Darstellung des Kampfes

Wenn man von einem Kampfe zweier Parteien, seien es bloß politische oder religiös-politische, wie im vorliegenden Falle, eine richtige Ansicht gewinnen will: so muss man vor allen Dingen nach dem Prinzips fragen, auf welchem die Politik der einen Partei gegen die andre bisher beruhte. Nun leidet es wohl keinen Zweifel, dass die Politik der Christen in Bezug auf die Juden ganz und gar auf demjenigen Prinzipe beruhte, welches man, freilich mit Unrecht, das Recht des Stärkeren (jus fortioris) genannt hat. Ich sage, mit Unrecht habe man es so genannt. Denn es gibt eigentlich kein Recht des Stärkeren, wie ferne dieser bloß der Stärkere ist. Sonst müsste man zugestehen, dass der Straßenräuber, sobald er nur der Stärkere, auch das Recht habe, den schwächeren Reisenden auszuplündern und, falls dieser nur den mindesten Widerstand leistete, auch zu ermorden. Es liegt aber schon im Begriffe des Rechtes, dass es dem Schwächeren wie dem Stärkeren zukomme, dass Beide gleichen Anteil daran haben; wie schon Aristoteles und Cicero in den dieser Schrift als Motto vorgesetzten Stellen sehr richtig bemerkt haben. Damm schützt auch jeder wohleingerichtete und wohlverwaltete Staat den Schwächeren gegen den Stärkeren, wenn dieser seine Übermacht gegen jenen missbrauchen will. Ja es zwecken im Grunde alle Gesetze und alle Gerichte darauf ab. Sonst brauchte man sich gar nicht mit Aufstellung von Gesetzen und Gerichten zu bemühen. Man dürfte nur sagen: Jeder schütze sich selbst, so gut er kann! Sobald man aber dies sagte, hätte man den Krieg Aller gegen Alle (bellum omnium contra omnes) angekündigt, mithin alle gesellschaftliche und bürgerliche Ordnung mit einem Schlage vernichtet. Denn diese Ordnung beruht wesentlich darauf, dass nicht die tierische Kraft, sondern das vernünftige Gesetz herrsche. Und eben darum findet sich auch bei den vernunftlosen Tieren keine solche Ordnung, sondern der Wolf frisst das Schaf, weil er mehr tierische Kraft hat — also nach dem sogenannten Rechte des Stärkeren das daher kein menschliches, sondern ein bloß tierisches Recht ist, wenn überhaupt bei vernunftlosen Tieren vom Rechte die Rede sein könnte.

Dass nun aber gleichwohl die bisherige Politik der Christen gegen die Juden auf dieser tierischen Grundlage (dem Wolfsrechte, wie man es auch nennen könnte) ruhte, ergibt sich aus der ganzen Sachlage. Weil die Christen, seitdem sie in Europa die herrschende Religionspartei geworden, bei weitem die größere Menge waren: so waren sie auch die Stärkeren und drückten die Juden als die Schwächeren, wegen der bei weitem kleineren Zahl, auf alle nur mögliche Weise. Ja dieser Druck verwandelte sich oft in grausame Verfolgungen, grausamer noch und schmachvoller als jene, welche früher die Christen von den heidnischen Römern hatten erdulden müssen. Die Christen befolgten also offenbar eine heidnische, auf demselben Prinzip beruhende Politik gegen die Juden, und bedachten gar nicht, dass sie auf solche Weise den milden und sanften Geist des Christentums, der da sagt: „Was du nicht willst, dass dir die Leute tun sollen, das tue du ihnen auch nicht!“ — ja der sogar die Feindesliebe gebietet — ganz und gar verleugneten.


Auch in einem andern Punkte zeigte sich die Politik der Christen gegen die Juden völlig heidnisch. Wie nämlich die Heiden den Christen allerlei Laster und Schandtaten aufbürdeten, um dadurch ihr Benehmen gegen die Christen wenigstens scheinbar zu rechtfertigen: so machten es auch die Christen mit den Juden. Diese sollten eine ganz und gar verworfene Nation sein, ein Volk, dessen Umgang man wie die Pest fliehen, dem man weder Menschen- noch Bürgerrechte bewilligen dürfe. Daher wurden die Juden auch häufig vertrieben, nachdem man sie vorher beraubt hatte, und zwar unter den nichtigsten Vorwänden. Bald sollten sie die Brunnen vergiftet, bald die Hostien aus christlichen Tempeln gestohlen und gemissbraucht, bald sogar Christenkinder geraubt, geschlachtet und wie Kannibalen verzehrt oder wenigstens deren Blut getrunken haben *).

