Abschnitt 2

Eilftes Capitel


Ein alter Mann, dem Ansehn nach ein gewesener Officier, welcher bey seiner Flasche Wein in der Ecke saß, nahm nun das Wort: „Mein Herr!“ sagte er, „was mich betrifft, so muß ich gestehn, daß ich mich wundre, wenn ich höre, daß wir hie und da in Teutschland noch leidliche Schauspiele haben. Im Ganzen ist die Sache zwar überhaupt eben nicht der Mühe werth, daß man viel davon rede; aber wenn man doch einmal ernsthaft über diesen Gegenstand nachdenken will, so mögte ich wohl fragen, wie es unsre Theater-Dichter und Schauspieler anfangen sollten, ihren Geschmack zu veredeln, sich zu bilden, und wer ihnen die Anstrengung lohnen würde? Herrscht wohl auf zehn Meilen Weges in Teutschland einerley Geschmack und bleibt dieser Geschmack sich wohl zehn Jahre hindurch gleich? Weiß unter hundert Menschen Einer, was er eigentlich von einem guten Schauspiele fordern soll? – Nein! er weiß nur, daß er etwas Neues sehn will, so ein Hin- und Her-Reden und Würken durch einander, bey welchem zuweilen ein unerwarteter Zug ihn überraschen, oder ein lustiger Einfall ihm das Zwergfell erschüttern, oder eine einzelne rührende Situation ihn aus seinem Phlegma aufwecken soll. Um die Haltung des Ganzen bekümmert er sich wenig und wäre diese in einem Stücke meisterhaft und es fehlte dagegen an Verwirrung, an Buntschäckigkeit, oder das Stück wäre nicht neu mehr; so würde ich doch keinem Directeur, dem seine Casse am Herzen läge, rathen, dergleichen Stücke oft zu geben. Denn für den Genuß des Erhabnen in der Kunst, ein Genuß, der für einen ächten Kenner, je öfter er ein Meisterwerk sieht, um desto größer wird – dafür hat das Gros des Publicums nirgends in Teutschland mehr Sinn, sondern will nur immer neue Spielwerke sehn. Ich sage, es hat keinen Sinn mehr dafür; aber hat es ihn je gehabt? ja! wenigstens in einigen Gegenden von Teutschland, zu Lessings Zeiten, zur Zeit der großen hamburgischen Entreprise. – Auch findet man noch in Hamburg kleine Haufen von Männern, neben denen unser Einer so gern im Parterre steht, wenn der edle, unnachahmliche, als Mensch und Künstler, als Freund und Gesellschafter gleich verehrungswürdige Schröder, unfähig dem falschen, frivolen Geschmacke zu schmeicheln, die alten ein- und ausländischen Meisterwerke hervorholt, gegen welche unsre neuern Kotzebuiana u.s.w. so erbärmlich abstechen.–“


Klingelzieher: „Wie? des Herrn von Kotzebue Stücke lassen Sie nicht gelten?“

Officier: „Davon nachher; Lassen Sie mich jetzt nur mein Bild im Allgemeinen ausmalen! Lesen Sie die Verzeichnisse der Stücke, die in den größten Städten Teutschlands in den letzten Jahren sind aufgeführt worden, und Sie werden darüber erstaunen, wie weit man noch in manchen Gegenden unsers Vaterlandes zurück ist und wie weit man in andern schon wieder hinabsinkt! – Die mehrsten Directionen müssen sich doch leider! nach den Forderungen ihres Publikums richten; und wo das nicht der Fall ist, wo der Hof die Stimme führt – ja! da sieht es denn freylich noch kläglicher aus. Ich machte im vorigen Winter eine kleine Reise. In einer nicht unbeträchtlichen Stadt, wo damals ein Theater war, wurde das elende Stück: Die Engländer in America zweymal begehrt, da hingegen Die Erbschleicher gar nicht gefielen und Göthens Geschwister – das herzige Stück, so voll Größe und Einfalt! – langweilig gefunden wurde. In einer benachbarten Residenz waren drey Vorstellungen der elenden Farce: Der Teufel ist los gestopft voll; die herrliche Oper Cora fand gar keinen Beyfall. Der Schauspieler, welcher hier ausgepfiffen wird, gilt dort für einen großen Künstler und die Sprache, welche man an der Donau für ächtes, saubres Teutsch verkauft, hält man an der Elbe für unverständliche Beschwörungs-Formeln böser Geister.

