Das Über-Ich - Sigmund Freud - Psychologie

Die Regression und Projektion im Über-Ich

Nach einem Vortrag, gehalten in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung am 11. Dezember 1930
Autor: Weiß, Ernst (1882-1940) österreichischer Schriftsteller und Arzt, Erscheinungsjahr: 1930
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ernst Weiß, Sigmund Freud, Zwangsneurose, Über-Ich, Zwangsimpuls, Schuldgefühl, Neurotiker, Psychoanalytiker, Psychoanalyse, symbolische Sexualbedeutung, Sehnsucht, Befriedigung, Persönlichkeit, Traum, Wunschregung, das Auge Gottes, Kulturvorschriften, Allmacht der Gedanken,
Das Über-Ich aus der Theorie der Psychoanalyse Sigmund Freuds

Schon lange vor der strukturellen Erfassung des Über-Ichs war seine Erkenntnis sozusagen in ihren Konturen vorbereitet. Die allmähliche weitere Erschließung des zu Beginn der psychoanalytischen Forschung aufgedeckten Ödipuskomplexes, dessen Tragweite gar nicht sofort abzuschätzen war, hat Freud folgerichtig zur Entdeckung dieser psychischen Instanz geführt. Nachdem klinische Erfahrung ihre Existenz und Natur festgestellt hatte, konnte sie den Anschauungen Freuds über die ursprüngliche Epoche der Vaterhorde, die verhängnisvolle Vatertötung, die Organisation des Brüderclans und dann über die totemistische Kultur usw. eingefügt werden. Seine diesbezüglichen Erkenntnisse wurden zu einer Entwicklungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft, die in der Bildung des Über-Ichs gipfelt. Zu seinem Verständnis hat ferner der Ansatz Freuds zu biologischer Theorie, nämlich die Trieblehre, beigetragen. Freud ist der Ansicht, die von seinen Schülern, besonders von Reik und Alexander, vielfach fruchtbar gemacht wurde, daß das Ober-Ich in seinen Straf (Autoaggressions-) Tendenzen mit jener Triebenergie sich auswirkt, die der Außenwelt gegolten hatte; da sie aber in ihrer Wirksamkeit nach außen gehemmt wurde, mußte sie sich wieder gegen das Selbst wenden:* Es gesellte sich also zur Freudschen

*) Wir fügen ergänzend hinzu, daß der Todestrieb ursprünglich medialer Natur ist; mit dem Anteil, womit er sich nach außen wendet, wird er aktiv und kann dann reflexiv werden. Der Unterschied zwischen unbewusster Selbstaggressionstendenz, die vom Ober-Ich ausgeht, und bewusster Suizidneigung ist ein topischer. Beide aber sind reflexiv. Ich wende hier den von Federn zur Bezeichnung des primären Narzissmus eingeführten Ausdruck „medial“ auch auf den Todestrieb an.

Vorstellung von der Bildung des Über-Ichs, wonach es durch die Identifizierung des Ichs mit dem Vater (der persönlichen Vorzeit, Autorität) entsteht, der Zusatz, daß der so entstandene Ich-Anteil dann mit aus dem Es stammender Energie des Destruktionstriebes wirkt. Die Überstrenge des Über-Ichs ist so hartnäckig und so schwer zu beeinflussen, weil sie eben vom biologisch primären Todestrieb genährt wird. Auch über die narzisstische Liebe des Ichs zu sich selbst müssen wir aussagen, daß sie ihre Energie aus den Triebquellen des Es schöpft, aus seinem Eros, so wie die Selbstzerstörung aus seinem Todestrieb. Während also die Bedingungen, unter welchen sich Selbsthass und Selbstliebe einstellen, vom Benehmen des Vaters (der Autorität) abhängen, rührt die Triebstärke von den eigenen Triebquellen her; es könnte auch nicht anders sein.