*) Voltaire in seiner Histoire de l'empire de Russie sous Pierre le Grand (Part. I. Chap. II. gegen das Ende) macht die sehr richtige Bemerkung, dass man es früher auch so in Russland mit der Sekte der Roskolniken gemacht habe.

Man hat also freilich immer und, überall dieselbe Politik gegen Andersgläubige befolgt. Aber gegen die Juden ist diese Politik von den Christen weit länger befolgt worden. Man muss sich daher wundern, dass Voltaire in dieser Stelle der Juden gar nicht gedenkt. Er erwähnt sie zwar bald nachher, aber bloß mit der flüchtigen Bemerkung, dass sie sonst in Russland keine Synagogen hätten bauen dürfen.

Was bezweckte man aber mit dieser unchristlichen Politik gegen die Juden? — Man wollte sie nötigen, sich taufen zu lassen und dadurch Christen zu werden. Seltsame Verirrung! Als wenn jene Politik nicht das zweckmäßigste Mittel gewesen wäre, das gerade Gegenteil zu bewirken, nämlich den Juden den größten Abscheu gegen das Christentum einzuflößen! Und dieser Abscheu musste umso größer werden, als die Juden sahen, dass das Christentum, seit es herrschende Staatsreligion im römischen Reiche geworden, von seiner ursprünglichen Einfachheit und Würde, in welcher man dessen Stammverwandtschaft mit dem Judentume wohl noch erkennen konnte, immer mehr abwich; dass es sich durch seine kirchliche Dreifaltigkeitslehre, seine Heiligenverehrung und seinen Bilderdienst — Dinge, an welchen selbst viele Christen großen Anstoß nahmen — dem alttestamentlichen Mosaismus, der nur Einen Gott als Herrn des Himmels und der Erde anerkannte und allen Bilderdienst als heidnische Abgötterei verbot, offenbar entgegensetzte und sich in eine Art von neuem Heidentum verwandelte; und dass die christliche Kirche, statt eine fromme, friedliche, bescheidene und demütige Gemeine der Gläubigen zu sein, ein weltlich eitles, streitsüchtiges, herrisches und hoffährtiges Ding geworden, ja mit sich selbst durch unzählige Sekten, deren eine die andre bitterlich hasste und, wenn sie konnte, auch verfolgte, ganz und gar zerfallen war. Wie hatte da irgendein Jude sich zum Christentum hingezogen fühlen können? Musste es ihn denn nicht vielmehr von allen Seiten abstoßen?

Da nun also kein höheres gesellschaftliches und bürgerliches Band die unter den christlichen Völkern in Europa zerstreut lebenden und von den Christen überall (wenn auch hier mehr dort weniger) verachteten und gehassten, gedrückten und verfolgten Juden mit den Christen vereinigte: so war es natürlich und notwendig, dass jene das religiöse Band, welches sie allein noch von Alters her umschloss, desto fester hielten. Ihre Religion musste ihnen umso teurer werden, weil sie sich insgesamt als Märtyrer derselben betrachten mussten, und weil das Märtyrertum zu allen Zeiten das wirksamste Mittel gewesen, die Menschen in ihrem Glauben, mochte er wahr oder falsch sein, zu bestärken.

Hieraus bildete sich aber von selbst eine gegenseitige Politik der Juden in ihrem Verhältnisse zu den Christen. Wenn Menschen sich und ihre Rechte nicht durch Stärke zu schützen vermögen, weil sie von einer allzu großen Übermacht erdrückt sind: so nehmen sie ihre Zuflucht notwendig zur List. Sie suchen also ihre Feinde auf jede mögliche Weise zu überlisten. Sie brauchen sich auch dessen nicht so sehr zu schämen; glauben es wenigstens. Denn selbst im Kriege, wo doch Stärke und Tapferkeit den Ausschlag geben sollen und man ebendann die höchste Ehre sucht, macht man sich gar kein Bedenken, zur List seine Zuflucht zu nehmen, wenn man eben der schwächere Teil, wenn der Feind allzu überlegen ist. Die Kriegslisten werden daher auch in den Geschichtsbüchern neben den tapfersten Kriegstaten gerühmt. Das so eben dargestellte Verhältnis zwischen Christen und Juden aber war im Grunde nichts anderes als ein fortwährender Kriegsstand, obwohl der Krieg mehr ein geheimer als ein offenbarer war. Ja selbst wenn die Juden einen offenen und ehrlichen Kampf mit den Christen hätten führen wollen: so würde man ihnen dies nicht einmal erlaubt haben. Beim ersten Versuche sich zu bewaffnen und zu vereinigen würde man sich ihrer bemächtigt, sie entwaffnet und zerstreut, oder vielmehr als Rebellen mit den qualvollsten Martern hingerichtet haben.

