Die Philologie im Allgemeinen und ihr Verhältnis zur Gegenwart

Aus: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Herausgegeben von Robert Prutz. 1ter Jahrgang 1851. Januar-Juni.
Autor: Boeckh, August (1785-1867) deutscher klassischer Philologe und Altertumsforscher, Erscheinungsjahr: 1851
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Philologie, Philologen, Altertum, Bildung, Antike, Weltgeschichte, Poesie, Menschengeschlecht, Bildungsmittel, Glaubenseifer, Mittelalter, Christentum, Volksleben, Volksbildung, Wissenschaft
Rede zur Eröffnung der elften Versammlung deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten, gehalten am 30. September 1850 zu Berlin.

Hochzuverehrende Herren! Drei Jahre sind nunmehr verflossen, seitdem unfern der Grenze der germanischen Bildung und jenseits der Grenzen des deutschen Staatenverbandes, aber in einer Stadt, welcher die deutsche Volksbildung und die mit ihr innig verbundene deutsche Wissenschaft, insbesondere die deutsche Philologie, Vieles und Großes verdankt, zu Basel, von unserer Gesellschaft beschlossen worden, sie wolle im nächsten Jahre hier zu Berlin tagen. Wenn Basels Ansprüche, außer der eifrigen Pflege unserer Studien in der Gegenwart, auf eine glorreiche Vergangenheit bis zurück zu den Vorfahren in den Zeiten der Wiederherstellung der Wissenschaften, ja sogar durch seinen römischen Ursprung gegründet waren: so ist Berlin dagegen eine verhältnismäßig neue Schöpfung, kann sich nicht rühmen in der Zeit des Wiedererstehens regerer wissenschaftlicher Tätigkeit, wie Basel durch einen Verein seltener Talente und durch ausgedehnten Betrieb der damals noch jungen Buchdruckerkunst mächtig und heilsam auf die allgemeine Bildung und besonders auf die Studien des Altertums eingewirkt zu haben: aber heutzutage zumal, wo sich das Neue gegen das Alte vorzüglich geltend macht, dürfen wir die jüngere Blüte der Wissenschaft unserer Stadt ohne Bedenken gegen das Gewicht der Ahnen in die Waagschale legen. Wenn es jedoch bedenklich scheinen konnte, diese Versammlung in das Gewühl einer großen Hauptstadt zu berufen, in welchem das gemütliche Zusammensein wo nicht unmöglich, doch vielfacher Störung unterworfen sein möchte: so sind wir Ihnen Dank schuldig, dass Sie dieses Bedenken überwunden haben, welches sich mir freilich weniger bedeutend als Manchen darstellt, da es ja lediglich an uns liegt, ob wir uns stören und zerstreuen lassen wollen oder nicht.

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Leider ist der zu Basel gefasste Beschluss durch die Ungunst der Zeitläufte, durch verhängnisvolle Stürme, die sich ungeachtet aller Vorzeichen und Ahnungen doch nicht in ihrem ganzen Umfange hatten voraussehen lassen, für die nächsten Jahre vernichtet worden. Bereits waren die erforderlichen Einleitungen zu dem Empfange der Versammlung gegen Ende Septembers des Jahres 1848 getroffen, als die Märzbegebenheiten die mit der Leitung der Angelegenheit betrauten Männer erkennen ließen, dass die Zusammenkunft des Vereines in Berlin zu dem gedachten Zeitpunkte unmöglich sein würde; das Jahr 1849 brachte neue Zerwürfnisse, weniger im Innern dieses Landes als in dem gemeinsamen deutschen Vaterlande, und wir folgten nur den von