Die Existenz des Über-Ichs wurde aus seinen „Wirkungen erschlossen: Aus den Triebhemmungen, aus dem Selbstverrat, aus dem Strafbedürfnis usw. In den Psychosen gibt sie sich mitunter in deutlicherer Weise kund: So vor allem in den Selbstanklagen der Melancholiker, im Beziehungswahne und bei manchen Gehörshalluzinationen, die dem Kranken alles, was er ausführt und ausführen will, laut vorsagen. Diese Gehörshalluzinationen entsprechen, wie uns Freud gelehrt hat, der sogenannten „Stimme des Gewissens“: die ursprünglich äußere, dann verinnerlichte Selbstkontrolle wurde wiederum in die Außenwelt projiziert. Ich gebrauche hier noch den Ausdruck „Projektion“, obwohl er den tatsächlichen Sachverhalt nicht verständlich macht. Es handelt sich bei solchen Gehörshalluzinationen um ein Bewusstwerden des Über-Ichs in einer Psyche, die ihre Beziehung zur Realität zum Teil oder ganz abgebrochen hat.

Die wichtigste Aussage Freuds über die Entstehung des Über-Ichs besagt, daß es aus einer Identifizierung hervorgehe. Das Über-Ich wäre also ein Introjekt. Nun werfe ich die Frage auf: Ist das Über-Ich tatsächlich nur ein Introjekt, d. h. eine nur durch Identifizierung entstandene Bildung? Bevor ich zu einer solchen Untersuchung kasuistisches Material heranziehe, ist es unerlässlich, daß ich in wenigen Worten zusammenfasse, was wir von der Identifizierung im allgemeinen aussagen können.

Wir wissen aus zahlreichen Schriften Freuds, daß die früheste Äußerung der kindlichen Gefühlsbindung an eine andere Person die Identifizierung ist. Wenn das Kind einen Menschen liebt, so möchte es auch so sein wie dieser andere Mensch. Man kann dieses Streben als eine Mischbildung von Narzissmus und Objektliebe auffassen. An erster Stelle liebt das Kind sich selbst; wenn jemand anderer seine Libido an sich zieht, so muss das Kind, um die abgegebene Libido doch für sich zu retten, dieser andere werden. Dieser andere, der vom Kinde geliebt wird, und dem es gleich werden will, ist sein Ich-Ideal. Diese Identifizierungstendenz lässt die Kinder die Sprache, das Benehmen usw. erlernen.

Diese Form der Objektbeziehung, wobei die Objektliebe auf dem Wege des sekundären Narzissmus wieder zurückgewonnen wird, bleibt neben anderen Formen der Liebesbeziehung auch späterhin bestehen. Diese Rückgewinnung kann später nur durch die Besitzergreifung, durch die Einverleibung des Liebesobjektes erfolgen; d. h. die Objekte selbst müssen mit in Kauf genommen werden bei der Zurückgewinnung der ihnen zugewendeten Libido. So möchte ich den Sachverhalt darlegen. Um sich mit der Objektlibido zu vereinigen, muss sich das Individuum mit dem Objekte selbst vereinigen, während die ursprüngliche Identifizierung keine reale Bemächtigung, sondern bloß eine psychische Introjektion des Objektes ist.

Das Kind, das sich mit seinem Vater identifiziert, versucht also, ihm gleich zu werden — er ist sein Vorbild. Die Identifizierung mit ihm kann aber auch Gehorsam, Gefügigkeit bedeuten, denn in vielen Stücken führt der Vater durch sein Benehmen dem Kinde vor, wie er es haben möchte. Aber „wie der Vater das Kind haben möchte“ ist nicht dasselbe wie „wie das Kind selbst sein möchte“. Der Vater ist doch auch mächtig und unabhängig, das Kind will, seinen narzisstischen Strebungen folgend, ebenso werden. Der Vater nimmt bei der Mutter eine Sonderstellung ein, auch das will das Kind in gleicher Art. Wir sehen also, daß die Identifizierung des Ichs mit dem Vater auf zweierlei Momenten beruht: Die Identifizierung mit dem Vater bedeutet — in gewissen Rücksichten — Gehorsam und die Tendenz, seinen Liebesbedingungen zu entsprechen, um von ihm geliebt zu werden; dazu darf man sich aber nicht in allen Stücken mit ihm identifizieren. Zweitens bedeutet die Identifizierung mit ihm das Bestreben, selbst Vater sein zu wollen, also ihn zu ersetzen, an seine Stelle zu treten, ihn zu beseitigen. Im Unbewussten wird Ersetzen und Beseitigen einander gleichgesetzt. In diesem zweiten Sinne ist also die Identifizierung des Ichs mit dem Vater ein Äquivalent seiner Tötung. So ist gerade in der Identifizierung mit dem Vater das Urverbrechen enthalten. Die Identifizierung dient also ambivalenten Strebungen. Es erhebt sich die Frage, ob denn derselbe Vorgang, der eine Wiederholung des Urverbrechens bedeutet, auch gleichzeitig das Über-Ich entstehen lassen kann, bzw. ob dieser Vorgang allein es entstehen lässt. Dass eine enge Beziehung zwischen Über-Ich-Bildung und Urverbrechen bestehen muss, leuchtet uns allerdings ein. Wir werden hier aber noch eine andere Frage stellen, und zwar: Erklärt sich die Macht des Über-Ichs nur aus der introvertierten Aggression?

