Fortsetzung 02

Neustadt-Eberswalde! — Das Wort fuhr Valentin auf einmal durch Mark und Bein. Ein niedriger, sanfter Höhenzug näherte sich der Bahn und der Zug brauste mit abscheulicher Geschwindigkeit daran entlang. Noch ein paar Minuten, dachte er, und ich soll aussteigen und dieses reizende Mädchen „ans Ende der Welt" fahren lassen! — Er blickte sie an; sie hatte sich, offenbar durch die Reden der „Mormonin" abgestoßen, ans Fenster vorgeneigt, als wolle sie die Gegend betrachten, und zu Valentins größter Überraschung traten ihr langsam ein paar Tränen in die Augen. Das ganze seltsame Gespräch schien irgend etwas Trauriges, Peinliches in ihr aufgeweckt zu haben, denn sie hielt die Lippen fest zusammengepresst — was ihr reizend stand — und wurde blasser und blasser. Valentin ward ganz elend zu Mut. Ihr Profil gefiel ihm so sehr, und sie schien so versteckten Kummer zu haben, und er sollte aussteigen. „Mein Fräulein!" sagte er plötzlich. Sie sah ihn von der Seite an. — „Mein Fräulein! Sie wollen also auch unser Europa verlassen?"

„Ja", erwiderte sie. „Was liegt Europa daran?"


„Das ist eine komplizierte Frage, mein Fräulein! Warum wollen Sie uns verlassen?"

Der warme Ton seiner Stimme schien sie etwas zu verwirren. „Warum?" wiederholte sie, „Warum? Weil es so sein muss. Doch das kann Sie ja nicht interessieren, mein Herr. Jeder hat sein Schicksal."

„Mich nicht interessieren! Warum sagen Sie das so traurig, dass Jeder sein Schicksal hat? Gewiss — schütteln Sie nicht den Kopf! — Sie sagten es traurig. Warum wollen Sie nach Amerika?"

„Um mich zu verbessern!" erwiderte sie mit einem liebenswürdig elegischen Lächeln.

Die Lokomotive tat einen langen Pfiff, der Zug fing an langsamer zu fahren. Ein freundliches Städtchen, anmutig eingehügelt, trat rechts hervor; die zum Teil bewaldeten, zum Teil besäeten Anhöhen glänzten in der Sonne Weiter hinaus konnte man ein sich abzweigendes Bahngeleise erkennen, das sich hinter den Hügeln verlor. Valentin bemerkte es und fühlte plötzlich eine ganz sonderbare Beklemmung, eine heftige Angst, wie wenn ihm ein großes Unglück begegnen sollte. „Das da ist die Bahn nach Freienwalde!" murmelte er verstört vor sich hin. Auf einmal war ihm, als ob er das junge Mädchen seufzen hörte, „Man darf nicht wissen", fragte er nun laut, in großer Aufregung , „warum Sie sich drüben zu „verbessern" wünschen?"

Sie tat, als hörte sie nicht.

„Mein Fräulein"

Sie unterbrach ihn hastig, um zu fragen: „Dies ist wohl die Station Neustadt-Eberswalde, mein Herr?"

„Ja, ohne Zweifel, das ist sie! — Und wohin reisen Sie heute?" fragte er mit plötzlichem Entschluss.

„Ich? nach Pasewalk! Und Sie?

„Ich auch."

„Auch nach Pasewalk?"

„Auch nach Pasewalk — allerdings!"

Sowie er das heraus hatte, fühlte er sich wie von einem Alpdruck befreit und griff mit triumphierendem Gesicht nach seinem Hut, der neben ihm lag. Der Zug hielt, die Bahnhofsglocke ward zum ersten Mal geläutet. Im nächsten Augenblick öffnete sich die Wagentür und Valentin sprang hinaus. Er lief auf den Schalter zu: „Nach Pasewalk, zweiter Klasse!"

Er kam auf den Perron zurück, ein anderer Mensch als zuvor.

„In Pasewalk wird übernachtet", sprach er halblaut vor sich hin; „bis dahin fahren wir noch drei Stunden zusammen, das Andere findet sich — morgen!" — Indem er dies sehr vergnügt in seinen Bart murmelte, rannte er gegen einen mittelgroßen, breitschultrigen Menschen an, der, einen mächtigen Strohhut über dem verbrannten Gesicht, ihm grade entgegenkam und mit einem kräftigen englischen Fluch und aufgebrachter Miene stehen blieb. Valentin griff an seinen Hut und entschuldigte sich. Der Andere schien Lust zu haben, noch ein kleines Gewitter loszulassen; aber das gutmütige Gesicht seines Gegners entwaffnete ihn. Indem sie so an einander vorbeigingen, fiel es Valentin auf, dass der Mann mit dem Strohhut, der gleichfalls die Stirn ganz gewaltig runzelte, auffallende Ähnlichkeit mit der stirnrunzelnden Mormonin hatte. Gleich darauf sah er diese junge Dame samt ihrer Begleiterin aus dem Waggon Nr. 875 aussteigen, mit den Augen umherforschen und schnell auf den Strohhut zugehen. Einige Ausrufungen, die er nicht verstand, Händeschütteln, eine Art von Umarmung — dann ward die Glocke zum zweiten Mal geläutet, die Schaffner trieben zum Einsteigen, Valentin sah nur noch, wie die Drei in einen andern Wagen hinaufkletterten, und kehrte in sein eigenes Coupé zurück.

