Fortsetzung 01

Der Schaffner trat in die Tür, bat sich die Billette aus und verschwand dann wieder; die Glocke ward zum letzten Mal geläutet, der Betriebsinspektor pfiff, die Lokomotive antwortete und langsam rollte der Zug in den hellen Nachmittag hinein. Zuerst durch den endlosen Bahnhof, dann an der Vorstadt hin, zwischen hohen Häusern, die nach und nach immer einzelner, immer kleiner, immer ländlicher wurden, bis das freie Feld zu beiden Seiten ergrünte. Das Fräulein sah zum Fenster hinaus; sie schien von der großen Stadt ernsthaften Abschied zu nehmen. Ein ganz leiser Seufzer kam ihr über die Lippen; und nun betrachtete Valentin ihren Mund. Er war zusammengepresst, eher schmal als voll, eher klein als groß; auch von etwas blässlicher Farbe. Er schien im ganzen Gesicht das Nachdenklichste und — was freilich für einen Mund sonderbar drollig klingt — das Verschwiegenste zu sein. Valentin hielt es für seine Pflicht, nun auch das Kinn zu betrachten. Es war recht mädchenhaft rundlich, aber stark und groß, wie wenn die Willenskraft der kleinen Dame es hervorgetrieben und sich dann, wie in einem Gipsabguss, darin abgeformt hätte. Auf einmal zuckte es; — die junge Dame schien über die physiognomischen Studien ihres Nachbars ungeduldig zu werden. Sie zog ihren Kopf zurück, lehnte sich in ihre Ecke und machte die Augen zu.

„Dieser Entschluss kam ihr offenbar aus dem Kinn!" dachte Valentin, der sich ganz in ihren Charakter zu versenken suchte — er wusste selbst nicht, warum — und musste innerlich lachen. Es fiel ihm nun auf, wie reizend das Mädchen mit geschlossenen Augen war, zumal da ihre Wangen von der Wärme sich röteten. Sie schob den geöffneten Regenmantel, ohne aufzusehen, mit der Hand zurück, und ein allerliebstes graues Jäckchen erschien, das sich mit jedem Atemzug senkte und hob und von dessen drittem Knopfloch — aus einem Veilchenstrauß — nun ein starker, süßer Duft zu ihm herüberdrang. „Das muss mich für die Zigarre entschädigen!" seufzte er vor sich hin. „Mein Gott, was für Opfer der Mensch seiner Neugierde bringt!" — Das Bild einer langen, braunen, schlanken Zigarre tanzte ihm fortwährend vor den Augen. Um sich zu zerstreuen, zu beschäftigen, griff er endlich in die linke Rocktasche, in der er einige Täfelchen Schokolade aufzubewahren pflegte. Er zog ein Packet in grünem Papier heraus, brach eine Tafel durch und fing an zu essen. Die Tätigkeit tat ihm wohl. Sie beschwichtigte seine Phantasie und stillte zugleich den erwachenden Hunger — denn er hatte noch nicht zu Mittag gespeist, und vor zwei Stunden keine Aussicht dazu. So sah er eine Weile in seinen Schoß und zerdrückte die Schokolade. Als er dann wieder aufblickte, trafen ihn die blauen Augen, die sich mittlerweile geöffnet hatten und die kleinen Täfelchen aufmerksam zu betrachten schienen.


„Darf ich Ihnen anbieten?“ fragte er zuvorkommend. Das Mädchen nickte anmutig mit dem Kopf und antwortete ohne alle Ziererei, sie nehme es dankbar an. Er hielt ihr ein Täfelchen hin. Sie ließ es sich zwischen die kleinen Finger stecken und sagte munter: „Nicht wahr, mein Herr, die Schokolade ist gut?"

„Ja gewiss, das ist sie! Aber Sie urteilen ja, mein Fräulein, ehe Sie kosten?"

„O, ich brauche nicht erst zu kosten, ich kenne sie!" — Ein eigentümliches Lächeln flog ihr übers Gesicht. „Wo kaufen Sie sie, mein Herr?"

„Sie können mich töten, mein liebes Fräulein, aber ich weiß es nicht. Wo ich so einen Laden sehe, da gehe ich einfach hinein."

