Die Politik der Christen und die Politik der Juden im mehr als tausendjährigen Kampfe

Ein Nachtrag zum Porträt von Europa, gezeichnet von einem alten Staatsmann außer Diensten
Autor: Krug, Johann Leopold (1770-1843) deutscher Theologe, Professor, Nationalökonom und Statistiker, Erscheinungsjahr: 1832
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Bürgerecht, Judentum, Glaubensgenossen, Christen, Judenverfolgung, Gleichberechtigung, Glaubensfreiheit, Gleichstellung, Religionsgemeinschaft, Antisemitismus, Jüdische Geschichte, Vorurteile, Religion, Menschenrechte, Freiheit, Emanzipation, Gleichstellung
Aus der Vorrede des Herausgebers

Das vorliegende Schrift aus derselben Feder geflossen, welche das von mir unlängst herausgegebene Porträt von Europa zeichnete, würden die geneigten Leser an der ganzen Darstellungsweise schon von selbst erkennen, wenn ich es auch nicht ausdrücklich versicherte. Mit einer früher von mir verfassten und bekanntgemachten Schrift: „Über die Emanzipation der Juden“, hat zwar die vorliegende gleichen Hauptzweck, nämlich, dem mehr als tausendjährigen Kampfe zwischen Christen und Juden ein Ende zu machen. Aber in der Art und Weise der Verfolgung dieses Zwecks sind beide wesentlich verschieden. Die frühere Schrift ging vom moralisch-religiosen Standpunkte aus und suche die Vorurteile zu beseitigen, welche jenen unseligen Kampf erregt und so lange genährt haben. Die gegenwärtige aber geht vom politischen Standpunkte aus und will daher nachweisen, dass und wie die Sache ausführbar sei, wenn die Regierungen der christlichen Staaten in Europa nur die rechten Mittel brauchen. Möge der alte Staatsmann außer Diensten nicht umsonst gesprochen haben!

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Einleitung

Als ich vor einiger Zeit Europa durchflog, um es in historisch-politischer Hinsicht zu porträtieren: bemerkte ich mitten unter den großen europäischen Völkern ein kleines Völkchen von fremdartigem Ansehen. Ich nahm es aber nicht in jenes Gemälde mit auf, weil ich in dasselbe nur diejenigen Völker einzeichnen wollte, die sich als selbständige Körper meinen Blicken darstellten, mithin bereits in die große Familie der europäischen Staaten aufgenommen waren. Dieses Völkchen hingegen zeigte sich mir nur zerstreut, hier in dichteren, dort in dünneren Haufen, an manchen Orten auch ganz vereinzelt, und zugleich fast überall so gedrückt, dass bei weitem die meisten Individuen desselben nicht einmal als wirkliche Staatsbürger gelten, sondern nur als eingewanderte Fremdlinge bald mit mehr bald mit weniger Beschränkung geduldet werden. Die geneigten Leser werden also wohl merken, dass ich von jenen Bekennern des mosaischen Glaubens rede, die man auch Hebräer oder Israeliten oder noch gewöhnlicher Juden nennt.

Wiewohl nun dem letzten Namen in den Augen der Ungebildeten eine gewisse Makel anzuhängen scheint: so will ich ihn dennoch als den gewöhnlicheren und kürzeren brauchen, indem ich zu Gott hoffe, dass er diesen Namen, wie das Volk selbst, das ihn trägt, wieder zu Ehren bringen werde. Meine Hoffnung aber gründet sich vornehmlich auf einen Umstand, der mir sehr merkwürdig scheint, weil er beweist, dass die Stimmung der Christen in Bezug auf die Juden in Europa sich schon sehr zu Gunsten dieses Volkes verbessert hat. Es lässt sich daher mit Recht erwarten, dass auch die Politik, welche bisher die Christen gegen die Juden und, als natürliche Folge davon, hinwiederum die Juden gegen die Christen beobachtet haben, sich verbessern werde. Eben darum halte ich es aber auch für nötig, das von mir unlängst gezeichnete Porträt von Europa dadurch zu vervollständigen, dass ich nachträglich noch die Juden, als ein über ganz Europa zerstreutes Volk, darin aufnehme; und zwar einzig-in politischer Hinsicht, weil ich, wie meine lieben Leser schon wissen, ein alter Staatsmann bin, der, obwohl außer Diensten, doch das Politisieren nicht lassen kann.

Der merkwürdige Umstand nun, auf welchen ich so eben hindeutete, ist folgender. Wenn sonst jemand aus reiner Menschenliebe für die Juden sprach: so hielt man das gleich für einen Verrat am Christentum, ungeachtet gerade das Christentum vorzugsweise diejenige Religion ist, welche alle Menschen als Brüder, als Kinder eines und desselben Vaters, zu lieben gebietet. Judenfreund und Christenfeind waren daher beinahe gleichgeltende Ausdrücke. Eben darum betrachtete man die Verschiedenheit der beiderseitigen Religionen entweder als den einzigen oder doch als den Hauptgrund, um dessen willen die Juden nicht emanzipiert d. h. den Christen bürgerlich gleich gestellt werden könnten.

Jetzt stehen die Sachen anders. Man hält das Sprechen für die Juden nicht mehr für einen Verrat am Christentum. Man erklärt den Judenfreund nicht mehr für einen Christenfeind. Man betrachtet die bloße Religions-Verschiedenheit entweder gar nicht mehr oder doch nicht hauptsächlich als einen Grund gegen die Emanzipation der Juden. Ja viele schämen sich sogar, diesen Grund noch anzuführen, weil dessen Grundlosigkeit so gründlich von Juden und Nichtjuden dargetan worden, dass man fürchtet, in den Verdacht der Superstition, des Fanatismus und der Intoleranz zu fallen, wenn man diesen Grund noch geltend machen wollte.

Dadurch ist aber schon unendlich viel gewonnen. Denn die Streitfrage ist nun nicht mehr so verwickelt, weil sie das Gepräge einer theologischen Kontroverse ganz verloren und sich in eine rein politische verwandelt hat. Um sie also gründlich zu entscheiden, darf man nur die gegenseitige Politik der Christen und der Juden mit einander vergleichen, und zusehen, wie eine die andre notwendig erzeugt und was der daraus entsprungene Kampf zwischen Christen und Juden für Folgen in gesellschaftlicher und bürgerlicher Hinsicht gehabt hat.

Börne, Carl Ludwig (1786-1837) deutscher Schriftsteller, Journalist, Publizist, Literatur- und Theaterkritiker

Börne, Carl Ludwig (1786-1837) deutscher Schriftsteller, Journalist, Publizist, Literatur- und Theaterkritiker

Riesser, Gabriel Dr. (1806-1863) Rechtsanwalt, Notar, Politiker, Journalist, Publizist, ab 1859 erster jüdischer Richter in Deutschland

Riesser, Gabriel Dr. (1806-1863) Rechtsanwalt, Notar, Politiker, Journalist, Publizist, ab 1859 erster jüdischer Richter in Deutschland