Die junge Dame schien seine Rückkehr mit einiger Neugier abgewartet zu haben; wenigstens stand sie in der Tür, als er kam, und sah ihn mit einem gewissen Lächeln herantreten. Als er einstieg, fand er sich mit ihr allein — das tat ihm unendlich wohl. Es war ihm, als hatten sie miteinander dasselbe Zimmer gemietet und wollten nun die Reise durch das Leben gemeinschaftlich antreten. Ein Kind, das hinter die Schule geht, um Veilchen zu pflücken, kann nicht glücklicher sein, als Valentin war, wie nun der Zug sich in Bewegung setzte und nach und nach das ganze Neustadt-Eberswalde und die Bahn nach Freienwalde ihm aus den Augen kam. Er freute sich, dass Fräulein Gretchen nun gewiss mit einem anderen Verehrer spazieren gehen und sein Freund, der Pastor, ungestört über seiner Morgenpredigt brüten würde. Das Reisen war ihm noch nie so besonderlich, so sonntäglich, so romantisch vorgekommen. Um das Gefühl, dass er auf der Reise sei, ganz auszukosten, legte er seinen Hut — als sein einziges Gepäck — oben auf das Drahtnetz, hängte seinen rechten Arm in den Fenstergurt und lehnte sich, so tief er konnte, in seine Ecke zurück, seiner Reifegefährtin gegenüber.

„Wie schön die Saaten hier stehen!" sagte er recht behaglich, da er das Fräulein wieder heiter und unbefangen ins Land hinausblicken sah.

„Und besonders der Weizen hier zunächst an der Bahn!" erwiderte sie und wies mit dem kleinen Zeigefinger hinaus.

„Der Weizen? Wie, mein Fräulein — den erkennen Sie? so jung, wie er noch ist?"

„Sie wollen sich schon wieder verwundern!" fiel sie scherzend ein. „Ich bin keine Städterin, mein Herr. Bin auf dem Lande aufgewachsen, draußen in der Lausitz — ein richtiges Landmannskind. Ich wusste noch keine Silbe von Schiller und Goethe, als ich schon Weizen und Roggen, anderthalb Zoll hoch über dem Boden, unterscheiden konnte."

„Mein Gott, das ist ja sehr merkwürdig!" sagte er ganz außer sich und starrte sie wie ein Jahrmarktswunder an. „Da passen wir ja — — ich will sagen, da treffen wir ja eigentümlich zusammen. Sehen Sie mir’s nicht an, mein Fräulein, dass ich ein Landmann bin?"

„Ich dachte wohl so etwas!" antwortete sie mit einem munteren Blick. Seine fast elegante großstädtische Kleidung, sein militärischer Schnurrbart sahen nicht eigentlich nach Landwirtschaft aus; aber das luftbraune Gesicht, die treuherzigen blauen Augen, die ganze kräftige, etwas schwere Gestalt ließen etwas davon erraten. „Sie scheinen furchtbar gesund zu sein!" setzte sie heiter hinzu.

„Ja, das bin ich, bei Gott! Die Masern und das Zahnen abgerechnet, hab' ich noch wenig Lebensgefahren durchgemacht: zwei bis drei Schnupfen im Ganzen. Arbeiten kann ich für Zwei! — Nicht wahr, der Weizen hier gefällt Ihnen, mein Fräulein; aber wenn Sie erst meinen sehen würden —"

„Sie haben ein Gut?"

„Ich habe ein recht hübsches Gut, — ja, mein Fräulein. Strenger Weizenboden, etwas zu viel Weideland; aber das macht sich! Das Gut liegt in — in Hinterpommern", setzte er etwas verschämt hinzu. „Kennen Sie Hinterpommern?"

„Ich habe nicht die Ehre."

„Hinterpommern — man spricht gewöhnlich etwas boshaft davon! Ein Onkel von mir pflegte, wenn er in der Unterhaltung auf Hinterpommern kam, immer hinzuzusetzen: „mit Respekt zu sagen." Aber lassen Sie sich dadurch nicht irre machen; es ist doch ein nettes Land! Auch viel guter Boden! O, es ist Schade, dass wir jetzt nicht auf der Bahn von Stargard nach Belgard fahren: da könnte ich's ihnen zeigen."

