Abschnitt 3

Zehntes Capitel


Nun qualificirte sich die Sache zu einer Roman-Scene, und es ließ sich gar nicht mehr ändern, man mußte Anstalt zur Entführung machen. Dennoch würde, wie man sicher behaupten darf, unser redlicher Previllier noch vorher einen gelindern Weg versucht, und mündlich den alten Förster zu überreden getrachtet haben; Allein er bekam grade zu der Zeit abermals einen Brief von seinem ostindischen Wohlthäter, welcher ihm seine Ankunft in Teutschland meldete, und den Hauptmann bat, ihm einen Ort namhaft zu machen, wo sie sich zuerst sprechen könnten. Hierzu schlug Previllier Peina vor, und seine Absicht war, seinem zweyten Vater daselbst seine Geliebte zu zeigen, und ihn dann zu bereden, mit ihnen nach Biesterberg zu reisen, um dort alles anzuwenden, den Förster zu bereden. Die Anstalten zur Entweichung wurden mit nöthiger Vorsicht gemacht; hätte man deren aber auch weniger angewendet; so würde doch das Pädagogen-Pärchen schwerlich der Flucht ein Hinderniß in den Weg gelegt haben, denn übertrieben ängstliche Aufsicht über die jungen Frauenzimmer war ihr Fehler nicht. Übrigens wissen die Leser, was den beyden Liebenden in Peina wiederfuhr, und ich könnte nun getrost in der Erzählung dessen fortfahren, was der Jungfer Margaretha begegnete, nachdem ihr Oheim sie auffieng, und mit Gewalt wieder nach Goßlar zurückbrachte; Allein ich muß mich erst einer Bemerkung über diesen ganzen Vorfall entledigen, und dann einige moralische Sätze aus dieser Geschichte ziehn, zum Beweise, daß doch im Grunde kein Buch so geringe ist, in welchem nicht einiger Stoff zur Erbauung für lehrbegierige Leser zu finden wäre.


Die Bemerkung ist folgende: Hätten wir diese interessante Geschichte gänzlich erfunden, oder, wie man zu sagen pflegt, aus den Fingern gesogen – gegen welchen Verdacht wir jedoch feyerlich protestiren –, so würden wir vielleicht, zur Warnung und zur Lehre für andre, eben so romanhaft gestimmte Frauenzimmer, die Person des Entführers, den Herrn Hauptmann Previllier, als einen Erz-Bösewicht geschildert und das entlaufene Jüngferchen tausendfach Noth und Elend, als die Folge dieser Verirrung, haben erleben lassen. Verdient hätte es das Mädchen und ich hätte da Stellen anbringen können, bey welchen selbst dem Setzer dieser Bogen Thränen über die Backen geträufelt wären; aber Wahrheit bleibt Wahrheit. Diesmal glückte es nun freylich mit der Entführung, denn der Officier war ein Biedermann; aber hätte er nicht eben so wohl ein Schuft seyn können? – Und wie hätte es dann mit ihr ausgesehn? Mademoiselle! Was meinen Sie dazu? –

Und das führt mich nun zu den moralischen Lehren, die sich, sowohl bey des Herrn Deckelschalls und seines Weibes, als bey der holden Meta Geschichte anbringen lassen und worauf ich fleißig Acht zu geben bitte; denn je seltner einen Autor das Moralisiren anwandelt, um desto größern Anspruch darf er ja wohl auf die Aufmerksamkeit der Leser machen; also

Erstlich: Wer in dieser Welt fortkommen will, der thut wohl, wenn er so irgend etwas lernt, womit man im bürgerlichen Leben Brod verdienen kann, es müßte denn seyn, daß sein Magen so geschaffen wäre, daß er vom Schimpfen auf die verkehrten Welt-Einrichtungen satt würde;

Zweytens: Wer heyrathen will, thut nicht übel, wenn er vor der Hochzeit überlegt, wovon er nebst Frau Gemahlinn leben wolle; wobey er nicht gar zu viel auf die Gastfreundschaft seiner Verwandten und die Hülfe der Menschenfreunde rechnen darf.

Drittens: Menschen, die zu sonst nichts in der Welt brauchbar sind, sollen keine Erziehungs-Institute anlegen, noch überhaupt sich mit Bildung Andrer abgeben, was für Beyspiele man auch vom Gegentheile anführen mögte.

Viertens: Für junge Leute sind alle Romane gefährlich, außer, versteht sich, die, welche wir geschrieben haben und, will’s Gott, noch schreiben werden, wenn wir immer Verleger finden, die sich von uns ankörnen lassen;

Fünftens: Man vertraue einen Hühner-Hund, der abgerichtet werden soll, unmaßgeblich niemand an, den man nicht selbst geprüft hat, ob er das Ding auch verstehe. Item dieselbe Regel ist zu beobachten, wenn man sein Kind einem Fremden zur Erziehung übergeben will;

Sechstens: Wer seiner Tochter einen Mann anheyrathen will, kann allenfalls gelegentlich, bevor er die Sache gänzlich in Richtigkeit bringt, das Mädel fragen, ob sie den Kerl auch leiden mag; Sonst giebt’s zuweilen Unglück;

Siebentes: Mit dem Entführen ist es eine misliche Sache und nimt nicht selten ein lamentables Ende.

