Fünftes Capitel

Was dem Herrn Amtmanne und seinem Sohne nach der Trennung von ihren Gefährten begegnet.


Der reisende Virtuose, den wir mit unsern beyden Freunden haben nach Braunschweig abfahren lassen, war, wie leider! die mehrsten Menschen, die sich dieser Lebensart widmen, ein Erz-Taugenichts, der von den Schwächen andrer Leute lebte. Wenn er in einer Stadt die müßigen Music-Liebhaber durch sein Talent und die manntollen Weiber durch seine seelenlose Figur bezaubert hatte, nistete er sich auf eine Zeitlang ein und blieb dort, bis irgend ein verübtes Bubenstück ihn nöthigte, bey Nacht und Nebel fortzugehn, da ihm dann gewöhnlich die Flüche betrogner Gläubiger, mit Undank gelohnter Wohlthäter und verführter Mädchen nachfolgten. Dann trat er zwölf Meilen von da unter anderm Namen auf, hieß in St.Petersburg Monsieur Dubois, in Berlin Signor Carino, in Hamburg Herr Zarowsky und in Wien Herr Leuthammer; erschien bald in gestickten Fracks, mit zwey Uhren, bald im zerrißnen Überrocke, als blinder Passagier auf dem Postwagen. Sein Herumtreiben unter Menschen aus allen Ständen hatte ihm eine gewisse Wendung, einen Anstrich von Feinheit und Welt gegeben, obgleich er im Grunde äußerst leer und unwissend war. In dem Augenblicke, da wir ihn hier haben auftreten lassen, war er ohne einen Heller Geld zu Fuße nach Peina gekommen, in der Zuversicht, die ihn, wie wir gesehn haben, auch nicht trog, daß er, bey der Menge von Fremden, die itzt nach Braunschweig ströhmten, leicht einen gutwilligen Mann finden würde, der ihn dahin mitnähme, wo er ein Concert zu geben, oder sonst einen Fang zu thun hoffte. Unsre Landleute aus Biesterberg waren grade die Menschen, deren er bedurfte. Daß er beym Abfahren dem Förster, den er für seinen Vetter ausgab, die Sorgfalt überließ, seine Zeche zu bezahlen, war nur ein kleines Probestück seiner Kunst, im Vorbeygehn; von seinen Reise-Gefährten aber hoffte er größere Vortheile zu ziehn.


Sobald nun die Kutsche das holprichte Steinpflaster in Peina verlassen hatte, fieng Herr Carino an, mit sanfter Stimme und bescheidnem, ehrerbiethigem Wesen, seine Gesellschafter zu unterhalten.

„Der junge Herr“, sprach er, „sind wohl noch nie in Braunschweig gewesen. Das Gewühle von Menschen wird jetzt ungeheuer groß darinn seyn. Man muß sich da im Gedränge gewaltig in Acht nehmen, daß man nicht bestohlen oder sonst gemißhandelt werde. Ich will wohl rathen, Uhr und Geldbeutel im Gasthofe zurückzulassen. Wir wollen uns dann immer nahe zusammenhalten, und wenn mein hochgeehrtester Herr Amtmann mir Dero Herrn Sohn anvertraun wollen, will ich schon auf’s Beste für den jungen Herrn sorgen.“

Dies Anerbiethen konnte nicht anders als äußerst dankbar angenommen werden; die übrige Frist bis zur Ankunft in Braunschweig verwendete Herr Carino, sich vollends in dem Zutraun des alten Herrn festzusetzen und ihm mit angenehmen Erzählungen die Zeit zu vertreiben.

Im goldnen Engel fanden unsre Reisenden einen solchen Zusammenfluß von Fremden aus allen Gegenden, daß sie nur mit genauer Noth noch ein kleines Zimmer unter dem Dach eingeräumt bekommen konnten, wo sie ihre wenigen Päckereyen absetzen ließen.

„Daß Dich der Tausend!“ rief plötzlich der Herr Amtmann Waumann, als ihm auf der Treppe ein dicker Herr in einem braunen Rocke mit gelben Knöpfen und einer rothen Weste mit Gold besetzt begegnete. „Alter Freund! wie treffen wir uns hier an?“ – Es war der Licentiat Bocksleder aus Schöppenstedt, sein Universitäts-Freund, den auch die Neugier hierher getrieben. – Und dann hatten sie sich tausend Dinge zu erzählen. „Und weißt Du denn, Herr Bruder Amtmann! daß meine Frau auch mit hier ist und ihr Vater, der Kaufmann Pfeffer? Du mußt mir gleich mit zu ihnen. Wir logiren nicht hier im Hause, sondern im Prinzen Eugen; ich suchte nur hier jemand auf. Wir haben noch über zwey Stunden Zeit, ehe der Ball aufsteigt. Mit dem Anfüllen geht auch sehr viel Zeit weg. Und Platz finden wir immer. Laß uns das Spectakel außer dem Thore jenseit des Grabens ansehn; in der Schanze ist das Gedränge zu groß, und warum sollte man noch Geld dafür ausgeben?“

Der Amtmann machte einige Einwendung in Rücksicht auf seinen Sohn, und, wenn er Den auch mitnehmen wollte, hauptsächlich wegen der andern beyden Gefährten, die noch von Peina nachkommen würden; allein Herr Carino erboth sich, dem jungen Herrn nicht von der Seite zu gehn, mit ihm und, sobald der Pastor und der Förster da seyn würden, auch mit Diesen nach der Contre-Escarpe zu folgen. „Dort, werthester Herr Amtmann!“, sagte er, „werden wir Sie schon finden; und wenn auch nicht; so treffen wir doch, sobald alles vorbey ist, gegen Abend hier wieder zusammen. Lassen Sie Sich ja nicht von Ihrer angenehmen Gesellschaft abhalten!“ Der Vorschlag wurde angenommen, und der Amtmann gieng mit seinem Freunde.

