Das Quartett

Wenn eine Reise schlecht anfängt, nimmt sie gewöhnlich auch kein gutes Ende. Diesen Glaubenssatz hätten wenigstens die vier Musiker unterschreiben können, deren Instrumente hier auf der Erde umherlagen. Die Kutsche, in der sie an der letzten Eisenbahnstation hatten Platz nehmen müssen, war hier nämlich soeben plötzlich gegen die Böschung des Weges umgestürzt.

„Es ist doch keiner verwundet?“ fragte der erste, der sich schon, wenn auch nur mühsam, wieder aufgerichtet hatte.


„Ich bin mit einem Ritz in der Haut davongekommen“, antwortete der zweite, indem er sich die durch eine gesprungene Kutschenscheibe verletzte Wange abwischte.

„Und ich mit einer Hautabschürfung!“ erwiderte der dritte, von dessen Wade ein Tröpfchen Blut hervorquoll.

Niemand hatte also ernstlich Schaden genommen.

„Doch mein Violoncell!“ rief der vierte. „Wenn nur mit meinem Violoncell nichts passiert ist.“

Zum Glück erweisen sich die Instrumentenkästen alle als unversehrt. Weder das Violoncell, noch die Bratsche oder die beiden Violinen hatten unter dem Stoß gelitten, ja, es war sogar kaum nötig, sie neu zu stimmen. Eine vortreffliche Sorte Instrumente, nicht wahr?

„Verwünschte Eisenbahn, die uns auf halbem Weg sitzenläßt!“ beginnt der eine wieder.

„Verwünschte Kutsche, die mit uns mitten in der Wildnis umwirft!“ fügt der zweite hinzu.

„Und gerade zu der Zeit, wo es anfängt, dunkel zu werden!“ jammerte der dritte.

„Zum Glück ist unser Konzert erst für übermorgen angezeigt!“ bemerkt der vierte.

Dann folgen einige drollige Wechselreden zwischen den Künstlern, die ihr Mißgeschick von der lustigen Seite aufgenommen haben. Der eine entlehnt seine Kalauer nach eingewurzelter Gewohnheit der musiktechnischen Sprache und sagt:

„Na, da wäre ja unsere Kutsche glücklich ‚auf den Rücken gelegt! ‘ “ 1)

„Au, Pinchinat!“ ruft einer seiner Gefährten.

„Und ich meine“, fährt Pinchinat fort, „wir haben umgeworfen, weil wir die Vorzeichnung 2) der Straße unbeachtet ließen.“

„Wirst du schweigen lernen?“

„Und wir werden gut tun, unsere Stücke in eine andere Kutsche zu transponieren!“ wagt Pinchinat noch hinzuzufügen.

Ja, es handelte sich um einen tüchtigen Unfall und Umfall, wie der Leser sofort erkennen wird.

Die angeführten Worte wurden französisch gesprochen; es hätte dies aber auch englisch erfolgen können, denn das Quartett beherrschte die Sprache Walter Scotts und Coopers – dank vielfacher Kunstreisen in Ländern angelsächsischen Ursprungs – ebenso wie die eigene Muttersprache. So verhandeln sie denn auch nur auf englisch mit dem Führer der Kutsche.

Dieser brave Mann hat am schlimmsten zu leiden, da er, als die Vorderachse des Wagens brach, von seinem erhöhten Sitz heruntergeschleudert wurde. Zum Glück beschränkte sich das auf verschiedene mehr schmerzhafte als ernste Quetschungen. Immerhin kann er infolge einer Verstauchung nicht auftreten und also nicht gehen, und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ein Hilfsmittel zu finden, um den Mann wenigstens bis ins nächste Dorf zu schaffen.