Eine große Menge von Erfahrungen haben mich veranlasst, mich mit dem Problem des Über-Ichs genauer zu befassen, und ich glaube auf neue Tatsachen gestoßen zu sein, welche ich im folgenden darlege. Zu diesem Zwecke werde ich so vorgehen, als ob ich diese Instanz neu entdecken müsste. Als Ausgangspunkt nehme ich die Analyse bewusster, konkreter Schuldgefühle bestimmten Menschen gegenüber.

Ein Patient hat es mit seinen moralischen Anschauungen, die, wie er sich selbst ausdrückte, aus dem „logischen Denken“ stammen, vereinbaren können, in einem ganz besonderen Falle einen Diebstahl zu verüben. Dabei war er sonst alles andere als hemmungslos. Während er also seine vorbedachte Tat im Detail ausführte, erschien ihm mit fast halluzinatorischer Deutlichkeit in seiner Vorstellung das Bild seines ihn beobachtenden Vaters, obgleich ihm sein Urteil sagte, daß dieser nie Kenntnis von seiner Handlung erhalten werde; sie ist auch tatsächlich immer geheim geblieben. Nach der Ausführung der Tat erschien ihm die Welt eine Zeit lang verändert, d. h. unwirklich: Die Häuser, die Leute, die Fuhrwerke, alles schien ihm merkwürdig, die Stimmen und die Geräusche hatten einen ganz anderen Klang. Etwas in ihm weigerte sich, die Wahrnehmungswelt als wirklich bestehend zu sanktionieren, denn der verübte Diebstahl war nunmehr ein wirkliches Faktum, das von einer in ihrem Wesen von uns zu untersuchenden inneren Spannung gefolgt war, welche der Patient nicht ertrug; deshalb mußte die begangene Handlung verleugnet werden. Wäre die Wahrnehmungswelt nicht Wirklichkeit, sondern bloß ein Traum, dann wäre auch der Diebstahl nicht wirklich verübt.** Als später der Patient mit seinem Vater zusammentraf, verspürte er jenes innere Unbehagen, das „Schuldgefühl“ heißt. Sein nichtsahnender Vater war ihm gegenüber so liebevoll wie vorher; der Patient wusste, daß er ihm nicht im entferntesten den begangenen Diebstahl zutraute. Er fühlte es äußerst schmerzlich, daß ihm die Liebe und Achtung, die ihm sein Vater entgegenbrachte, nicht „gebührte“. Ja, er betrachtete dieses Gefühl als irrationell, da dieser spezielle Fall von Diebstahl, den er unter ganz bestimmten Umständen begangen hatte, für ihn keine schlechte, verwerfliche Handlung darstellte. Sein Vater hätte sie ihm aber sehr übel genommen und ihn deswegen verachtet. Nur weil er nichts davon wußte, entzog er ihm nicht die Achtung; und das vertrug der Patient nicht. Eine Lösung seines seelischen Unbehagens wäre nur dadurch erzielt worden, daß sein Vater vom Diebstahl erfahren hätte. Er hätte dann allerdings diese „unter besonderen Umständen“ begangene Handlung verstehen müssen, d. h. nicht missbilligen dürfen; wenn sich eine anfängliche Verurteilung nicht hätte vermeiden lassen, so hätte ihr doch die Versöhnung wenigstens nachfolgen müssen. Die Liebe und Achtung, die der Patient von Seiten seines Vaters genoss, müsste auf Wahrheit und Offenheit beruhen, d. h. verdient sein.***

