Abschnitt 1

Sechstes Capitel


Fragment einer Predigt. Unvermuthete Zusammenkunft in Peina. Wie mag das zusammenhängen?


Der Ort, wo wir, als ein gewissenhafter Geschichtschreiber, den hoffnungsvollsten Jüngling leider! haben einsperren lassen müssen, ist freilich kein angenehmer Aufenthalt für ihn; allein da wir ihn doch nun vorerst noch nicht von da erlösen können, fühlen wir, so sehr wir uns auch für ihn interessiren, dennoch keinen Beruf, ihm dort Gesellschaft zu leisten, sondern kehren vielmehr nach Peina zurück, um zu sehn, was aus unsern andern beyden Freunden geworden ist.

Wir haben gehört, daß der Herr Pastor sich angelegen seyn ließ, die Lücke wieder auszufüllen, welche böse Buben in eine seiner schönsten Predigten gemacht hatten; der Förster Dornbusch warf sich indeß in einen alten Lehnsessel hin, streckte die Beine vorwärts, schlug die Arme in einander, schloß seine Augen, fieng an zu gähnen und schlief ein. Was können wir nun besseres thun, als daß wir, ohne Einen von Beyden zu stöhren, leise hinter Ehren Schottenii Stuhl treten und, was er zu Papier bringt, heimlich in unsre Schreibtafel eintragen? – Hoho! meine Damen und Herrn! schweigen Sie ja still! Sie können froh seyn, daß ich Ihnen nicht alle sechs und funfzig Predigten als Beylage zu diesem Romane aufdringe. Sie kommen noch wohlfeil davon; und, die Wahrheit zu gestehn, es wäre für die Mehrsten von Ihnen überhaupt nützlicher, wenn Sie mehr Predigten und weniger Romane läsen. Schlimm genug, daß, wenn man Euch einmal wichtige Wahrheiten an das Herz legen will, man die bunte Jacke anziehn muß! Und dann mag man sich ja wohl in Acht nehmen, daß man bey ernsthaften Gegenständen nicht zu lange verweile, sonst blättert Ihr, statt zu lesen. Die Märchen und Possen sucht Ihr auf, und das, um dessentwillen das Buch geschrieben ist, überschlagt Ihr. „Ja! Ihro Gnaden lesen nur, um amüsirt zu seyn; von Dero Pflichten sind Sie vollkommen informirt.“ – tant mieux! aber ich sehe doch noch keine Früchte davon. – Doch wir gerathen in Ärger und das schadet unsrer Gesundheit; also weiter in den Text!


Fragment einer Predigt über die Bewegungsgründe zur Tugend, welche aus eignem und fremdem Beyfalle hergenommen werden.

Die Tugend also blos um ihrer selbst willen zu lieben und auszuüben, ohne den geringsten Eigennutz, ja! mit schweren Aufopferungen, dazu gehört schon große Stärke der Seele. Aus bloßer Liebe zu Gott edel zu handeln, das setzt schon ein Herz voll Wärme für Religion voraus. Näher liegen dem sinnlichen Menschen die Bewegungsgründe, die aus dem Beyfalle der Menschen und den daraus zu erwartenden Folgen hergeleitet sind. So verstockt, so schamlos ist kein Bösewicht, so frech keine Verirrte, daß sie nicht wünschen sollten, entweder auf andre Menschen vortheilhafte Eindrücke zu machen, oder wenigstens sich selbst innerlich, wegen irgend einer vorzüglichen Eigenschaft, loben zu können. Sie erklären lieber die Tugend für ein Hirngespinst, als daß sie bekennen sollten, sie hätten nichts von dem, was sie an Andern schätzenswerth finden messen. Dürfen sie keinen Anspruch auf Zuneigung und Liebe machen, so überreden sie sich, andre Leute seyen eben so unfähig, wohlwollende Empfindungen zu hegen, als einzuflößen. Können sie sich nicht geachtet machen, so wollen sie wenigstens gefürchtet seyn. Und mislingt jeder Plan, irgend eine Art von Aufmerksamkeit und Theilnehmung zu erwecken, so mögten sie sich gern so sehr aber alle Menschen erhaben glauben, daß niemand als sie, Richter über ihre Handlungen seyn könnte. Dann schaffen sie sich Tugenden von eigner Erfindung; Ihre Schwächen selbst, ja ihre Laster, erheben sie zu diesem Range. Sie schmücken die Gegenstände, zu welchen ihre strafbaren Neigungen und Begierden sie hinziehen, mit den reizendsten Farben aus, um ihre Anhänglichkeit daran zu rechtfertigen, und suchen hingegen Vorzüge herabzuwürdigen, gegen welche sie ihre Augen verblendet haben. Wer aber so tief gefallen ist, daß fremder und eigner Beyfall ihm gar nichts mehr werth sind; der ist der schrecklichsten Verzweiflung nahe, für Den fleht vergebens sein guter Engel um Barmherzigkeit vom liebreichen Vater im Himmel.