Diese sieben Moralien scheinen beym ersten Anblicke ganz gemein und gleichsam trivial; allein nicht nur ist das bey allen moralischen Sätzen der Fall, nämlich, daß sie bekannt genug sind, ohne daß man deswegen darnach handelt, theils gehören diese sieben Stücke würklich zu den auserlesensten und haben viel in recessu, zu Teutsch: im Rückhalte; Endlich auch gewinnen solche alten Moralien durch eine feine, angenehme Einkleidung neuen Reiz, und darinn haben wir, ohne uns zu rühmen, unsre Stärke. – Nun weiter!

Warum grade der Herr Förster sich entschloß, mit seiner Nichte wieder nach Goßlar und nicht vielmehr nach Biesterberg zu reisen, das soll Euch, meine werthesten Zuhörer! in dieser Stunde mit wenig Worten auseinandergesetzt werden. Er war ein Mann, der gern alles in’s Klare gebracht sah und der es nicht leiden konnte, daß auf seiner oder der Seinigen Ehre eine Makel haften bliebe. Gretchen war heimlich aus Goßlar entwischt; öffentlich mußte sie sich also wieder da zeigen, ehe die Sache ruchtbar wurde; dort mußte zugleich die Untersuchung angestellt werden, ob sie auch durch ihre übrige Aufführung sich und ihre Familie beschimpft und welche Rolle bey dieser ganzen Liebesgeschichte Herr und Madam Deckelschall gespielt hätten. Über das alles sollte ihm dann der Magistrat in Goßlar ein Attestat schwarz auf weiß ausfertigen, zu seiner Rechtfertigung bey dem Herrn Amtmann Waumann.

Man kann sich leicht vorstellen, daß die Gespräche, welche unsre drey Reisenden unterwegens führten, nicht von der lustigsten Art waren; die holde Meta klagte und betheuerte, sie werde keinem andern Manne die Hand geben, als ihrem Hauptmanne; der Förster fluchte und appellirte an die Obrigkeit; der Pastor aber kam je zuweilen mit einem von unsern sieben moralischen Sätzen angezogen, den er dann nach seiner Weise ausführte und hinzusetzte: „Diese wichtige Wahrheit habe ich in einer von meinen Predigten, die ich drucken zu lassen die Absicht hatte, weitläuftiger auseinandergesetzt.“

Auf diese Weise kamen sie in Steinbrüggen an, welches ungefehr in der Mitte zwischen Peina und Goßlar liegt; es wurde hier angehalten und der Förster fühlte Beruf, sich mit einem vollständigen Frühstücke zu laben. Während diese Beschäftigung seine ganze Aufmerksamkeit fesselte, gieng Meta aus dem Zimmer, öfnete eine Thür, welche in den kleinen Garten des Wirthshauses führte und gieng in demselben kummervoll auf und nieder. Plötzlich erwachte in ihr der Gedanke: Wie? wenn Du hier Deinen Hütern entwischtest, in einem benachbarten Dorfe bey gefühlsvollen Leuten Schutz suchtest, Dich dort versteckt hieltest, und indeß an den Geliebten schriebst, daß er dann käme, Dich abzuholen? – Dieser Plan hatte etwas so Romanhaftes; sie konnte unmöglich der Versuchung wiederstehn, ihn auszuführen. Daß ihr Brief gewiß den Hauptmann verfehlen mußte, der doch wohl nicht, nachdem er sie verlohren, ruhig in Peina sitzen geblieben seyn würde, das und sehr viel andre Dinge überlegte sie nicht. Der Garten hatte eine Hinterthür, die hinaus auf das Feld führte; diese Thür stand offen. Das Feld war mit Hecken eingefaßt, hinter welche man sich verstecken, oder vielmehr unbemerkt längs denselben fortlaufen konnte, bis man ein Wäldchen erreichte, oder an eine Straße geriethe, welche nach einer andern Richtung hinführte; auch lagen einige Dörfer in der Nähe – kurz! sie meinte, das Ungefehr werde sie schon einen sichern Weg leiten, ehe man etwas von ihrer Flucht gewahrwürde; also lief sie fort, quer über das Feld hin, den Hecken zu, zwischen welchen sie würklich einen hohlen Weg fand, welchen sie verfolgte und – das Übrige werden wir einst erfahren – kehren wir in das Wirthshaus zurück!

Eine gute halbe Stunde beschäftigte den Förster das Frühstück, und der Pastor rauchte dabey sein Pfeifchen; als endlich jener seine Nichte vermißte. „Sie ist vorhin in den Garten gegangen, wie ich gesehn habe“, sagte Ehren Schottenius, „aber es wird nun auch wohl Zeit seyn, daß wir uns weiter auf den Weg machen. Ich will die Jungfer rufen“. – Er gieng; aber fort war sie, war nirgends zu finden. Wir lassen die beyden Herrn, die Wirthinn, den Hausknecht und die Magd sie aufsuchen und knüpfen indeß einen Faden unsrer Geschichte wieder an, den wir lange genug haben liegen lassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Braunschweig