Bevor wir uns in eine tiefere Betrachtung dieses Falles einlassen, wollen wir oberflächlicheren Erklärungsversuchen dieses Schuldgefühles Rechnung tragen. Wir werden das Bedürfnis berücksichtigen, die Angst vor dem Entdecktwerden zu verlieren. Wenn jemand einem anderen etwas gibt in der irrigen Meinung, daß es ihm gebühre, so ist das psychologisch Ursprüngliche, daß der Empfänger das Dargebotene trotzdem annimmt. Es entsteht aber da die Möglichkeit, daß derjenige, der irrtümlicherweise gegeben hat, seinen Irrtum bemerkt und dann dem Empfänger das ungebührlich Gegebene entzieht und von ihm sogar eine Entschädigung verlangt. Aus dieser Möglichkeit ergibt sich eine innere Unruhe bei demjenigen, der ihm nicht Gebührendes annimmt; muss er doch daran denken, daß der andere den Irrtum entdecken könnte. Dasselbe gilt für das Begehen strafbarer Handlungen im allgemeinen. Wer sie begeht, kann entdeckt werden; die Einsicht in diese Möglichkeit schafft Besorgnis. In „Das Unbehagen in der Kultur“ sagt Freud auf Seite 102 bis 103: „Darum gestatten sie sich regelmäßig, das Böse, das ihnen Annehmlichkeiten verspricht, auszuführen, wenn sie nur sicher sind, daß die Autorität nichts davon erfährt oder ihnen nichts anhaben kann, und ihre Angst gilt allein der Entdeckung. Mit diesem Zustand hat die Gesellschaft unserer Tage zu rechnen.“

**) Darin erkennen wir den Mechanismus der Amentia, die dadurch entsteht, daß das Individuum eine zu unangenehme Wirklichkeit nicht ertragen kann und folglich die Beziehung zur Realität abbricht. Das hier erwähnte Entfremdungsgefühl könnte als ein ganz abgeschwächtes abortives amentiales Symptom aufgefasst werden. Die Psychologie dieses Symptoms besagt aber nicht, nach welchem Mechanismus das Entfremdungsgefühl zustande kommt. Vom metapsychologischen Gesichtspunkte kann in solchen, d. h. psychodynamisch und nicht libidoökonomisch (Erschöpfung der Libidoreserven) bedingten Fällen von Entfremdungsgefühlen der von Federn beschriebene Vorgang der Entblößung einer bestimmten Partie der Ichgrenze von Libido ausschlaggebend sein. Ferner können wir hinzufügen, daß die Abwehr der Realität in der Amentia durch Änderung der Außenweltrepräsentanz geschieht, durch Einziehung der Objektlibido von der Außenwelt, Ersatz durch Wunschphantasien — bei der Entfremdung durch Zurückziehung der Libido von den Ichgrenzen. Die Amentia geht also weiter als das Entfremdungsgefühl.

***) Es sei hier bemerkt, daß sich viele Menschen an solche Situationen des Schuldgefühls gewöhnen, sozusagen eine „dicke Haut“ bekommen und immer leichteren Herzens und ungehemmter Handlungen begehen, die von der Gesellschaft verurteilt werden, namentlich wenn sie nie entdeckt werden. Andere hingegen werden von der ersten Tat seelisch so mitgenommen, dass sie den Gedanken an einer Wiederholung der Tat für immer aufgeben. Durch das erstere Vorgehen aber wird worauf ich später kommen werde sehr oft eine Zwangsneurose eingeleitet, indem eine schlummernde, simultane Ambivalenz in eine alternierende verwandelt oder gar eine Triebentmischung hervorgerufen wird.