außen her uns vielfach zugekommenen Wünschen, wenn wir auch für das zuletzt genannte Jahr die Versammlung aussetzten und sie mit Hoffnung auf bessere Zeiten einstweilen vertagten. Nicht ohne tiefen Schmerz muss ich es aussprechen, dass auch im laufenden Jahre die deutschen Verhältnisse sich keineswegs so gestaltet haben, wie es nach meinem Gefühl und meiner Einsicht eine Versammlung deutscher Gelehrten wünschen musste, die wesentlich in dem Bewusstsein der Einheit des deutschen Volksgeistes wie der deutschen Wissenschaft und Gelehrsamkeit wurzelt, von dieser Einheit getragen wird, und eben diese mit den übrigen wissenschaftlichen Männern an ihrer Stelle und auf ihrem Gebiete, das heißt ohne alle politische Beziehung, längst verwirklicht hat: denn in der deutschen Wissenschaft ist das geistige Band und die innere Einheit des Volkes längst gegeben und jede Sonderbestrebung aufgehoben gewesen, ja in sie hat sich der deutsche Geist hineinflüchten, in dieses sichere und unverletzliche Asyl sich zurückziehen und in ihm verbergen müssen, als äußere Macht ihm den Untergang geschworen hatte. Ist aber auch unseren Hoffnungen nicht diejenige Erfüllung zu Teil geworden, die einen Ersatz für die Leiden der Vergangenheit hätte gewähren können, und wird dadurch die Begeisterung etwas gedämpft, mit welcher wir Sie unter günstigeren Verhältnissen empfangen zu können gehofft hatten, so ist doch die Ruhe wieder eingetreten, welche die erste Voraussetzung für das Dasein und zumal für das gesellige Wirken eines wissenschaftlichen Vereines ist: hiermit war der Grund weggefallen, welcher der früheren Berufung der verehrten Versammlung in diese Hauptstadt entgegenstand, und die Königliche Regierung hat mit der größten Bereitwilligkeit und Teilnahme, in Übereinstimmung mit der allgemein anerkannten Liebe Seiner Majestät des Königs zu den Wissenschaften, die erforderliche Unterstützung uns angedeihen lassen. Willkommen also in diesen Mauern, verehrte Genossen unserer Gesellschaft! Empfangen Sie den herzlichsten Dank für das Vertrauen, welches Sie mir und den übrigen Mitgliedern des Vorstandes durch ihre Wahl bewiesen haben, die soweit es in unseren Kräften steht, zu rechtfertigen unser innigster Wunsch ist und unser eifriges Bestreben sein wird. Unbeirrt von den Wirren der Zeit wollen wir freudig unser Werk beginnen, dessen nächster Zweck erreicht werden wird, wenn auch diese Versammlung, wie frühere, dazu beiträgt, das Band der Gemeinsamkeit durch Besprechung der allgemeinen Verhältnisse unserer Wissenschaft und des Unterrichtes und durch Verhandlung besonderer Gegenstände enger zu knüpfen. Diese Gemeinsamkeit beruht, wie schon der Name des Vereines lehrt, in einem Doppelten: dass wir Philologen und dass wir Deutsche sind. Wenn ich das letztere nur ausspreche und nicht dabei verweile, weil ich unbeschadet unserer innigen Teilnahme an den Geschicken des Vaterlandes jede politische Beziehung absichtlich fern halte, so sei es erlaubt, der andern Seite dieser Gemeinsamkeit einige Worte zu widmen, ohne allen rednerischen Schmuck oder Pomp, der, obwohl der Panegyris recht eigentlich zukommend, doch zur Eröffnung dieser wissenschaftlichen Festversammlung und für meinen Gegenstand wenig geeignet ist.