Was war also da zu tun? Nichts als sich in eine traurige Notwendigkeit zu fügen, zu schweigen und zu dulden, und allenfalls sich noch mit der Erfüllung einer alten Verheißung, mit der Hoffnung eines künftigen Retters, eines Messias zu trösten. Denn der Unglückliche, den die Gegenwart drückt, richtet seine Augen ganz natürlich auf die Zukunft. Die Juden aber konnten nicht glauben, dass ihr Messias schon da gewesen sei, da die Christen im Namen dessen, welchen sie dafür ausgaben, den Juden so viel Böses zufügten. Man versetze sich nur recht in ihre Lage, und man wird es in dieser Lage ganz unmöglich finden, dass die Juden in der Person des auf die Anklage ihrer, vormaligen Priester von den Römern mitten unter groben Verbrechern Gekreuzigten einen von Gott gesandten Retter ihres Volks oder gar einen Sohn Gottes von gleichem Wesen mit dem Vater hätten anerkennen sollen. Ist ja doch nach einem bekannten Schreiben jüdischer Hausväter an den vormaligen Propst Teller in Berlin noch heute dies ein Hauptanstoß selbst für die verständigeren und besseren Juden, welche die Hoffnung eines Messias, der noch kommen soll, längst aufgegeben haben, und welche daher wohl geneigt wären, die Lehre eines schon gekommenen Messias anzunehmen, wenn man ihnen nur nicht zumutete, zugleich mit derselben die ganze kirchliche Dogmatik über dessen Persönlichkeit — eine Dogmatik, die schon viele Christen nicht mehr gelten lassen — in ihr von Jugend auf widerstrebendes Bewusstsein aufzunehmen.

Nun will aber doch der Mensch leben, wenn er einmal da ist. Denn dieser Lebenstrieb ist selbst den vernunftlosen Tieren eingeboren. Wovon sollten jedoch die Juden unter den Christen leben, nachdem ihnen die harte Politik der letzteren fast alle Lebensquellen abgeschnitten hatte, um sie für sich allein zu benutzen? Das Land durften die Juden nicht besitzen und bebauen, obwohl dies das natürlichste Besitztum und Geschäft des Menschen ist. In die Zünfte oder Innungen der städtischen Gewerke nahm man sie auch nicht auf. Selbst die gelehrten Körperschaften der Christen, denen man doch mehr Duldsamkeit hätte zutrauen sollen, wollten keine Juden in ihrer Mitte dulden. Es machte daher ungemeines Aufsehen, als der Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz um die Mitte des 17. Jahrhunderts den jüdischen Philosophen Spinoza als Professor der Philosophie nach Heidelberg berief — ein Ruf, der zwar sehr ehrenvoll war, den aber der Berufene doch ausschlug, weil er wohl voraussah, dass er als jüdischer Professor auf einer christlichen Universität, trotz den Zusicherungen des aufgeklärten Fürsten, einen harten Stand haben würde.

So blieb denn diesem unglücklichen, in alle Welt zerstreuten und doch von aller Welt zurückgestoßenen, Volke fast nichts weiter übrig, um nur das Leben zu fristen, als der Handel. Dieses Lebensgeschäft ist nämlich seiner Natur nach weit mehr weltbürgerlich als staatsbürgerlich. Es konnte also wohl ein Volk daran teilnehmen, das kein Vaterland, keine staatsbürgerliche Existenz mehr hatte. Ja selbst seine Zerstreuung forderte dazu auf und begünstigte das Geschäft. Denn der Handel sucht das Weite und verbindet daher auch das Entfernteste. Die Juden hätten also ganz auf den Kopf gefallen sein müssen, wenn sie nicht hätten einsehen wollen, dass auf diesem Felde allein noch ihr Weizen blühte. Daher bearbeiten sie es auch mit allem dem Fleiß, mit aller der Beharrlichkeit, mit allen den Mühen und Sorgen, die es erfordert, aber zugleich reichlich belohnt, wenn man sie nicht scheuet. Die Politik der Juden nahm also auch vorzugsweise das Gepräge der Handelspolitik an. Sie ward — wie das unausbleiblich geschehen muss, wenn ein ganzes Volk sich ausschließlich dem Handel widmet — gewinnsüchtig, habsüchtig, wucherisch; und zwar um so mehr, da sich doch nicht alle Juden mit dem Großhandel, der auch das Gemüt erhebt und erweitert, beschäftigen konnten, vielmehr die Meisten im Kleinhandel, ja im gemeinen Schacher oder Trödel, ihren Lebensunterhalt suchen mussten, um nur nicht zu verhungern.