Bekanntlich kann aber noch ein anderes Moment in Betracht kommen. Wenn wir sagen, daß unser Patient nunmehr sicher war, daß sein Vater vom Diebstahl nie etwas erfahren werde, so können wir uns allerdings auf diese seine Sicherheit nicht ganz verlassen. „Wie können wir das Vorhandensein einer solchen Befürchtung im Unbewussten völlig ausschließen? Vielleicht fürchtete er mit seiner lebhaften Vorstellung des Vaters während der Ausführung des Diebstahls doch bloß, jener könnte etwas davon erfahren. Dann wäre auch verständlich, daß der Patient, um seiner Spannung zu entgehen, die Tat dem Vater zur Kenntnis zu bringen wünschte; das Wissen des Vaters würde eine klare Situation schaffen und ihn der spannenden Befürchtung entheben. Dabei wäre natürlich eine Versöhnung mit dem Vater die erwünschteste Lösung. Dieser scheinbar rationelle Gedankengang vernachlässigt aber die Tatsachen. Wir sehen in sehr vielen Fällen, daß „Schuldgefühl“ nicht immer der wirklichen Gefahr, entdeckt zu werden, entspricht, daß mitunter Schuldgefühl vorhanden ist, auch wenn eine solche Gefahr nicht besteht, wie z. B. wenn jemand einem Verstorbenen gegenüber Schuldgefühle empfindet. Die Sache ist also nicht so einfach.

Es steht fest, daß die Befürchtung, entdeckt zu werden, eine große Rolle spielt, außerdem aber stießen wir auf die Wirkung eines inneren seelischen Faktors, der mit der Angst, entdeckt zu werden, in keinem rationellen Zusammenhange steht. Da sich das Ich über diesen zweiten Faktor keine Rechenschaft geben kann und nur seine Wirkung spürt, vermag es ihn mitunter nicht von der Angst vor Entdeckung zu unterscheiden. Das ist aber nur eine Art Rationalisierung; in dem zu untersuchenden Seelenzustand überschätzt man die Möglichkeiten der Entdeckung; es kann zu einem der Phobie ähnlichen Mechanismus kommen.

In dem geschilderten Falle war die lebhafte Vorstellung des beobachtenden (und, können wir wohl hinzufügen, tadelnden) Vaters das Wesentliche an der beschriebenen psychischen Situation. Sein Vater war psychisch zugegen. Daraus allein geht noch keineswegs hervor, daß diese psychische Präsenz des Vaters auf einer Identifizierung des Sohnes mit ihm beruhte. Trotzdem kann auch vor dem lebhaft vorgestellten (oder halluzinierten) Vater das eigene Innenleben nicht verborgen bleiben; auch auf diese Weise kann das Gefühl entstehen, vom „Auge Gottes“ gesehen zu werden. Die Psychoanalyse lehrt uns, wie besonders Alexander hervorhebt, daß die Allwissenheit jenes Vaters, den wir geistig in uns haben, so weit reicht, daß er auch die Sprache des Unbewussten, die Symbolik, versteht; er bewirkt bekanntlich mitunter — ich möchte sagen, „reflektorisch“ — die Hemmung von Funktionen, die symbolisch Sexualbedeutung haben, wie z. B. beim Schreibkrampfe, bei Abasie, bei Astasie usw., während das Ich diesen Hemmungen verständnislos gegenübersteht.

Wir wenden uns nun einem zweiten Falle zu, in welchem wir tiefer in die Psychologie des Gewissens eindringen können.