Unsere Gesellschaft nennt sich „Verein Deutscher Philologen, Schulmänner und Orientalisten.“ Ist diese Verbindung eine wohlüberlegte, so müssen wir, da die Schulmänner das zweite Glied dieser Trias bilden, dabei voraussetzen, dass die Richtung der letzteren vorzüglich die philologische sei, und es beruht also diese Zusammenfassung, die in früheren Jahrhunderten Niemand hätte anfechten können, auf einer nicht mehr ganz vollgültigen Grundlage: aber wenn auch Schulmänner, deren Fach dem Philologischen entfremdet ist, nach Wort und Sinn der ursprünglichen Stiftung, unserer Verbindung angehören sollen, so hat sich doch tatsächlich und nach der Natur der Sache das Verhältnis so gestaltet, dass Schulmänner, welche sich ausschließlich etwa mit der Mathematik und den Naturwissenschaften ohne alle Verbindung mit philologischen Studien beschäftigen, nicht leicht sich uns zugesellen oder tätig unter uns auftreten; vielmehr ist der eigentliche Vereinigungspunkt dieser Gesellschaft die klassische und orientalische Philologie geworden, und zwar sowohl deren wissenschaftlicher oder theoretischer Betrieb, als die praktische Anwendung des Philologischen für den Unterricht, und die dahin einschlagende Methodik. Diese, zusammen mit der alles in sich begreifenden Philosophie, mit der Philologie des Mittelalters und der neueren europäischen Völker, sowie mit dem von der Philologie kaum trennbaren Geschichtsstudium, endlich mit der Mathematik und den Naturwissenschaften, umfassen das ganze Gebiet des wissenschaftlichen Erkennens, und die sogenannten Fakultätswissenschaften, Theologie, Rechtsgelehrsamkeit und Medizin sind in Wahrheit nur Anwendungen derselben in mannigfacher Zusammensetzung. Sicherlich ist die Philosophie mit gutem Vorbedacht bei der Bildung des Vereines in ihn nicht hineingezogen worden; die mittelalterliche und moderne Philologie nebst der Geschichte sind zwar nicht bestimmt ausgeschlossen, vielmehr die letztere, wenigstens in Bezug auf die Schulmänner, ausdrücklich zugelassen: aber abgesehen von dieser praktischen Anwendung des Geschichtsstudiums als Zweiges des Unterrichts, sollen die Geschichtsforscher und Geschichtsschreiber, inwiefern sie nicht alte Geschichte behandeln, gewiss nicht als Mitglieder des Vereines betrachtet werden; und da der mittelalterlichen und modernen Philologie in dem Statut nicht besonders gedacht ist, kann es mindestens zweifelhaft scheinen, ob ihre Aufnahme in unfern Kreis beabsichtigt war, indem man unter Philologie meistens nur das klassische Altertumsstudium versteht. Man urteile indes hierüber und über die Richtigkeit dieser Absonderungen wie man wolle, so kommt es obwohl für die Wissenschaft, doch wahrlich nicht für die Bildung eines solchen Vereines auf ganz begriffsmäßige Scheidungen und Verbindungen an, sondern darauf, welche Massen sich in der Wirklichkeit angezogen und geschichtlich gebildet haben, was eben auch nicht rein zufällig, sondern aus Ursachen entstanden sein wird, die in der Natur der Wissenschaften liegen, und dieselben Ursachen haben unstreitig die Abgrenzung erzeugt, welche der Verein sich teils von Anbeginn gegeben, teils in seiner Entwicklung angenommen hat. Wenn nun auch innerhalb dieser Grenzen noch ein doppelter Gegensatz liegt, der eine des Morgenländischen und des Klassischen, der andere des Wissenschaftlichen oder Theoretischen und des Methodischen oder Praktischen: so ist zwar zuzugeben, dass dieser zur Bildung besonderer Abteilungen berechtigt, wie sie auch bereits vorhanden sind; aber die Verwandtschaft jener gegensätzlichen Glieder ist so groß, dass es zu bedauern sein würde, wenn sie einander nicht vielmehr anzögen als abstießen, und wenn nicht, wie alle Harmonie aus der Verbindung des Verschiedenen entsteht, diese Gegensätze in einer höheren Einheit