„Nun, die Schokolade ist aus unserer Fabrik!" sagte sie und blickte ihn ruhig an.
Valentin starrte ihr überrascht ins Gesicht. Sie schien sich daran zu weiden. „Ja wohl, aus unserer Fabrik!" wiederholte sie nach einer Weile, wie wenn er sie ersucht hätte, es noch einmal zu sagen. „Schmeckt sie Ihnen nun nicht mehr, mein Herr?" setzte sie mit scherzhafter Koketterie hinzu. „Vielleicht habe ich Ihnen dieses Päckchen da eigenhändig verkauft, ohne dass wir Beide es wissen."

„Sie besitzen also eine Schokoladefabrik?" fragte Valentin.

„O nicht doch, nicht doch! So eine Potentatin bin ich nicht. Alles, was ich besitze, ist im Packwagen, in meinem Koffer. Ich habe nur — für wenig Geld und noch weniger gute Worte — verkauft, Buch geführt, verwaltet. Übrigens nur bis gestern; seit heute Morgen nicht mehr."

Ganz unwillkürlich sah Valentin an ihrem Anzug herunter, dessen Einfachheit er nun verstand. Sie bemerkte es und konnte nicht umhin, einen Augenblick zu erröten. „Was hilft es!" sagte sie dann wieder heiter; „ich habe mir alle Mühe gegeben, Millionärin zu werden, aber es wollte nicht gehen. Es fehlte am Geld dazu! Jetzt hab' ich mich mit der Armut begnügt, die leichter zu haben ist; und" — sie sah ihn reizend an — „Armut schändet ja nicht."

„Nein, gewiss nicht, mein Fräulein! Mich wundert nur — —" Er suchte eine Weile nach den rechten Worten.

„Was wundert Sie, mein Herr?" fragte sie neugierig.

„Dass ich — dass Ihr Gesicht so gar nicht danach aussieht, hinter einem Ladentisch — —Sie sehen so distinguiert aus!" — Er hatte kaum dieses Wort gefunden, so musste er über die Anstrengung und über ihren Erfolg innerlich lachen.

Das Fräulein lachte mit, aber äußerlich. „Ich weiß nicht, mein Herr, was Sie darunter verstehen: ob es ehrenvoll ist, oder nicht! Übrigens habe ich bis zu meinem siebzehnten Jahr nie daran gedacht, dass ich einmal Schokolade verkaufen und Rechnungen schreiben würde. Ich hätte gewiss darauf geschworen, ich wäre zu gut dafür! Aber all' mein Französisch und Englisch — Sie sehen, wie schlecht es mich davor geschützt hat, hinter einem simplen Ladentisch — „der Not gehorchend, nicht dem eignen Trieb —"

„Sie zitieren Schiller!" fiel Valentin ihr in komischem Erstaunen ins Wort.

„So —? Woher wissen Sie das?" fragte sie und sah ihm klug ins Gesicht.

„Nun, weil dieser Vers der Anfang der „Braut von Messina" ist!"

„Ei, ei, mein Herr, diese Kenntnisse —!" Indem sie das sagte, flog ein so feiner Zug über ihr Gesicht, dass es unmöglich war, den stillen Sinn ihrer Worte nicht zu erraten. Valentin erriet ihn und sein bräunliches Gesicht ward dunkelrot. verzeihen Sie!" sagte er. „Sie haben Recht: der Eine kann sich so gut verwundern, wie der Andere. Und ich sollte nur ganz besonders stille sein. Ich sehe nicht danach aus" — er lächelte bescheiden und liebenswürdig — „als ob ich Schiller und Goethe in der Tasche hätte."

„Mein Gott, wie sehen wir Alle aus!" fiel sie ihm höchst drollig ins Wort. „Ich kenne kein Gesicht, das nicht viel geistreicher sein könnte! „Behandelt Jeden nach Verdienst, und wer ist vor Schlägen sicher?" — Aber ich zitiere schon wieder. Ach Gott! Ich werde nun bald irgendwo am Ende der Welt sein, wo ich Schiller und Shakespeare noch weniger brauchen kann, als in der Schokoladefabrik in der Mohrenstraße."