Ein Patient berichtet, in seiner frühen Pubertät sich auf folgende Art sexuelle Befriedigung verschafft zu haben: Im Anschlüsse an die Erfahrung, einmal im Traume gewusst zu haben, daß er träumte, dachte er, es wäre doch einfach und ungefährlich, die im Traume vorkommenden weiblichen Personen sexuell zu aggredieren. Mit diesem Vorsatze schlief er oft ein, und mitunter kam er dazu, sich dann „in der Traumwelt“ zu finden, wohl wissend, daß er träume. Wir werden aber sehen, daß ihm dieses Wissen nicht in jeder Beziehung half; es war nämlich bloß ein partielles Wissen. In seiner „Traumwelt“ ging er nun auf die Suche nach Frauen und Mädchen, er wanderte suchend durch Zimmerfluchten und Straßen. Es stand aber nicht in seiner Macht, zu finden, was er wollte. Ja, wenn er auch einer Frauensperson begegnete, so setzte sich diese zur Wehr, sobald sie die Absicht des Träumers merkte. So war er nicht einmal im Traume vollkommen Herr der Situation, gegen seinen Willen setzte sich sein Gewissen auch hier durch, und nur mit List konnte er manchmal seinem Ziele nahe kommen, ohne es aber vollkommen zu erreichen, bevor er mit einer Pollution aufwachte. Dazu sei bemerkt, daß er als Kind oft an seinen Kindermädchen seine sexuelle Neugierde befriedigen wollte; diese wehrten sich aber immer dagegen. Die Schwierigkeiten, die er im Traume begegnete, hatten wahrscheinlich mit der verdrängten Angst vor dem weiblichen Genitale zu tun. Das hat aber in unserem Zusammenhange wenig Bedeutung. Was uns hingegen weit mehr interessiert, ist, daß er in seinem Vorhaben im Traume oft auch auf andere Weise, nämlich durch das Erscheinen seiner Mutter gestört wurde, welche, entgegen seinem Willen, im Traume oft auftauchte und ihn vorwurfsvoll ansah, geradeso, wie sie ihn in seiner Kindheit vorwurfsvoll angeblickt hatte, wenn sie feststellen mußte, daß er das Bett genässt hatte. Wir sehen hier ein Beispiel dafür, daß das Schuldgefühl wegen der Pubertätsonanie das wegen der infantilen fortsetzt. Obgleich also der Träumer wusste, daß er träume, nahm er die halluzinierte Mutter ernst und mußte in ihrer Gegenwart von seinen sexuellen Aggressionen ablassen. Erst im wachen Zustande konnte er sich besinnen, daß auch die Mutter bloß geträumt war. Wir werden keine Mühe haben, in der hemmenden, gefürchteten Mutterfigur (von anderen Überdeterminanten wollen wir hier absehen) etwas ganz Analoges zu erblicken wie in dem lebhaft vorgestellten Vater unseres ersten Patienten. Wir werden auch erkennen, daß die halluzinierte, auch noch im wachen Zustande lebhaft vorgestellte Mutter eine große Macht besaß und sich gebieterisch durchsetzte, als ob sie nicht bloß imaginär wäre, sondern eine wirkliche Existenz hätte. Der Träumer, der wusste, daß er träumte, benahm sich, als ob ein Stück Wirklichkeit, die wirkliche Mutter, in seinen Traum eingebrochen wäre.

Wir denken da an die Phase der „Allmacht der Gedanken“, in der die Gedanken in magischer Weise Neues schaffen.* Der schaffende Gedanke drängt sich aber dem Ich gegen seinen Willen auf. Die Vorstellung der verbietenden Person bleibt oft auch ganz unbewusst und wirkt trotzdem. Die innere Spannung, die von der mächtigen, unbewussten Vorstellung der Autoritätsperson ausgeht, veranlasst das wache, urteilende Ich zu einer Einstellung, die wir etwa mit folgendem Konditionalsatze wiedergeben können: „Wenn er das wüsste, dann würde dies oder jenes geschehen . . .“ Dabei benimmt sich das Ich so, als ob „er“ es schon wüsste oder bald erfahren müsste, mag dies auch in Wirklichkeit unmöglich sein. Es gibt Leute, die nur aus sogenannter „Pietät“ gegenüber Verstorbenen (namentlich gegenüber ihren Eltern) etwas tun, sich z. B. an religiöse Kultvorschriften halten. Die Redensart „Wenn er das wüsste, würde er sich im Grabe umdrehen“, ist ja sehr geläufig. Das Real-Ich weiß, daß dies nicht geschehen kann; was es aber nicht weiß, ist, daß die im Unbewussten durch die Vorstellung geschaffene Imago alles weiß, und daß es sie beständig bei sich trägt wie ein tatsächlich existierendes Wesen, das grollen oder trösten kann.

*) Streng genommen dürfte man von einer „magischen Hervorbringung“ nur sprechen, wenn eine reale und nicht bloß psychische Wirkung erfolgt. Ich halte aber hier trotzdem an dem Ausdruck „magisch“ fest, um die Tatsache hervorzuheben, daß der Mensch sich einer psychischen Präsenz gegenüber so benimmt, als ob es sich um eine reale Präsenz handelte. So hat das magisch Hervorgebrachte beinahe realen Wert.