Was müssen die Folgen von diesem allen in Rücksicht auf Dichter und Künstler seyn? Sie sind leicht an den Fingern abzuzählen; ich will nur beym Dichter stehn bleiben. Wer etwas besseres in der Welt treiben kann, der widmet seine Talente keiner so undankbaren Arbeit. An fleißiger Ausfeilung theatralischer Producte ist gar nicht zu denken; Wer will sich die Mühe geben, wenn er weiß, daß nach einigen Jahren seine Waare aus der Mode gekommen seyn wird? Alles kömmt nur darauf an, während dieser ephemerischen Existenz, so viel Aufsehn als möglich zu erregen, und das wird am sichersten bewürkt, je abentheuerlicher die Compositionen sind, die man an den Tag fördert. Da flickt man denn Charactere zusammen, von ungeheurer Schöpfung, Situationen, bey deren Anblicke man nicht weiß, ob man lachen, heulen, mit den Zähnen klappern, vomiren oder purgiren soll und Verwicklungen, die nur das Messer einer verzweifelnden Phantasie lösen kann. Das alles wird auf einander gehäuft, durch einander gepoltert – und das bewundern wir; den Fieber-Kranken, der so etwas in die Welt faselt, lobpreisen, posaunen wir aus; der eitle Thor glaubt sich an der Spitze der Unsterblichen aller Zeitalter und rast immer ärger darauf los, vernachlässigt die würklichen Talente, die in ihm wohnen und die eine weise Critic ausgebildet haben würde. Nach einer kurzen Reyhe von Jahren hat das Publicum diesen Rausch ausgeschlafen, kann nicht begreifen, wie es so blind hat seyn können, und rächt seine eigne Thorheit an dem armen Schriftsteller, den es, ungerecht gegen seine guten Anlagen, jetzt um so heftiger schmäht und Seiner spottet, je mehr es ihn vorhin erhoben hatte.“

Klingelzieher: „Nun! und unter diese unbedeutende Mode-Schriftsteller zählen Sie auch den Herrn von Kotzebue?“

Officier: „Ihn mehr, als irgend einen Andern. Einzelne Scenen in den theatralischen Producten dieses Schnellschreibers verrathen seltene Anlagen; aber in keinem seiner Stücke findet man Ordnung, Plan, Einheit, Würde und Consequenz – des sittlichen Zwecks nicht einmal zu erwähnen. 1) Zum Beweise, daß ich das nicht so in den Wind hinein rede, will ich, wenn Sie’s erlauben, von den Schauspielen des Herrn von Kotzebue eines zergliedern, und zwar eines, das vielleicht von allen am mehrsten allgemeinen Beyfall gefunden hat, wovon sogar Ein Rezensent und Dramaturg dem andern das Lob nachgeleyert hat, ich meine Die Indianer in England.

Klingelzieher: „Wahrlich! ein schönes Stück!“

Officier: „Wir wollen sehn. Ich hoffe, Sie werden kein Urtheil fällen, ohne Gründe erwogen zu haben.

Zuerst lassen Sie uns doch von dem Zwecke reden, den der Verfasser vor Augen hatte, als er dies Stück zu schreiben begann! Können Sie Sich einen solchen einfachen Hauptzweck denken? Ich kann es nicht. Und doch darf man von jedem Kunstwerke mit Recht verlangen, daß es ein bestimmtes Ganze ausmache. Das fühlen selbst schlechte Kupferstecher, und um ihre steifen Compositionen von Dörfern und Flüssen und Menschen und Ziegen und Hündlein nicht mit dem leeren Titel Landschaften abfertigen zu lassen, setzen sie irgend etwas darunter, was Inhalt hineinbringen soll, zum Beyspiel: La tranquillité villageoise, oder: Le dimanche à la campagne u.s.f. Daß bey einem Schauspiele eine einfache Handlung zum Grunde liegen müsse, daran hat noch niemand gezweifelt, der die Sache versteht; und ich darf hinzusetzen: nicht selten ist ein Schauspiel um desto vorzüglicher, je einfacher, mit wenig Worten sich dieser Hauptzweck, auf welchen die ganze Handlung und alles Würken der handelnden Personen hinausgeht, ausdrücken läßt. Auf welchen Punct aber concentrirt sich in den Indianern in England das ganze ungetheilte Interesse? Wer ist die Haupt-Person? Welcher moralische Satz, welche Lehre, welche Wahrheit, welche Warnung soll hier anschaulich gemacht werden? kurz! welchen Haupt-Eindruck soll der Zuschauer mit nach Hause nehmen, wenn der Vorhang gefallen ist?




1) Hier ist ein Anachronismus; ich weiß es wohl. Damals, im Jahre 1788, waren die wenigsten von den Schauspielen des Herrn von Kotzebue, die nachher einiges Aufsehn gemacht haben, schon erschienen. Ich denke aber, die Leser werden es mir verzeyhn, wenn ich, um im Allgemeinen meine Meinung über diesen Gegenstand zu sagen, Beyspiele anführe, die noch in frischem Andenken sind.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Reise nach Braunschweig