„Wandern Sie auch aus, mein Fräulein?" fragte jetzt eines der beiden Frauenzimmer, die mit Valentin auf derselben Seite saßen — sonst war das Coupé leer — und rückte etwas näher, um sich besser in das Gespräch einmischen zu können. Valentin fuhr förmlich zusammen, als er die scharfe Stimme plötzlich wie aus dem Hinterhalt hervorbrechen hörte. Es war ihm zu Mut, wie wenn zwischen zwei Menschen, die behaglich plaudernd auf der Straße stehen, auf einmal ein Dachziegel niederprasselt. Mit einer hastigen Bewegung wandte er sich um und sah die Sprecherin an. Sie war, gleich ihrer Nachbarin, geschmacklos bunt und überladen gekleidet, das kleine Hütchen voll Federn, die Stirn in die Höhe gerunzelt, was sie um zehn Jahre älter erscheinen ließ, als sie war; über den jugendlich vollen, aufgeworfenen Lippen ein fast unweibliches Bärtchen. Ein riesiger Chignon zog ihren Kopf, der ohnehin nicht in die Höhe strebte, ganz nach hinten. Man sah ihrem Ausputz, ihrem Mienenspiel an, dass sie von Hause aus nicht hässlich, aber durch einen unwiderstehlichen Naturtrieb genötigt war, sich auf jede Weise zu entstellen.

„Wandern Sie auch aus, mein Fräulein?" wiederholte sie, da das junge Mädchen auf die erste Frage nicht Acht gegeben, sondern sich in seine Gedanken vertieft hatte. „Ich meine nur, weil Sie sagen, dass Sie ans Ende der Welt wollen?"

„Ja, so ungefähr!" gab die Andere zur Antwort.

„Auch nach Amerika?"

„So etwas könnte es sein!"

Valentin horchte hoch auf. Er hatte sich bisher noch nicht vorgestellt, dass seine reizende Reisegefährtin auch einen Reisezweck haben werde. Nach Amerika! dachte er und sah sie erschrocken an, wie wenn sie im nächsten Augenblick zwölfhundert Meilen von ihm entfernt in New-York landen könnte. „Was haben Sie in Amerika zu suchen, mein Fräulein?" fragte er aufgeregt und beinahe vorwurfsvoll.

„Mein Glück!" sagte sie mit einem elegischen Lächeln.

„Wollen Sie drüben heiraten?" sing die scharfe Stimme neben Valentin wieder an.

„Gehen Sie auch zu den Mormonen, mein Fräulein?"

Das Mädchen starrte der Fragerin sprachlos ins Gesicht. Erst nach einer längeren Pause sagte sie: „Was soll ich bei den Mormonen?"

„Um Vergebung — ich fragte nur. Sie wollen es also nicht. Sie gehören also nicht zu dieser Sekte; wollen auch wahrscheinlich nicht zu ihr gehören."

„Nein", sagte sie kurz.

Valentin, den das sonderbare Gespräch zu interessieren anfing, sah das Frauenzimmer mit den Stirnrunzeln aufmerksamer an. „Erlauben Sie", fragte er: „Sie wollen also hin?"

„Wohin?"

„Nach dem großen Salzsee, zu den Mormonen?"

„Ja, mein Herr; ich und diese meine Freundin hier; wir wollen's drüben versuchen."

„Sie wollen dort Männer heiraten, die schon andere Frauen haben?"

„Wahrscheinlich. Das ist nicht das größte Unglück, mein Herr."

Valentin lachte. „Und Sie kennen wahrscheinlich Ihre Männer noch ganz und gar nicht? Sie reisen ihnen so aufs Geratewohl in die Arme?"

„Ich habe einen Bruder bei den Mormonen", sagte das junge Frauenzimmer unbefangen; „der wird uns drüben verheiraten. O, es ist ein recht hübsches Leben in Utah! Es sind reiche Leute dort — und sehr gebildet. Unsere Eltern haben uns nichts zu geben; mein Vater — ach Gott, es ist ein armer Schneider in der Chausseestraße, der selbst nichts zubeißen hat; und Elisen ihr Vater — —." Sie sah ihre Freundin an, die ein etwas verlegenes, einfältiges Gesicht machte; dann sagte sie nach einer kleinen Pause: „Sie weiß nicht einmal, ob sie einen hat. Na, und wenn drüben auch nichts los ist" — sie lachte — „so haben Europa und Amerika sich nichts vorzuwerfen."

„Sie sind offenbar eine Berlinerin!" sagte Valentin.

„Das wollte ich meinen: eine rechte, echte!" — Sie wandte jetzt lebhaft den Kopf und sah zum Fenster hinaus. „Da kommen wir schon an das große „Odergebirge", nun kann Neustadt-Eberswalde nicht mehr weit sein! Elise, sieh Dir das noch einmal an, bei den Mormonen siehst Du solche Gletscher nicht wieder!"
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Freienwalde.