Es ist wirklich ein Wunder zu nennen, daß bei dem Unfall niemand das Leben verloren hat. Der Weg schlängelt sich nämlich durch eine sehr bergige Gegend, streift da und dort an schroffe Abgründe oder wird von rauschenden Bergströmen begleitet und häufig durch kaum zu passierende Furten unterbrochen. Wäre der Bruch am Vorderteil des Wagens nur eine kurze Strecke weiter oben erfolgt, dann wäre das Gefährt ohne Zweifel über das Felsengeröll des Abhangs hinuntergestürzt und bei dieser Katastrophe vielleicht keiner mit dem Leben davongekommen.

Jedenfalls war die Coach jetzt aber nicht weiter zu benutzen. Dazu liegt eines der beiden Pferde, das sich mit dem Kopf an einen spitzen Stein gestoßen hat, röchelnd am Boden. Das andere ist an der Hanke ziemlich schwer verletzt. Da fehlte es nun an einem Wagen ebenso wie an einem Gespann dafür.

Die vier Künstler waren auf dem Boden Nieder–Kaliforniens überhaupt von einem seltenen Pech verfolgt worden und hatten binnen 24 Stunden nun zwei Unfälle erlitten. Wenn man da aber nicht gerade Philosoph ist ...

Zu jener Zeit besaß San Francisco, die Hauptstadt des Staates, schon durch einen Schienenstrang eine direkte Verbindung mit San Diego, das fast an der Grenze der alten Provinz Kalifornien liegt. Nach dieser bedeutenden Stadt begaben sich die vier Künstler, die dort am übernächsten Tag ein vielfach angezeigtes und mit Spannung erwartetes Konzert geben sollten. Am Tag vorher von San Francisco abgefahren, befand sich der Zug kaum noch 50 Meilen 3) von San Diego, als sich zuerst ein „aus dem Tempo kommen“ ereignete.

Jawohl, ein aus dem Tempo kommen, wie der Lustigste der kleinen Gesellschaft sagte, und diesen Ausdruck wird man einem alten Schüler des Noten–ABC schon freundlich nachsehen.

An der Station Paschal hatte es einen unfreiwilligen Aufenthalt gegeben, und zwar deshalb, weil der Bahndamm durch ein plötzliches Hochwasser auf eine Strecke von 3 bis 4 Meilen zerstört worden war. Erst 2 Meilen weiter konnte man die Eisenbahn wieder besteigen, und eine Überführung der Reisenden war auch noch nicht eingerichtet, weil sich der Unfall erst vor wenigen Stunden ereignet hatte.

Nun gab es nur eine Wahl: entweder zu warten, bis die Bahn wieder weiterfahren konnte, oder in der nächsten Ortschaft einen Wagen bis San Diego zu mieten.

Das Quartett hatte den zweiten Ausweg gewählt. In einem benachbarten Dorf entdeckten sie glücklich eine Art alten Landauers mit rasselndem Eisenwerk, dessen Inneres von Motten zerfressen und alles andere als einladend war. Mit dem Besitzer um den Fahrpreis einig geworden, hatten sie den Kutscher noch durch das Versprechen eines reichlichen Trinkgelds bestochen und waren nur mit den Instrumenten, ohne das übrige Reisegepäck, wohlgemut davongerollt. Das war gegen 2 Uhr nachmittags, und bis 7 Uhr ging die Fahrt auch ohne große Schwierigkeit und Anstrengung vonstatten. Dann sollten sie aber zum zweiten Mal „aus dem Tempo kommen“, indem die alte Kutsche umstürzte, und zwar so unglücklich, daß sich ihre weitere Benutzung ganz von selbst verbot.

Jetzt befand sich das Quartett noch reichlich 20 Meilen von San Diego entfernt.

Ja, warum hatten sich denn die vier Musiker – von Nation Franzosen und, was noch mehr sagen will, von Geburt Pariser – in diese unwirtlichen Gebiete Nieder–Kaliforniens verirrt?

Warum? ... Das werden wir sofort kurz mitteilen und dabei mit einigen Zügen die vier Virtuosen schildern, die der Zufall, dieser fantastische Rollenverteiler, den Persönlichkeiten der nachfolgenden merkwürdigen Geschichte zugesellen sollte.