„Sie sind, meiner Six! ein netter Mann, Herr Carino!“ sprach Musjö Valentin, als er mit dem Virtuosen allein war. „Ich habe Ihnen recht lieb. Sie sprechen so artig, daß man gern zuhört. Ihr Gespräch ist gleichsam, wie das Wirthshaus-Bier; Man wird immer durstiger darnach, jemehr man davon genießt.“ „Und Ihr Witz“, erwiederte Herr Carino, „ist wie das März-Bier; Er ist auch noch in künftigem Sommer gut, ohne schaal zu werden.“–

Hier wurde ihre Unterhaltung durch die Ankunft eines Bothen aus Peina unterbrochen, den der Hausknecht hereinführte und der nach dem Herrn Amtmann Waumann fragte. Er brachte einen Brief an denselben, und da zu vermuthen war, daß der Inhalt vielleicht wichtig und von der Art seyn könnte, daß man eilig etwas darauf antworten oder thun müßte, Papa Waumann aber nicht herbeygeholt werden konnte, übrigens auch der Brief wohl keine Geheimnisse zu enthalten schien, indem er nur mit einer Oblate versiegelt war; rieth Herr Carino, denselben zu erbrechen, welches auch geschahe – Er lautete, wie folgt:

Werthgeschätzter Herr Amtmann!

Ein äußerst unerwarteter Vorfall, dessen Erzählung sich nicht wohl der Feder anvertraun läßt, nöthigt den Herrn Förster, seinen Reiseplan zu verändern und von hier sogleich nach Goslar zu fahren. Erwarten Ew.Wohlgebohren uns also nicht in Braunschweig! Ich gestehe, daß es mir ein wenig nahegeht, das merkwürdige Experiment des Monsieur Blanchard nicht mit ansehn zu können. Auch wegen der Edition meiner Predigten wäre ich gern in Braunschweig gewesen. Allein, was ist zu thun? Mündlich ein Mehreres! Wir hoffen, so Gott will, gegen Ende der Woche wieder in Biesterberg einzutreffen. Ich empfehle mich gehorsamst

Peina, im Posthause,
Sonntags Mittags,
in Eil.

Johann Gottlieb Schottenius

Musjö Valentin pflegte sich eben nicht den Kopf zu zerbrechen über die Grund-Ursachen, würkenden Ursachen und andern Ursachen der Dinge; also steckte er den Brief in die Tasche und begnügte sich, seinem Gefährten zu erzählen! der Förster habe eine Nichte in Goßlar, die Grete hieße und die sie ihm, dem jungen Herrn Waumann, gern zur Frau geben wollten, die er aber nicht leiden mögte, weil sie ihm zu städtisch und zu gelehrt wäre. Er fürchtete sich recht davor, sagte er, daß der Förster sie nun mitbringen, und daß man ihm dann gewaltig zusetzen würde, Hochzeit zu machen.

Indeß dies vorgieng, sahen sie nach und nach Schaaren von Menschen zu dem großen Schauspiele hinziehn, und selbst aus dem goldnen Engel lief alles fort, was Beine hatte.

„Nun ist es Zeit“, sprach Herr Carino, „daß wir uns auch zurüsten. Allein bey solchen Gelegenheiten thut man wohl, durch seine Kleidung ein wenig hervorzuleuchten, damit man vom Pöbel mit Achtung behandelt werde. Vermuthlich haben Sie noch einen bessern Rock im Coffer. Hurtig, den angezogen! Ich habe einen Kamm bey mir; da will ich Ihnen in Eil ein wenig die Haare zurecht kämmen.“

Valentin zog Rock und Weste aus, öffnete den Coffer, holte ein grünes Röckchen mit goldnen Knopflöchern hervor. – „Legen Sie dagegen Uhr und Geldbeutel hinein! Und wenn Sie nun noch einmal an einen gewissen Ort gehen wollen“, fuhr Herr Carino fort, „so machen Sie geschwind! Ich will indeß alles in den Coffer verschließen. – Es giebt böse Menschen; man muß vorsichtig seyn.“

Herr Valentin lief, im Hemde, wie er war, an den Ort, den man nicht gern nennt; Signor Carino schlich nach, verriegelte, als jener saß, die Thür von außen, kehrte in das Zimmer zurück, packte Geld, Uhr, und was er in der Eil aufraffen konnte, zusammen, flog die Treppe hinunter, verlohr sich in den Haufen und – wird sich wohl in diesem unserm Büchlein gar nicht wiederfinden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Braunschweig