Der Handel machte nun auch viele Juden reich; er brachte den großen Hebel der gebildeten Menschengesellschaft, den sogenannten Nervus rerum gerendarum, mit einem Worte, das Geld in ihre Hände, und mit demselben auch eine geheime Macht über alle, welche dessen bedurften, vom Höchsten bis zum Geringsten.

Aber siehe da! die Christen, die doch nach der Lehre ihres Meisters keinen sonderlichen Wert auf die irdischen Güter, den verführerischen Mammon, legen sollten, und die nicht bedachten, dass sie selbst durch ihre falsche Politik gegen die Juden in deren Hände den Mammon gespielt hatten, fingen nun an, auf die verachteten Juden sogar neidisch zu werden, obwohl deren sonstiges Los nichts weniger als zu beneiden war. Dieser Neid, wie es in der Welt zu gehen pflegt, führte zu neuen Unbillen gegen die Juden. Man erschwerte und beschränkte ihren Handel auf alle nur mögliche Weise. Harte Zölle wurden ihnen aufgelegt, sogar ein Leibzoll, wie man auf das Vieh zu legen pflegt, wenn es im Verkehre fremdes Gebiet betritt. Der Unterschied war nur der, dass das Vieh vom Händler verzollt wird, der Jude aber sich selbst verzollen musste. Trotz der dadurch erkauften Freiheit zu Handeln, ward er dennoch oft beraubt, und zwar nicht bloß seiner Waren, sondern auch wohl seiner persönlicher Freiheit, die er dann mit einem schweren Lösegelde wieder erkaufen musste. Zuweilen legte man den empfangenen Juden, wenn man etwa vermutete, dass er irgendwo große Schätze verborgen habe, auf die Folter, damit er den Ort anzeigen sollte und man die Schätze holen könnte. Nicht selten nahm man dem Juden selbst seine Kinder, angeblich um sie zu Christen zu machen, eigentlich aber wohl auch nur, damit er sie durch große Geldsummen wieder loskaufen machte. Kurz man erlaubte sich jede Art von Bedrückung und Gewalttätigkeit gegen die Juden, um nur Geld von ihnen zu erpressen. Einen Juden aber zu betrügen oder, wie man auch sagte, zu prellen, hielt man sogar für etwas Löbliches und Verdienstliches; denn er war ja ein Ketzer. Haereticis autem non est servanda fides.

Dieser Grundsatz, dass man Ketzern nicht Wort zu halten brauche, den zuerst die katholische Kirche gegen andersgläubige Christen aufgestellt und von dem sie zuweilen die schändlichste und grausamste Anwendung gemacht hat, wie die Verbrennung von Huß und Hieronymus beweist, welchen sogar die kaiserliche Majestät sicheres Geleit versprochen hatte — dieser abscheuliche Grundsatz, sage ich, wurde nun auch von vielen sowohl katholischen als nichtkatholischen Christen gegen die Juden als Erzketzer, ja Ungläubige, angewandt. Und doch glaubten sie an Moses und die Propheten, betrachteten also wie die Christen das alte Testament als eine Quelle ihres Glaubens. Die hauptsächlichste Differenz zwischen beiden bestand aber eigentlich nur darin, ob gewisse Weissagungen des alten Testaments, die man messianische nennt, bereits in Erfüllung gegangen seien oder nicht. Da jedoch die Christen selbst über die Auslegung dieser Weissagungen nicht einig sind, indem es viele christliche Theologen von großer Gelehrsamkeit, und unbescholtenem Wandel gegeben hat und noch gibt, welche diese Weissagungen ganz anders als die Kirche auslegen: so war es gewiss eine große Ungerechtigkeit, um jener Differenz willen die Juden so zu behandeln, als wären sie weder Menschen noch Bürger. Und die Politik, die solche Ungerechtigkeit nicht nur duldete, sondern sogar billigte und daran teilnahm, war eben so gewiss eine falsche.