Im Laufe des betreffenden Jahres – wir können es nur auf etwa 30 Jahre genau angeben – hatten die Vereinigten Staaten von Amerika die Zahl der Sterne in ihrer Bundesflagge verdoppelt. Sie stehen in der vollen Entfaltung ihrer industriellen und kommerziellen Macht, nachdem sie das Dominium von Kanada bis zur äußersten Grenze am Polarmeer, doch auch die Gebiete von Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Costarica bis zum Panamakanal ihrem Staatenbund einverleibt hatten. Gleichzeitig hatte sich bei den länderraubenden Yankees die Neigung für die Kunst entwickelt, und wenn auch ihr eigenes Schaffen auf dem Gebiet des Schönen noch recht beschränkt blieb, wenn der Nationalgeist sich gegen die Malerei, die Bildhauerkunst und die Musik noch als etwas widerstrebend erwies, so hatte sich der Geschmack an den Werken der schönen Künste bei ihnen doch allgemein verbreitet. Dadurch, daß sie die Gemälde alter und neuer Meister mit Gold aufwogen, um private oder öffentliche Sammlungen zu füllen, und daß sie berühmte lyrische oder dramatische Künstler, ebenso wie die besten Instrumentalisten oft zu unerhörten Preisen heranzogen, hatten sie sich endlich den ihnen so lange mangelnden Sinn für schöne und edle Dinge allmählich eingeimpft.

Was die Musik betrifft, begeisterten sich die Dilettanten der Neuen Welt anfänglich an den Werken eines Meyerbeer, Halévy, Gounod, Berlioz, Wagner, Verdi, Massé, Saint–Saens, Reyer, Massenet und Delibes, der berühmten Tonsetzer der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dann gelangten sie nach und nach zum Verständnis der tiefsinnigeren Arbeiten eines Mozart, Beethoven und Haydn und strebten den Quellen jener höchsten Kunst entgegen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts so reichlich flossen. Da folgten den Opern die lyrischen Dramen, den lyrischen Dramen die Symphonien, Sonaten und die Orchestersuiten. Zu der Zeit, von der wir sprechen, machten gerade die Sonaten in den verschiedenen Staaten der Union gewaltiges Aufsehen. Man bezahlte sie willig Note für Note, die halbe mit 20, die viertel mit 10, die achtel Note mit 5 Dollar.

Über diese Modetorheit informiert, unternahmen es vier hochangesehene Instrumentalisten, sich in den Vereinigten Staaten von Amerika Ruhm und Schätze zu erringen. Es waren vier gute Kameraden, frühere Schüler des Pariser Konservatoriums, und in der französischen Hauptstadt sehr bekannte Leute, die vorzüglich von den Liebhabern der in Amerika noch wenig verbreiteten sogenannten „Kammermusik“ besonders geschätzt wurden. Mit welch seltener Vollendung, welch herrlichem Zusammenspiel und tiefem Verständnis brachten sie aber auch die Werke eines Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Haydn und Chopin zu Gehör, diese unsterblichen Kompositionen, die für vier Streichinstrumente, eine erste und eine zweite Geige, eine Bratsche und ein Violoncell geschrieben sind! Da gab es keinen Lärm, nichts Geschäftsmäßiges, wohl aber eine tadellose Ausführung, eine unvergleichliche Virtuosität! Die Erfolge des Quartetts erscheinen um so begreiflicher, als man zu jener Zeit gerade anfing, der ungeheuren harmonischen und symphonischen Orchester müde zu werden. Ist die Musik auch immer eine aus kunstvoll kombinierten sonoren Wellen erzeugte Seelenerschütterung, so braucht man diese Wellen doch nicht zu betäubenden Sturmfluten zu entfesseln.

