Die Politik. Was sie ist? Was sie war? Und was sie werden soll? - Was ist Politik?

Aus: Ideen über das politische Gleichgewicht von Europa mit besonderer Rücksicht auf die jetzigen Zeitverhältnisse.
Autor: Butte, Wilhelm (1772-1833) Lehrer, Prinzenerzieher, Pfarrer und Professor für Statistik und Staatswissenschaften, königlich preußischer Regierungsrat, Erscheinungsjahr: 1814
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Europa, Staaten, Staatengemeinschaft, Politik, Politiker, Macht, Recht, Kultur, Idee, Verstand, Gemüt, Staatszweck, Individuum, Vernunft, Gerechtigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Humanität, Bildung, Bürger, Volk, Wissenschaft, Volksbildung, Selbständigkeit, Widersprüche, Theorie und Praxis, Unrecht, Selbstbestimmung, Unglück, Revolution, Verträge, Konstitution, Staatengemeinschaft, Zeitgeist,
Unter Politik verstehe ich als Theorie die Wissenschaft, als Praxis die Kunst der möglichst vollkommensten Erreichung des Staatszwecks.

Diese an sich leicht verständliche Definition führt gleichwohl auf die so lange her streitige Frage über das, was Staatszweck sei?

Der Zweck des Staats — oder, wenn man will, die Idee, welche durch das Zusammentreten, durch das Herrschen und Gehorchen im Staate realisiert werden soll — liegt in dem, was das deutsche Wort Selbstständigkeit, unvollkommener zwar, als einige griechische Wörter, die sich besonders in den politischen Schriften von Platon und Aristoteles finden, dennoch der Sache so ziemlich nahe kommend, ausdrückt.

Selbstständigkeit, in dem Sinne, in welchem sie die Idee und der einzig wahre, dann allgemeine, sich folglich alle einzelnen und besonderen Zwecke unbedingt unterwerfende Zweck des Staats ist, gerade sie ist das, was Vielen dunkel vorschwebt, wenn sie den Staatszweck mit dem freilich viel zu unbestimmten, und darum tausend Missverständnissen Raum gebenden Namen des allgemeinen Wohls (salus publica) bezeichnen. Allgemeines Wohl ist der generelle Zweck einer jeden Gesellschaft; der spezielle Zweck einer jeden ist aber verschieden, wie die Naturen der verschiedenen Gesellschaften selbst. Wenn man nach dem Zweck einer derselben fragt, so will man nicht jenen allgemeinen wissen, der sich von selbst versteht, sondern diesen, der eine Gesellschaft gegen die andere charakterisiert, und die Mittel vorschreibt, die zur Erreichung eines solchen Zwecks angewendet werden müssen *).

*) Das allgemeine Wohl einer Handelsgesellschaft ist z. B. Gewinn an Geld und Geldeswert; in den Gesellschaften des täglichen Lebens macht Unterhaltung, in der gelehrten Gesellschaft Erweiterung und Vertiefung der Wissenschaften das allgemeine Wohl aus, so zwar, dass die erste der genannten Arten von Gesellschaften durch Verlust, die zweite durch das Eintreten von Langeweile, die dritte durch Stillstand und Rückgang im Wissenswerten ihren speziellen Zweck, also denjenigen verfehlt, um dessen willen sie errichtet wurde. Das allgemeine Wohl jener Gesellschaft, die alle übrigen herrschenden und schützend umfasst, ist Erhöhung der Selbstständigkeit.

In dem wahren Begriff der hier gemeinten Selbstständigkeit treffen folgende drei Hauptmerkmale zusammen: Macht, Recht und Kultur; sie sind im großen Ganzen des Staats eben das, was physische Kraft, Verstand und Gemüt in dem Individuum sind, und in so fern hatten Jene recht, welche den Staat den vergrößerten Menschen nannten. Wie aber das Individuum in dem Grade eine mehr oder weniger vollkommene Darstellung der Ideen des Menschen ist, in welchem vorteilhafte physische Verhältnisse, Verstand und Gemüt in ihm vollkommen und harmonisch zusammentreffen; eben so ist die Idee des Staats als ausgedrückt, der Staatszweck als erreicht anzusehen in dem Grade, in welchem Macht, Recht und Kultur in ihm zusammentreffen, von ihm gefördert werden.
Verfolgt man die angezeigte Spur etwas weiter, so entdeckt man bald, dass der Staatszweck als erreicht anzusehen ist in dem Grade:

a) In welchem ein Staat nach Außen unabhängig und für extreme Fälle drohend, nach Innen aber stark genug ist, jeden Widerstand gegen den höchsten vernünftigen Willen schlechthin vergeblich zu machen.

b) In welchem das persönliche und dingliche Eigentum der einzelnen Bürger, der Gesamtheiten und des Staats als solches gegen die Zerstörungen willenloser Naturkräfte, sodann gegen mutwillige, bösliche und gesetzwidrige Eingriffe aller Art gesichert ist.