Die psychische Gegenwart eines Menschen, gegen dessen Willen man gehandelt hat, kann sich auch auf akustischem Wege kundtun. Ein Patient berichtete mir, daß er, als er einmal als ganz junger Mann von seinen Kameraden in ein verrufenes Lokal geführt wurde, die weinende Stimme seiner Mutter zu hören glaubte. Von der Erkenntnis der geistigen Gegenwart das Ich kontrollierender Imagines habe ich oft in meinen Behandlungen Gebrauch gemacht. So zeigte einmal eine Patientin einen heftigen Widerstand, etwas zu sagen. Nachdem es mir gelungen war, sie zum Sprechen zu bringen, deutete ich ihren Widerstand, indem ich ihr sagte, wir wären nicht allein im Zimmer gewesen, als sie mir die Mitteilung machte. Als sie erschrocken fragte: „Wer war denn da?“ antwortete ich: „Ihr Mann, Ihre Brüder und Ihre Eltern“ (ihr Vater war schon seit vielen Jahren gestorben). Sie verstand mich sofort. Die Familienangehörigen waren zwar nur in ihrer Vorstellung zugegen gewesen, hatten aber dennoch ihre Hemmungen veranlasst.

Einer anderen unverheirateten Patientin, die bei heimlichen Zusammenkünften mit einem jungen Manne sehr gehemmt gewesen war, wollte ich in ähnlicher Weise begreiflich machen, woher ihre Hemmungen kamen, und sagte ihr, sie wären gesehen worden. „Ja, vom Auge Gottes“, antwortete sie prompt. Das Auge Gottes ist ein Sinnbild jener Menschen, die wir geistig in uns tragen.

Wir möchten nun wissen, warum man die Vorstellungen (Imagines) jener Menschen, gegen deren Wünsche und Erwartungen man handelt, entgegen seinem bewussten Willen herbeiruft und belebt. Die Antwort auf diese Frage lautet: Das Es wünscht die Existenz der betreffenden Menschen, mag das Ich um solchen Wunsch wissen oder nicht. Das Es liebt diese Menschen. Es handelt sich bei ihrem bewussten oder unbewussten Auftreten um das Wirksamwerden einer heftigen, unbewussten Wunschregung, die wie im Traume halluzinatorisch befriedigt wird. Diese Antwort drängt aber zu einer zweiten Frage: Warum sehnt sich das Es nach der (bewusst oder unbewusst) geliebten Persönlichkeit, gerade wenn wir gegen ihre Forderungen und Erwartungen handeln? Darauf ist zu antworten: Man wünscht sich nur, was man entbehrt. Unser Handeln gegen die Ansprüche dieser Person war offenbar für das Es ein Äquivalent ihrer Beseitigung. Durch solches Benehmen negiert man sie, man setzt sich über sie hinweg. Für das Es ist es so, als ob diese Person dadurch zu existieren aufgehört hätte, und weil die geliebte Person dadurch nicht mehr da ist, bekommt man Sehnsucht nach ihr. Ihre Vorstellung will die vorangegangene Tötung wieder ungeschehen machen. Wir dürfen aber hier auch das ökonomische Moment nicht außer Acht lassen: Wenn die Sehnsucht nach einem Objekte von einer entgegengesetzten Regung niedergehalten wurde, so kommt dieser Wunsch wiederum zur Geltung, wenn die konträre Regung durch eine teilweise oder vollständige Befriedigung an Intensität abgenommen hat.

Ich konnte an Neurotikern immer wieder feststellen, daß eine solche Gewissensbisse erzeugende Vorstellung eines Menschen um so eher auftaucht, je mehr Libido das Es diesem Menschen gerade zuwendet und je mehr die seinen Geboten zuwiderlaufende Handlung einer Beseitigung (Tötung) dieses Menschen gleichkommt. Vielleicht würde an Verbrechern gewonnenes psychoanalytisches Material hier noch deutlicher sprechen; ich kann aber nur vorbringen, was ich habe.