Kurz, unsere vier Musiker beschlossen, die Amerikaner in die sanften und unaussprechlichen Genüsse der Kammermusik einzuführen. Sie reisten zusammen nach der Neuen Welt, und seit 2 Jahren sparten ihnen gegenüber die Yankee–Dilettanten auch in keiner Weise, weder mit Hurras, noch mit ebenso erhebend klingenden Dollars. Ihre musikalischen Matineen oder Soireen waren außerordentlich begehrt. Das „Konzert–Quartett“ – so lautete die übliche Bezeichnung – war kaum imstande, den Einladungen der reichen Leute nachzukommen. Ohne jenes gab es kein Fest, keine Réunion, keinen Raout, keinen Five o'clock–Tea, ja keine Gardenparties, die der öffentlichen Aufmerksamkeit empfohlen zu werden verdient hätten. Bei dieser allgemeinen Begeisterung hatte genanntes Quartett schon ganz gewaltige Summen eingeheimst, die, wenn sie sich in den Panzerschränken der Bank von New York aufgesammelt hätten, schon ein recht hübsches Kapital dargestellt haben würden. Doch, warum sollten wir es verheimlichen? ... Unsere amerikanischen Pariser streuten das Geld auch mit vollen Händen wieder aus. Die Fürsten des Bogens, die Könige von vier Saiten, dachten gar nicht ans Aufspeichern von Schätzen. Sie hatten an ihrem etwas abenteuerlichen Leben Geschmack gefunden in der Gewißheit, überall gute Aufnahme und reichlichen Verdienst zu finden, und so flatterten sie von New York nach San Francisco, von Quebec nach New Orleans, von Neu–Schottland nach Texas – vielleicht etwas à la Boheme, aber in der Boheme der Jugend, die ja die älteste, liebenswürdigste und beneidenswerteste überall auf Erden ist.

Wenn wir uns nicht arg täuschen, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Leutchen persönlich und mit Namen denen unserer freundlichen Leser vorzustellen, die das Vergnügen, jene zu hören, weder gehabt haben, noch je haben werden.

Yvernes – die erste Violine – 32 Jahre alt, von etwas übermittlerer Statur, bestrebt mager zu bleiben, hat blondes, unten etwas gelocktes Haar, glattes Gesicht, große dunkle Augen, lange Hände, die dazu geschaffen scheinen, auf seiner Guarnerio alles mögliche zu greifen, zeigt elegantes Auftreten, liebt es, sich in einen dunkelfarbigen Mantel zu hüllen, trägt gern einen hochköpfigen Seidenhut, ist vielleicht etwas schauspielerischer „Poseur“, doch auf jeden Fall der Harmloseste der Gesellschaft, der sich um Geldangelegenheiten nicht kümmert, sondern vor allem anderen Künstler, begeisterter Bewunderer alles Schönen und Virtuose von großem Talent und glänzender Zukunft ist.

Frascolin – die zweite Violine – 30 Jahre alt, klein, mit Neigung zur Fettleibigkeit, worüber er oft in helle Wut gerät, braun von Bart- und Kopfhaar, mit starkem Kopf, dunklen Augen, langer Nase mit sehr beweglichen Flügeln und geröteten Flecken an den Stellen, wo die Federn seines goldgefaßten Lorgnons mit stark konkaven Gläsern, das er leider nicht entbehren kann, aufsitzen; übrigens ein gutmütiger, zuvorkommender, dienstwilliger Mann, der sich jeder Mühe unterzieht, um sie seinen Kollegen zu ersparen, führt er die Kasse für das Quartett und empfiehlt immer äußerste Sparsamkeit, freilich ohne damit je Gehör zu finden. Ohne jeden Neid auf den Erfolg seines Kollegen Yvernes und ohne den Ehrgeiz, das Pult der ersten Violine jemals für sich zu erobern, ist er doch ein vortrefflicher Künstler. Über dem Reiseanzug trägt er stets einen weiten Staubmantel.