c) In welchem für alle in dem Volke liegenden Kräfte Gelegenheit und Aufmunterung vorhanden sind, sich harmonisch zu entwickeln und die himmlische Blüte der Humanität zu entfalten. Artistische, intellektuelle, ästhetische, moralische, religiöse Bildung, das alles, was schön, wahr und gut ist, was Lebensgenuss und Lebensleichtigkeit fördert, nimmt Teil an der Blüte der Humanität, berührt von einer Seite den Staatszweck, und fällt also in das Gebiet der Politik. Es fällt dasselbe aber in dieses Gebiet, nicht, um darin zu verheeren, sondern vielmehr, um darin den festen, durch Gesetz und kräftiges Zusammenwirken Aller gesicherten Boden zu gewinnen, von welchem aus es sich freudig erheben, und unter dem Stempel eines sich selbst bestimmenden, seinen Nationalcharakter aussprechenden Volks verbreiten könne über alle Zweige des Privatlebens und über das Ganze der Menschheit.

Die echte Kunst des Politikers, an welcher Wissenschaft und Genie gleichen Anteil haben, bewährt sich besonders in der Art, auf welche er in seines Staates individueller Lage die passendsten und sichersten Mittel zur Erreichung des obgedachten einzig wahren Staatszwecks aufzufinden und geschickt anzuwenden weiß.

In wie fern der Staat als Ganzes in steter Wechselwirkung begriffen ist mit den Teilen, die dieses Ganze bilden, in so fern gibt es eine Politik des Innern; in wie fern der Staat gesetzt ist unter andere Staaten, die ihm koexistieren, in so fern gibt es eine Politik der äußern Verhältnisse. Wir finden also zwei große Hauptrichtungen der politischen Tätigkeit, der Weisheit und Kunst, die diese Tätigkeit lenken soll. Dass man sich aber ja hüte, innere und äußere Politik als im Prinzip verschieden zu denken, wie doch so Viele zu tun pflegen, dass man sich vielmehr immer recht deutlich denke, wie ihre Verschiedenheiten bloße Modifikationen der Erscheinung Eines Geistes unter äußerlich verschiedenen Verhältnissen sein müssen. Wahre Politik umfasst das Ganze des Staats in allen seinen Verzweigungen und Beziehungen, und so wie sie sich hütet, die Macht auf Kosten des Rechts und der Kultur, oder diese auf Kosten der Macht, als der Basis der Selbstständigkeit, auszubilden; eben so hütet sie sich, es zu jener Entzweiung kommen zu lassen, wo äußere und innere Politik mir einander im Widerspruch stünden.

Der Umstand, dass der Staat, gestützt auf seine im Dienste des Staatszwecks stehende Macht, keine zweite und dritte Macht im Inneren anzuerkennen, nicht einmal zu dulden hat, während er in seinen äußeren Verhältnissen als Macht durch andere Mächte beschränkt erscheint; dieser Umstand bringt unter allen Modifikationen, wodurch sich innere und äußere Politik unterscheiden, die auffallendste hervor. Die fortschreitende, sich innerhalb der konstitutionellen, dadurch legalen Formen äußernde Einsicht in das was der Staatszweck erheischt, ist höchstes Gesetz im Inneren; im Äußeren sind dagegen alle Forderungen zu beschranken durch die Anerkennung der allen Staaten gleichen Notwendigkeit das Erreichung des Staatszwecks. Was die innere Politik durch Gesetzgebungskunst zu erreichen sucht, das muss die äußere zu erreichen suchen durch Unterhandlungskunst; was im Inneren die Konstitution ist, eben das ist im Äußeren die Heilighaltung der Verträge.

Zwei herrschenden Ansichten muss ich bei dieser Gelegenheit die meinige entgegensetzen. Kein Staat, heißt es oft, hat sich um die inneren Angelegenheiten eines dritten zu bekümmern; sodann, frei abgeschlossene Verträge müssen unbedingt heilig gehalten werden. So die Theorie, während die Praxis häufiger gegen beide Sätze anstößt. Mir erregt es allemal Verdacht, wenn ich Theorie und Praxis in häufigem und lautem Widerspruch finde.