Wie nun in der Welt überall das Wiedervergeltungsrecht gilt, welches die Völker auch das Repressalien- oder Retorsionsrecht nennen: so machten natürlich auch die Juden gegen die Christen von diesem Rechte Gebrauch. Und da sie es den Christen in der Gewalttätigkeit nicht gleich tun konnten, weil sie bei weitem weniger und schwächer waren: so suchten sie es den Christen wenigstens im Betruge gleich zu tun, ja sie darin zu überbieten, um das zu ersetzen, was ihnen an Starke abging. Man darf sich also gar nicht wundern, wenn auch die Juden den Grundsatz annahmen, dass sie den Christen als Anders- oder Irrgläubigen nicht Treue und Glauben schuldig waren, und wenn sie diesen Grundsatz als eine politische Maxime im Verkehre mit den Christen praktisch übten. Wenn in der Menschenwelt ruft immer ein Unrecht das andre, ein Fehler den andern hervor. *)

*) Ich merke hier ein für allemal an, dass, wenn ich im Obigen von Christen und Juden im Allgemeinen spreche, ich dabei nicht Alle ohne Ausnahme meine. Es hat immer und überall viel ehrenvolle Ausnahmen von der Regel gegeben, menschlich gesinnte und ehrlich handelnde Christen und Juden.

Soll nun in dieser ungerechten und fehlerhaften Politik von beiden Seiten ewig beharret werden? Sollen Christen und Juden, ob sie gleich schon beinahe zwei Jahrtausende unter einander wohnen und mit einander verkehren, sich doch immerfort noch als Fremdlinge und Feinde betrachten und eben dadurch einander das Leben erschweren? — Da sei Gott vor! Es muss durchaus anders werden, da es doch einmal nicht möglich ist, alle Juden aus Europa zu vertreiben und nach Palästina zu versetzen, wir Christen also fortwährend vermischt mit ihnen zu leben und zu verkehren genötigt sind.

Zwar hat die Zeit und die mit der Zeit fortschreitende Bildung schon viel in dieser Hinsicht verändert und verbessert. So hart und grausam, wie im Mittelalter, behandelt man heutzutage die Juden nicht mehr im christlichen Europa. Besonders in den Ländern, welche die im 16. Jahrhundert begonnene Kirchenverbesserung durchdrungen hat, ist durch den liberaleren Geist des Protestantismus auch das Los der Juden weit erträglicher geworden. Indessen hat man doch in den meisten christlichen Staaten jener schlechten und falschen Politik gegen die Juden noch nicht förmlich und feierlich entsagt, und die Juden sind daher auch dort meist geblieben, was sie waren. Ebendaher mag es wohl kommen, dass von Zeit zu Zeit die christliche oder vielmehr unchristliche Volkswut gegen die Juden noch immer hervorbricht, selbst in großen und gebildeten Städten, wie Hamburg, Würzburg, Augsburg, München u. a. Es ist also endlich einmal Zeit, dass jene Politik, welche beiden Teilen weder Ehre noch Vorteil bringt, völlig aufgegeben werde.

Wer soll aber den Anfang machen? Wer soll dem anderen entgegenkommen und die Hand zur Aussöhnung bieten?— Offenbar die Christen. Denn abgesehen davon, dass ihnen dies schon ihre Religion zur dringendsten heiligsten Pflicht macht: so ist es auch edler, wenn der wegen der Mehrzahl stärkere Teil dem schwächeren aufhilft, und würdiger, wenn der nach der Mehrzahl gebildetere Teil dem minder gebildeten mit einem guten Beispiele vorangeht.

Was sollen also die christlichen Staaten in dieser Hinsicht tun? — Sie sollen die Juden emanzipieren, d. h. ihnen die Menschen- und Bürgerrechte durch Gesetz und Gebrauch unverkümmert lassen.

Da tritt mir aber gleich die Politik wieder entgegen, meinend, das gehe nicht an. Denn die Juden seien noch nicht reif dazu, und es würde auch viel Unheil daraus entstehen. Das ist nun freilich im Grunde nichts anders, als eine Wiederholung des alten Liedes, die gerade so viel beweist, als wenn man gesagt hat, die Spanier und die Portugiesen seien noch nicht reif zu einer liberalen Konstitution, und es würde viel Unheil bringen, wenn ihnen ihre Regierungen eine solche Verfassung geben wollten. Dergleichen Scheingründe beweisen immer zu viel und darum nach der Logik nichts. Da es indessen gut ist, auch bloße Scheingründe genauer zu erwägen und zu prüfen, damit jeder Ausrede vorgebeugt werde: so wollen wir die Mühe nicht scheuen, uns auch hierauf im folgenden Abschnitt einzulassen.