Pinchinat – die Bratsche – gewöhnlich „ Seine Hoheit“ 4) genannt, 27 Jahre alt, der Jüngste der Truppe und auch ihr witzigster, lustigster Patron, einer jener unverbesserlichen Typen, die ihr Leben lang übermütige Straßenjungen bleiben, mit seinem Kopf, geistvollen, stets aufmerksamen Augen, ins Rötliche spielendem Haar – und mit spitzauslaufendem Schnurrbart. Er schnalzt gern mit der Zunge an den weißen, scharfen Zähnen und ist eingefleischter Liebhaber von Kalauern und Calembours, ebenso bereit zum Angriff wie zur Abwehr, das Gehirn voller Schnurren – „eine vollständige Ausstattung“, sagt er – von unverwüstlichem Humor, immer Possen treibend und ohne sich deshalb, weil sie seine Kollegen zuweilen in Verlegenheit bringen, ein graues Haar wachsen zu lassen. Darum treffen ihn auch häufig die Vorwürfe und väterlichen Strafpredigten des Führers und Oberhaupts des Quartetts.

Es gibt hier natürlich auch einen Führer, den Violoncellisten Sebastian Zorn, ein Oberhaupt ebenso durch sein Talent wie durch sein Alter – er zählt bereits 52 Sommer – dieser ist klein, dick und fett, blond, mit reichlichem, den Schläfen mit Herzenshäkchen anliegendem Haar und starrem Schnurrbart, der sich im Gewirr des spitzauslaufenden Backenbarts verliert. Sein Teint spielt ins Backsteinfarbige und seine Augen glänzen durch die Gläser der Brille, die er beim Lesen und ähnlichem noch durch eine Lorgnette verschärft. Dabei hat er fleischige, runde Hände, von denen die rechte, der man die Gewohnheit an die wiegenden Bogenbewegungen anmerkt, am Gold– und am kleinen Finger mit großen Ringen geschmückt ist.

Diese flüchtige Skizze genügt wohl, den Mann und den Künstler zu kennzeichnen. Man hält aber nicht ungestraft 40 Jahre hindurch einen klingenden Kasten zwischen den Knien. Das beeinflußt das ganze Leben und modelt den Charakter. Die allermeisten Violoncellspieler sind redselig und auffahrend, haben gern das große Wort und reden über allerlei – übrigens nicht ohne Geist. Ein solches Exemplar ist auch Sebastian Zorn, dem Yvernes, Frascolin und Pinchinat die Leitung ihrer musikalischen Streifzüge willig überlassen haben. Sie lassen ihn reden und nach Gutdünken handeln, denn er versteht sich aufs Geschäft. An sein etwas befehlshaberisches Wesen gewöhnt, lachen sie darüber nur, wenn er einmal „über den Steg hinausgreift“, was für einen Streichinstrumentenspieler, wie Pinchinat respektlos bemerkte, sehr bedauerlich ist. Die Zusammenstellung der Programme, die Leitung der Reisen, die schriftlichen Verhandlungen mit den Impresarios ... all diese vielfachen Arbeiten lagen auf seinen Schultern und gaben ihm vollauf Gelegenheit, sein aggressives Temperament zu betätigen. Nur um die Einnahmen kümmerte er sich nicht, ebensowenig wie um die Verwaltung der gemeinschaftlichen Kasse, die der Obhut des zweiten Violinisten und in erster Linie haftbaren, des sorgsamen und peinlich ordentlichen Frascolin anvertraut war.

Das Quartett wäre nun vorgestellt, als stände es am Rand eines Podiums vor unseren Augen. Der Leser kennt die einzelnen, die zwar nicht sehr originelle, doch wenigstens scharf voneinander getrennte Typen bilden, und er gestatte freundlichst, diese Erzählung sich abspielen zu lassen, wobei er sehen wird, welche Rolle darin zu spielen die vier Pariser Kinder berufen sind, sie, die nach so reichlich in den Staaten des amerikanischen Bundes geerntetem Beifall jetzt auf dem Weg waren nach ... Doch greifen wir nicht voraus, „überstürzen wir den Takt nicht!“, würde Seine Hoheit rufen, und fassen wir uns in Geduld.