Nach meiner Ansicht ist es ganz falsch, was besonders unlängst von vielen deutschen Schriftstellern über die französische Revolution behauptet wurde, dass nämlich jeder Staat in seinem Innern treiben dürfe, was immer ihm beliebe, ohne dass die Nachbarn sich einzumischen berechtigt seien. Ein Staat hat nur Rechte unter den Staaten nach eben dem höchsten Gesetz, nach welchem der Mensch Rechte hat unter den Menschen; beide verlieren das heilige Recht der Selbstbestimmung, das allgemeinste und wichtigste von allen, wenn ihr Benehmen auf unzweideutige Art der Vernunft, also dem Titel Hohn spricht, den man in ihnen zu respektieren hat. Die Frage: wer soll entscheiden, ob die Regierung eines Staats der Vernunft Hohn spreche? ist kurz und definitiv die: „die Vernunft und Einsicht der Staaten, die jedem einzelnen in Mehrheit koexistieren. Eben dadurch ist eine Mehrheit koexistierender Staaten als notwendig dargetan. Alles Unglück, welches von Frankreich aus über Europa kam, wäre ein verdientes Unglück gewesen, wenn die europäischen Mächte sich unter den bekannten, der Vernunft Hohn sprechenden Äußerungen der Revolutionsregierung in Frankreichs innere Angelegenheiten nicht gemischt hätten. Die Vorwürfe, die man den übrigen Mächten bei dieser Gelegenheit machen darf, lassen sich zunächst darauf zurückführen, dass ihre Einmischung nicht einträchtig, nicht rasch und ausdauernd genug durchgesetzt wurde.

Was die Vertrage betrifft, welche die Staaten unter sich abschließen, so ist deren Heilighaltung bis auf einen gewissen Punkt, von eben der Wichtigkeit, welche man im Inneren der Heilighaltung konstitutioneller Formen anerkennen muss. Ein Staat, der mit Verträgen und Konstitutionen spielt, verliert notwendig das ganze Vertrauen seiner Bürger und seiner Mitstaaten, und verbreitet nach allen Richtungen hin jenen martervollen Zustand, wo auf nichts mehr gerechnet werden kann, und wo man immer, so zu sagen, unter dem Gewehr stehen muss. So wenig aber die Konstitution der Staaten schlechthin unabänderlich sein kann und soll, und so gut als sie den Wechseln unterworfen ist, welche durch den so veränderten Zeitgeist eintreten, dass dessen Veränderung nicht mehr erlauben wird, unter Beibehaltung der alten Konstitution den Staatszweck zu erreichen, eben so kann und soll kein zwischen Staaten bestehender Vertrag auf eine Dauer Anspruch haben jenseits der Grenze der möglichen Erreichung des Staatszwecks. Wenn also z. B. ein erobernder Staat seinen Mitstaaten in bester Form abgeschlossenen Verträge aufdringt, die nicht länger gehalten werden könnten, ohne dass diese Staaten in ihrem Machtcharakter vernichtet, in der freien Ausübung des Rechts gehemmt, und unfähig gemacht würden, ihren Bürgern die Vorteile der Kultur zu sichern, so sind dergleichen Verträge in die Kategorie solcher Eide zu setzen, die man nicht halten könnte, ohne den Fehler, einen solchen Eid geleistet zu haben, durch ein Verbrechen zu vermehren. Mehrere Verträge unserer Zeit, über deren Verletzung das französische Gouvernement klagt, müssen aus dem hier angezeigten Gesichtspunkte gewürdigt werden, und wenn man von einer Seite bedauert, dass es auf solche Weise nie etwas ganz Festes und Ewiges unter den Menschen geben könne, so soll man von der andern nicht vergessen, dass die Menschheit kein größeres Unglück treffen könnte, als das, wo Konstitutionen und Verträge, diese Menschenwerke, über die Aussprüche der Vernunft und ihre Forderungen unabänderlich zu herrschen vermöchten. Die letzte Schiedsrichterin in allem ist die ewige Vernunft; das Verzweifeln an ihr wäre gleich dem Verzweifeln an der Menschheit!

Voltair (1694-1778) französischer Schriftsteller und Philosoph

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Wiggers, Moritz Carl Georg (1816-1894) deutscher (Rostocker) Jurist, Politiker und Publizist

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Kaiser Wilhelm II.

Kaiser Wilhelm II.

Schlözer, August Ludwig von (1735-1809) deutscher Historiker, Staatsrechtler, Schriftsteller, Publizist, Philologe, Pädagoge und Statistiker

Schlözer, August Ludwig von (1735-1809) deutscher Historiker, Staatsrechtler, Schriftsteller, Publizist, Philologe, Pädagoge und Statistiker

Récamier, Joseph Claude Anthelm Dr. (1774-1852) französischer Professor, Gynäkologe

Récamier, Joseph Claude Anthelm Dr. (1774-1852) französischer Professor, Gynäkologe

Räß, Andreas Dr. (1794-1887) deutscher kath. Theologe und Philosoph, Schriftsteller, Übersetzer, Bischof von Straßburg

Räß, Andreas Dr. (1794-1887) deutscher kath. Theologe und Philosoph, Schriftsteller, Übersetzer, Bischof von Straßburg

Niebuhr, Barthold Georg (1776-1831) Diplomat, Prof. bedeutender Althistoriker

Niebuhr, Barthold Georg (1776-1831) Diplomat, Prof. bedeutender Althistoriker