Beyde aber, der innere Beyfall des Herzens und die Meinung andrer Menschen von unserm Werthe können die würksamsten Triebfedern zu Erlangung höherer Vollkommenheit werden; beyde können wohlthätig auf unsre Besserung würken, uns in jeder Art Tugend befestigen, zu jeder, auch noch so mühsamen Pflicht-Erfüllung ermuntern; Nur müssen Beyde zu gleichen Schritten gehn, keine dieser Rücksichten der andern aufgeopfert werden. Wer sich sclavisch abhängig von dem Urtheile des Volks macht, wird bald alle Eigenheit des Characters verliehren; „Stellet Euch nicht dieser Welt gleich,“ ruft uns die göttliche Stimme zu, das heißt: folget nicht ohne Auswahl jedem guten und bösen Beyspiele. Wer, wenig bekümmert um den Beyfall seines Gewissens, in allem die herrschenden Sitten nachahmt, wird, um sich dem lasterhaften Haufen gefällig zu machen, auch die herrschenden Sünden annehmen; Er wird ein Schmeichler verderbter Größen, ein unsichrer Freund seyn, und nie die süße Wonne schmecken, welche das innere Bewußtseyn gewährt, ohne Menschenfurcht, grade und redlich, nach Pflicht und Gewissen gehandelt zu haben – eine Wonne, ach! die allein ruhig machen und wahren Seelen-Frieden geben kann.

Eben so gefährlich aber ist es auch, ohne alle Rücksicht auf fremden Beyfall, keinen andern Richter, als sein eignes Ich, anzuerkennen. Das führt zu der gefährlichsten Sicherheit, zum Eigendünkel, zum Selbstbetruge. Da sehen wir dann uns selbst nur in dem Lichte, das die Leidenschaften auf unsre Handlungen werfen, und messen das Verdienst Andrer nach dem Maßstabe der Ähnlichkeit ab, die sie mit uns haben. Wir schaffen uns Grundsätze, die unsren Begierden schmeicheln, finden eine Entschuldigung für jede, auch von jedermann getadelte Handlung, wenn nur unser eingeschläfertes Gewissen ruhig dabey bleibt. Wir verachten alle Regeln des Anstandes und der Übereinkunft, die doch dem Menschen, welcher in der bürgerlichen Gesellschaft lebt, unverletzliche Pflichten auflegen. Wir opfern unserm Eigendünkel und unsrer Sinnlichkeit Ehrgefühl, Schaam, Dankbarkeit auf, und zerreißen alle Bande des Bluts und der Freundschaft. Der treue Rathgeber scheint uns ein beschwerlicher Schwätzer; der strenge Warner ein rauher, ungefälliger Mann. Wir fliehen ihn, verschließen ihm unser Herz und eilen in die Arme des Niederträchtigen, der unsre Leidenschaften schmeichelt. Jede Tugend scheint uns entbehrlich, wenn sie Aufopferung kostet, als wenn es eine Tugend ohne Aufopferung gäbe! Statt den Kampf gegen die Sinnlichkeit zu kämpfen, wo Ruhe und Seligkeit mit Herzens-Wunden erkauft werden messen, finden wir es bequemer, mit unserm Gewissen in Unterhandlungen zu treten; und der Vergleich ist bald geschlossen, wenn Kläger, Beklagter und Richter nur Eine Person sind.

O! wie manche gute Seele ist durch zu große Sicherheit gefallen. – Zu späte Reue, allgemeine Verachtung, Elend und Jammer sind dann –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Braunschweig