Eine Frau, die ein Verhältnis unterhielt, empfand nur dann ihrem Manne gegenüber Schuldgefühl, wenn er gut und lieb zu ihr war. Dann tauchte ihr während des Zusammenseins mit dem Geliebten die quälende Vorstellung von ihrem „guten, unschuldigen, vertrauensvollen, nichts Böses ahnenden“ Manne auf und sie war ihrem Geliebten gegenüber gehemmt. War aber ihr Mann grob und rücksichtslos zu ihr gewesen, so war sie in ihrem Genuss ungestört und dachte gar nicht an ihren Mann. Das Erscheinen oder Ausbleiben der Vorstellung ihres Mannes war also von der jeweiligen Liebesbeziehung zu ihm abhängig. Eine andere Frau konnte fast ohne Schuldgefühl mit ihrem Freunde sexuell verkehren, brachte es aber nicht über sich, sich mit ihm zu duzen. Wenn sie dies versuchte oder wenn seine Zärtlichkeiten sie allzu sehr an die ihres Mannes erinnerten, so tauchte ihr prompt die Vorstellung ihres Mannes auf. Dies war ihm reserviert; er durfte nicht ganz durch einen anderen ersetzt werden. Die Ersetzung eines Menschen durch einen anderen ist für unser Es ein Äquivalent seiner. Tötung. Versucht diese Frau, ihren Mann auf diese Weise zu beseitigen, so empfindet sie Reue, es erwacht in ihr die Sehnsucht nach ihm und er erscheint ihr auch. Das Erscheinen oder Ausbleiben der Vorstellung ihres Mannes war hier davon abhängig, ob er von ihr getötet oder verschont worden war.

Der Vorgang: Tötung des Objektes — Reue — Sehnsucht nach ihm — seine Aufrichtung im Ich ist bekanntlich von Freud beschrieben worden. Die vorliegende Ergänzung bezieht sich auf den letzten Akt. Anstatt „Aufrichtung im Ich“ heißt es hier „magische Schöpfung des Objektes durch die Allmacht der Gedanken“.

Dass die Ersetzung einer Person durch eine andere für unser Unbewusstes gleichbedeutend mit ihrer Beseitigung ist, habe ich öfters konstatieren können. Eine Frau träumte, nachdem sie zum ersten, aber auch letzten Male ihrem Manne untreu gewesen, daß sie am Morgen nach dem Erwachen im Ehebette anstatt ihres Gatten den Freund liegen sah. Da trat ihr Töchterchen in das Zimmer, um ihren Eltern wie gewöhnlich guten Morgen zu wünschen. Da sagte die Träumerin zum Kinde: „Geh, Else, gib dem Papa einen Kuss, siehst du, nun ist dieser Herr der Papa“ Indem sie dies sagte, verspürte sie einen tiefen Schmerz im Herzen und empfand unsägliches Mitleid, ihr Töchterchen um den von ihr geliebten Vater gebracht und der Armen dafür einen fremden Menschen aufgedrängt zu haben. Der Seelenschmerz war so groß, daß sie erwachte und sich freute, daß es bloß ein böser Traum gewesen war. Es gibt Patienten, welche das Eingehen auf die analytischen Deutungen als einen Verrat am Vater auffassen, als eine Ersetzung der väterlichen Autorität durch eine Gegenpartei. Bringt man solche Patienten dazu, über manche Punkte anders zu denken als bisher, so fühlen sie sich dadurch unbewusst dazu verführt, ihren Vater (oder ihre Angehörigen im allgemeinen) zu töten, also gerade das zu tun, wovor sie sich am meisten hüten wollten. Dadurch vergrößert sich ihr unbewusstes Schuldgefühl. Ein Patient mit schwerer Zwangsneurose bekam nach den ersten analytischen Erfolgen den Zwangsimpuls, seinen Vater mit der Axt zu erschlagen. Meine Erfahrungen sind diesbezüglich sehr reiche. Ohne mich hier in weitere kasuistische Mitteilungen einzulassen, fasse ich sie dahin zusammen, daß ich mich bemühe, solchen Patienten ihr Verhältnis zur Behandlung bewusst zu machen. Wenn ich ihnen klarmachen konnte, daß die ernste, tatsächliche Annahme der Analyse für ihr Unbewusstes bedeutet, den Vater zu töten, kamen auch solche Patienten zur Heilung, die sonst aus Schuldgefühl nicht genesen wären. Dadurch versteht man, welche ausschlaggebende Bedeutung es hat, ob die konstituierte Autorität die Analyse anerkennt oder nicht.