„Hinterpommern?"

„Mein Gut, liebes Fräulein, meinen Weizen. Hier steht er ja auch recht hübsch, aber nicht so fett, nicht so fett! Ja, das wäre reizend", sagte er dann in einem neuen Gedanken und mit zutraulichem fächeln, „wenn wir jetzt, statt nach Angermünde, mit einander auf meinen Hof führen!"

„Sie sind verheiratet?" fragte sie, ohne auf diesen Gedanken einzugehen.

„O nein! Ganz im Gegenteil!" — Er seufzte ein wenig. — „Ich lebe da sehr allein. Das ist die Schattenseite. Man wirtschaftet doch auch nicht den ganzen Tag! Verkehr — Verkehr hab' ich nicht viel. Mit meinen Nachbarn spiel' ich zuweilen Whist, — zuweilen auch etwas Beethoven, vierhändig. Sonst les' ich in meinen Büchern. Volkswirtschaft ist meine Liebhaberei; besonders der Carey, den hab' ich nun schon dreimal von vorn bis hinten gelesen — kennen Sic Carey, mein Fräulein?"

„Ich habe nicht die Ehre!" sagte sie lächelnd. „Aber warum heiraten Sie nicht?"

„Ja — das ist eine sehr natürliche Frage. Warum heirate ich nicht? — Es scheint, die Rechte hat sich noch nicht gefunden."

„Wahrscheinlich wird es Ihnen zu schwer, sich zu verlieben!" warf sie neckisch ein.

„O Gott, Sie irren!" antwortete er mit einem kleinen Anflug von Selbstverspottung. „Früher wohl — da haben Sie Recht; aber jetzt gar nicht mehr. Ich bin wie die Pappeln, mein Fräulein."

„Was verstehen Sie darunter?''

„Sehen Sie, die Bäume sind grade so verschieden wie die Menschen, mein Fräulein! Geben Sie einmal im Frühling Acht: zuerst schlagen die Kastanien aus, dann werden auch die Birken grün, dann die Eschen, und nun können's auch die Buchen und Linden nicht mehr lassen; — aber die Pappeln sind die schwerfälligsten, die kommen zuletzt. Doch nun sehen Sie einmal die Pappeln an, was für ein unruhiges, zitteriges, gefühlvolles Laub die bekommen! Wenn nur das leiseste Lüstchen geht, so fangen ihre Blätter an, sich fieberhaft zu bewegen."

„Und damit vergleichen Sie sich?" fragte das Mädchen und lachte.

„Ich habe auch erst so spät Blätter bekommen!" sagte er mit Humor, und dabei zeigte er auf sein Herz.

„Und auch so gefühlvolle?"

Er nickte.

„Und doch heiraten Sie nicht?"

„Sobald die Rechte mich will!"

Indem er das sagte, blickte er das Mädchen mit herzlich verliebten Augen an; — doch sie gab nicht Acht darauf, denn sie sah vor sich nieder. Seine letzten Worte schienen sie auf einmal wieder nachdenklich, schienen sie traurig zu machen. Der Zug hielt eben an. Sie wandte ihr Gesicht nach dem Fenster. „Sind wir schon in Angermünde?" fragte sie, um sich in ihren Gedanken zu unterbrechen.

„Nein, mein Fräulein, noch nicht. Das ist nur so eine Nebenstation; sehen Sie, es geht gleich wieder weiter. Wie hübsch hierauf dem kleinen Bahnhof die eingesetzten Levkoien blühen! — Sie sind also auch ein richtiges Landmannskind, liebes Fräulein?"
„Ja, und von ganzem Herzen!"

„Und sind zwischen Wies' und Acker aufgewachsen?"

„Bis ich erwachsen war. Wir hatten damals auch ein Gut, mein Herr; — doch das ist lange vorbei! Mit der Mutter wirtschaften, das war meine ganze Lust. Um neun bei der Übersetzung aus dem Shakespeare, um zehn in der Milchkammer, um elf in der Küche."
Valentin starrte sie mit strahlenden Augen an. „Und Sie verstehen also die ganze Wirtschaft, mein Fräulein?"

„Ich fürchte, ich bin nicht ganz mit der Zeit fortgeschritten", sagte sie lächelnd; „denn das Alles ist schon eine Weile her, mein Herr! Und die Zeit marschiert heutzutage so schnell. Und wozu auch — es ist ja nun vorbei!" setzte sie schwermütig hinzu.

„Sie würden also gern wieder auf dem Lande leben?" fragte Valentin. „Sie würden lieber —"

„Ja, das würde ich tun", unterbrach sie ihn halb zerstreut und müde, die Augen in ihrem Schoß.

