein Stich ins Herz. Er erschrak über seine eigene Stimme, starrte dem Mädchen in das angeglühle Gesicht und schüttelte sich. „Mein Gott, wie kann man noch lachen!" sagte er vor sich hin.

„Was haben Sie?" fragte sie geängstigt.

„Nichts!"

Er wandte sich von ihr ab und sah zum Fenster hinaus. Mit der Schnelligkeit, mit der der Zug durch die grüne Landschaft dahinflog, jagten sich ihm plötzlich die Gedanken im Kopf. Noch anderthalb Stunden vielleicht und sie stieg in Güstrow, bei Lampenschein, aus, und er dann mitten in Mecklenburg allein in der Nacht! Und sie in den Armen dieses — — Und dann fort mit ihr nach Amerika — ins Unglück — Und er ohne sie — —

„Es darf nicht sein! Es soll nicht sein!" dachte er halblaut, als wär' er mit sich allein.

Das Mädchen hörte ihn nicht: denn sie hatte das Papier auf ihrem Schoß still zusammengeknittert, den Kopf wieder in die Ecke gelehnt, und sank nun auch in ihre Gedanken zurück. Es dauerte nicht lange, so war ihm, als ob er sie leise weinen hörte. Er fuhr in die Höhe. Eben hatte er sich in fieberhafter Angst mit allerlei unmöglichen Plänen beschäftigt, wie er die Heirat, die Trennung, sein Unglück verhindern könnte. Und nun weinte sie — — „Bei Gott, ich bin im Stande, es zu tun!" murmelte er zwischen den Zähnen.

„Sagten Sie etwas?" fuhr das Mädchen auf.

Valentin schüttelte den Kopf. In dem Augenblick sah er, dass der Zug sich langsamer bewegte, dass mehrere Geleise neben einander erschienen. Eine Gasfabrik, dann einige Bahnhofsgebäude tauchten im letzten Abendlicht auf; dahinter Kirchturm und Häuser einer Stadt. „O, hier wird gehalten!" sagte sie rasch. „Ob man hier aussteigen kann? Ich halt's im Coupé nicht mehr aus — ein wenig Luft — ein paar Schritte."

Der Wagen fuhr am Perron entlang, blieb dann dröhnend stehen. „Kann man hier aussteigen?" fragte Valentin, der links ans Fenster trat, den nebenhergehenden Schaffner. „Fünf Minuten!" antwortete der Mann. „Hier wird eine andere Lokomotive vorgespannt, mein Herr."

Valentin warf einen Blick auf das Fräulein, der sie ermutigte, und sprang, ihr voran, hinaus. Sie folgte ihm in hastiger Aufregung. Die Augen hatte sie schnell getrocknet, und ihr Täschchen am Arm stand sie nun auf dem Asphaltpflaster vor dem Gebäude da, auf dem sich nur einige Bahnhofsbeamte hin und her bewegten.

„Nur ein wenig Atem schöpfen!" sagte sie.

„Darf ich Ihnen dabei Gesellschaft leisten?"

Sie nickte.

„Wollen wir ein paar Schritte auf- und niedergehen?"

Sie nickte wieder.

Er wandte sich nach links, sie folgte ihm. In seinem Leben war ihm noch nicht so beklommen zu Mut gewesen, wie jetzt. Er fühlte, in diesen fünf Minuten müsse sich sein ganzes Schicksal entscheiden; die große Halsader schlug ihm wie ein Eisenhammer — er fürchtete sich nur vor Ihr und vor sich selbst.

„Lassen Sie uns auf diesem schönen Pflaster ganz bis zu Ende gehen!" sagte er mit vor Aufregung zitternder Stimme.

„Haben wir Zeit?"

„Zeit genug!" antwortete er zuversichtlich, „O, das ist eine hübsche Gegend!" setzte er, indem sie immer weiter gingen, hinzu. „Sehen Sie die Berge da drüben mit den schönen Wäldern? Und wie gut die Stadt sich ausnimmt — hier hinter Ihrem Rücken."

„Wo sind wir hier?" fragte sie.

„Ich glaube, man nennt dies hier die Mecklenburgische Schweiz!" sagte er mit sehr mühsamem Lächeln. Vor vielen Jahren war ich einmal hier. O, wie das bisschen Abendwind Einem gut tut."

Das Mädchen sah ernst und trüb in die Welt hinaus. Sie schwiegen Beide. Auf einmal fuhr sie auf: „Mein Gott, es ist ja die höchste Zeit, zurückzukehren, mein Herr.“

„Nicht doch! Es eilt nicht."

„Ich habe es läuten hören!"

„Zum ersten Mal."

„Nein, nein! Lassen Sie uns zurückgehen. Sehen Sie nur, wie weit wir uns von den Wagen entfernt haben!"
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Freienwalde.