Die vier Pariser befanden sich also gegen 8 Uhr abends auf einer verlassenen Straße – wenn man dem Weg so schmeicheln darf – Nieder–Kaliforniens neben den Trümmern ihres „umgestürzten Wagens“ ... Musik von Boieldieu, hat Pinchinat gesagt. Wenn Frascolin, Yvernes und er das kleine Abenteuer mit philosophischem Gleichmut hingenommen hatten und sich sogar mit einigen Scherzreden darüber wegzuhelfen suchten, so liegt es doch auf der Hand, daß wenigstens der Anführer des Quartetts Ursache genug hatte, in hellen „Zorn“ zu geraten. Wir wissen ja, der Violoncellist hat eine leicht kochende Galle und, wie man zu sagen pflegt, Blut unter den Nägeln. Yvernes behauptet von ihm auch steif und fest, daß er aus der Familie eines Ajax oder Achilles abstamme, die auch nicht gerade sanftmütiger Natur waren.

Um nichts zu vergessen, fügen wir jedoch hinzu, daß, wenn Sebastian Zorn cholerisch, Yvernes phlegmatisch, Frascolin friedlich und Pinchinat von übersprudelnder Lustigkeit war, doch alle gute Kameradschaft hielten und füreinander eine wahrhaft brüderliche Freundschaft hegten. Sie fühlten sich vereinigt durch ein Band, das keine Meinungsverschiedenheit, keine Eigenliebe zu zerreißen vermochte, durch eine Übereinstimmung der Neigungen und des Geschmacks, die ein und derselben Quelle entstammte. Ihre Herzen bewahrten wie gute Instrumente stets eine ungestörte Harmonie.

Während Sebastian Zorn darauf loswettert, indem er seinen Violoncellkasten betastet, um sich zu versichern, daß er noch heil und ganz ist, tritt Frascolin an den Wagenführer heran.

„Nun, lieber Freund“, fragt er, „was meint Ihr denn, was wir jetzt beginnen?“

„Beginnen?“ antwortet der Mann. „Wenn man weder Pferde noch Wagen mehr hat ... Da wartet man eben ...“

„Warten, bis zufällig einer kommt!“ ruft Pinchinat. „Und wenn nun keiner käme?“

„Da sucht man nach einem“, bemerkt Frascolin, den sein praktischer Sinn niemals verläßt.

„Doch wo?“ poltert Zorn hervor, der wütend auf der Straße hin- und herläuft.

„Wo? ... Na da, wo sich einer befindet“, erwidert der Rosselenker.

„Sapperment, Sie Kutschbockbewohner“, fährt der Violoncellist mit einer Stimme auf, die schon allmählich in die höchsten Register übergeht, „soll das etwa eine Antwort sein? So ein ungeschickter Mensch, der uns umwirft, seinen Wagen zertrümmert und die Pferde zu Krüppeln macht, und der begnügt sich zu erklären: ‚Ziehen Sie sich aus der Klemme, so gut und so schlecht es eben geht! ‘ “

Von seiner angeborenen Zungenfertigkeit fortgerissen, verirrt sich Sebastian Zorn in eine endlose Reihe mindestens nutzloser Verwünschungen, bis Frascolin ihn unterbricht mit den Worten:

„Na, überlaß das nur mir, alter Freund!“

Dann wendet er sich nochmals an den Wagenführer.

„Wo befinden wir uns denn jetzt, guter Mann?“

„ 5 Meilen 5) von Freschal.“

„Ist das etwa Eisenbahnstation?“

„Nein ... ein Dorf in der Nähe der Küste.“

„Würden wir dort einen Wagen finden?“

„Einen Wagen wohl nicht, vielleicht aber einen Karren ... “

„Einen Ochsenkarren, wie zur Zeit der Merowinger!“ ruft Pinchinat.

„Das kann uns auch egal sein“, meint Frascolin.