„Und es würde Ihnen Vergnügen machen, eine Landfrau zu werden?"

Überrascht sah sie auf, überflog ihn mit einem Blick. „Ach, Sie fragen so viel!" sagte sie dann mit einem elegischen Verziehen der Mundwinkel und blickte wieder auf das Täschchen in ihrem Schoß. „Es kommt ja nicht darauf an, was mir Vergnügen macht oder nicht! Das Schicksal" — sie brach ab, und aus wirklicher Ermüdung oder aus Vorsatz fielen ihr die schon halb verschleierten Augen zu. „Nehmen Sie mir's nicht übel", fragte sie nach einer Pause mit ihrem freundlichsten Ton, „wenn ich ein bisschen einschlafe? Ich habe diese letzten Nächte so außerordentlich wenig — Zeit dazu gehabt — und die Nachmittagssonne — die Frühlingsluft —"

„Um Gottes willen, mein Fräulein, ich bitte Sie! Am Ende bin ich daran Schuld, dass Sie nicht schon längst schlafen. Ich muss um Verzeihung bitten —"

Sie hatte sich in ihre Ecke zurückgelehnt, schüttelte jetzt freundlich verneinend den Kopf; dann drückte sie die dunklen Wimpern noch fester an und fing an, lange tiefe Atemzüge zu tun. Die Sonne fiel schräg in den Wagen herein und auf ihren Platz, über ihr graues Jäckchen. Valentinstand leise auf, um ans andere Fenster zutreten und den blauen Vorhang niederzulassen. Dann ging er ebenso leise an seinen Platz zurück, setzte sich wieder dem Mädchen gegenüber. Etwas vorgebeugt saß er da, horchte auf ihren Atem und hatte so ein wohltuend sicheres Gefühl, zu hören, wie das Leben in ihr aus- und einging. Sie schien bald zu entschlafen. Im ganzen Coupé rührte sich nun nichts mehr als eine summende Fliege, die nach einiger Zeit zum Fenster hinausflog. Auch in den Nachbar-Coupés war Alles still. Nur ein einziges Mal bewegte sich der Schaffner draußen am Wagen entlang, warf im Vorbeigehen einen zweideutig lachenden Blick zum Fenster herein und verschwand wieder wie ein Schatten. Von den Feldern, an denen der Zug vorüberfuhr, stieg hier und da eine einzelne Vogelstimme auf, oder ein Dorfhund bellte in der Ferne. Sonst war es weit und breit nachmittagsstill, und es hörte sich an, wie wenn die ganze Ukermark schliefe.

Nur desto wachsamer saß Valentin da, die Augen auf das graue Jäckchen und den stummen Mund ihm gegenüber geheftet und in seine Gedanken versunken. Er sagte sich, dass er allerdings so eine Pappel sei, wie er sich vorhin beschrieben, und dass jetzt ein außerordentlich starker Wind durch seine Blätter gehe. Dann stellte er sich seine Zimmer auf dem Gutshof vor, ging in Gedanken einsam und melancholisch darin herum, ließ jetzt auf einmal das Fräulein durch die Gangtür eintreten und bekam bei diesem Anblick einen starken Ruck in der Brust. Dann sah er sie wieder in ihrer holden Wirklichkeit in der Wagen-Ecke liegen, die Arme so zierlich über der Brust gekreuzt, und geriet außer sich vor Wohlgefallen an ihr. Er wiederholte sich alle ihre Worte über die Landwirtschaft und dass sie so gern wieder da draußen leben würde. „Es ist sonderbar", dachte er: „ich kenne sie erst seit ein Uhr, aber mir ist zu Mut, als ob wir schon auf der Hochzeitsreise wären! Das ist eine Frau fürs Land — eine Frau für mich! Sie versteht Alles — ach Gott, und wenn sie nicht auch noch so reizend wäre; — aber sie ist es, sie ist es!" — Er sah sie wieder darauf an, und sie war es wirklich. Ihre blassen Lippen und Wangen röteten sich im Schlaf, lockten so sehr, sie zu küssen. So sollten sie nun immer aussehen, dachte er, wenn er sie erst draußen auf dem Lande hätte. Wie sie da aufblühen sollte! — Irgend einen stillen Kummer schien sie zu haben, einen Druck auf der Seele. Sein ganzes ehrliches Herz brannte, ihr den wegzufragen und wegzufangen. Sie sollte nicht auswandern, nein, nein! — Erdachte sie sich wieder erwacht — doch hatte er nicht den Mut, sie aufzuwecken — und dachte sich mit ihr in Pasewalk, und wie es ihm gelingen müsse — — Er wusste nicht wie, noch was. Es tat auch nichts. Er war einstweilen froh, ihr gegenüberzusitzen, sie allein zu haben, und ließ sein Pappellaub zittern, wie es wollte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Freienwalde.