„Frag lieber“, ergreift Sebastian Zorn wieder das Wort, „ob sich in dem Nest, dem Freschal, ein Gasthaus befindet.“

„Ja, das gibt's; dort hätten wir einen kurzen Halt gemacht.“

„Und um nach diesem Dorf zu gelangen, brauchen wir nur der Landstraße zu folgen?“

„Genau geradeaus.“

„Dann also marsch!“ befiehlt der Violoncellist.

„Es wäre doch grausam, den wackeren Mann hier in seiner Not liegen zu lassen“, bemerkt Pinchinat. „He, guter Freund, wenn wir Sie nun unterstützen, könnten Sie dann nicht ... “

„Ganz unmöglich!“ antwortet der Kutscher. „Übrigens ziehe ich es vor, hier, bei meinem Wagen zu bleiben. Wenn's erst wieder Tag wird, werd' ich schon sehen, wie ich fortkomme.“

„Wenn wir in Freschal sind“, bemerkt Frascolin, „könnten wir Ihnen ja Hilfe schicken.“

„Ja, der dortige Gastwirt kennt mich und wird mich nicht in der Not sitzenlassen.“

„Geht's nun fort?“ mahnt der Violoncellist, der seinen Instrumentenkasten schon aufgerichtet hat.

„Sofort“, erwidert Pinchinat. „Vorher wollen wir unsern Kutscher nur dort an die Erdwand hinüberschaffen.“

Natürlich war es einfache Menschenpflicht, den Mann von der Landstraße wegzubringen, und da er sich seiner schwerverletzten Beine nicht bedienen konnte, hoben Pinchinat und Frascolin ihn auf, trugen ihn an die Seite des Weges und lagerten ihn zwischen die oberirdischen Wurzeln eines dicken Baums, dessen herabhängende, unterste Zweige fast eine Blätterlaube bilden.

„Na, wird's nun endlich?“ drängt Sebastian Zorn zum dritten Mal, nachdem er sich den Violoncellkasten schon mithilfe mehrerer Riemen so gut wie möglich auf den Rücken geschnallt hatte.

„So, das wäre geschehen“, sagte Frascolin gelassen.

Dann wendet er sich noch mal an den Wagenführer.

„Es bleibt also dabei; der Gastwirt von Freschal schickt Ihnen Hilfe. Haben Sie bis dahin noch ein besonderes Bedürfnis, guter Freund?“

„Ach ja“, antwortet der Mann, „nach einem tüchtigen Schluck Gin, wenn in Ihren Korbflaschen davon noch etwas übrig ist.“

Pinchinats Flasche ist noch ganz voll, und Seine Hoheit bringt willig das kleine Opfer.

„Nun, Männchen“, sagt er lächelnd, „damit werden Sie die Nacht über wenigstens innerlich nicht frieren!“

Eine letzte dringliche Mahnung des Violoncellisten bestimmt seine Gefährten endlich, sich in Bewegung zu setzen. Es ist ein Glück, daß ihr sonstiges Gepäck im Güterwagen des Zugs geblieben ist, statt daß sie es mit auf die Kutsche verladen hätten. Trifft es in San Diego auch mit einiger Verspätung ein, so bleibt unsern Musikern doch die Beschwerde erspart, es jetzt nach dem Dorf Freschal zu befördern. Es ist schon genug an den Violinenkästen, und an dem Violoncellkasten mehr als genug. Ein seines Namens würdiger Instrumentalist trennt sich freilich niemals von seinem Instrument – so wenig, wie ein Soldat von seinen Waffen oder eine Schnecke von ihrem Haus.



1) Im Original „mi sur le do“, ein deutsch nicht wiederzugebendes Wortspiel, da mi und do die Noten C und E bedeuten, ohne Rücksicht auf Rechtschreibung aber auch als „gelegt“ und „Rücken“ verstanden werden können. Anm. d. Übersetzers.

2) Schlüssel.
3) Amerikanische Meilen.
4) Französisch „Son Altesse“, hier als unübertragbares Wortspiel von „alto“ (Bratsche) abgeleitet. Anm. d. Übersetzers.

5) Amerikanische Meilen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Propellerinsel