aufgehoben würden. Der eine dieser Gegensätze, ich meine den des Theoretischen und Praktischen, verschwindet bei näherer Betrachtung sogar ganz. Obgleich nämlich die theoretische Philologie im Schulunterrichte zu einer bestimmten Anwendung kommt, indem sie den Schülern eine allgemeine Bildung gewähren soll, so ist doch hier der Unterschied des Wissenschaftlichen und seines praktischen Gebrauches ganz anderer Art als auf den Gebieten, in welchen das theoretisch Ermittelte auf die Bedürfnisse des Lebens übertragen wird: denn die Anwendung der Wissenschaften überhaupt und also auch des philologischen Wissens für den Unterricht oder für die allgemeine Bildung besteht eben nur darin, dass die Anfangsgründe des Wissens selbst gelehrt werden, welche, während sie dem Zwecke dienen jene Bildung hervorzubringen, zugleich die Progymnasmen des Wissens selbst sind, sodass die für den Schulunterricht so wichtige Methodik des Lehrens zugleich die Methodik des Erlernens der ersten wissenschaftlichen Gründe selbst, oder die Praxis hier nichts Anderes ist als der Anfang der Theorie, und die Methodik des Unterrichts nichts Anderes als die Methodik des Wissens selbst in seinen ersten Elementen; dagegen ist in der Anwendung bestimmter Wissenschaften auf das Leben außerhalb des Unterrichts die Praxis keineswegs einerlei mit den Anfängen der Theorie, sondern folgt dieser nach. Was wir das Praktische der Philologie genannt haben, ist also eigentlich das Elementarische derselben, und da dieses von dem Übrigen nicht geschieden werden kann, so hebt sich jener Gegensatz völlig auf. Nicht einmal so weit ist er haltbar, dass etwa die ergründende Behandlung der Elemente eine mindere Befähigung erforderte; denn wie schon Quintilian bemerkt, sind selbst die Anfänge der Grammatik, wenn man in ihr Heiligtum eingedrungen ist, nicht bloß den Geist von Knaben zu schärfen, sondern die tiefste Gelehrsamkeit und Wissenschaft (altissimam eruditionem ac scientiam) zu beschäftigen geeignet: die wahre Einsicht in die wissenschaftlichen Gegenstände beruht gerade in der Zurückführung auf die einfachsten Gründe, in der Auflösung des gesamten Stoffes in seine einfachsten Bestandteile, und es ist des größten Meisters nicht unwürdig, sich den ersten Elementen zu widmen, wie umgekehrt nichts nachteiliger ist, als wenn nicht selten Männer, welche der Wissenschaft nicht mächtig sind, mit großer Anmaßung und Überhebung sich zu Reformatoren der Methode aufwerfen. Der andere der Gegensätze, welche ich erwähnt habe, ist der des Morgenländischen und des Klassischen. Die Zeit ist längst vorüber, da sich das Studium der morgenländischen Sprachen und morgenländischen Literatur bloß an unsere heiligen Bücher und also an die Theologie anschloss; allmählich hat sich unserm Blicke der ganze Orient entfaltet: neben den semitischen und anderen unserer Sprachbildung ferner liegenden orientalischen Sprachen haben wir, als dem Klassischen und Germanischen näher verwandt, einen reich gegliederten Sprachstamm kennen gelernt, dessen edelster Zweig das Sanskrit ist, und besonders an letzterem in Verbindung mit den Sprachen des klassischen Altertums und mit unserer Muttersprache hat sich die vergleichende Sprachforschung hervorgebildet. Gleichzeitig sind wir tiefer in das Phönizische eingedrungen, und man hat endlich auch zu den geheimnisvollen Schriftlichen der Ägypter, sowie zu ihrer Sprache, zugleich mit näherer Kenntnis ihrer Kunstdenkmäler, den Schlüssel gefunden, wenn er auch noch nicht immer eben leicht und vollkommen schließt. Wie verschieden auch das Morgenländische und das Klassische sein mag, kann sich bei dem gegenwärtigen Standpunkte der Sprachforschung die Grammatik der klassischen Sprachen nicht mehr der Verbindung mit der vergleichenden Grammatik der indo-germanischen Sprachen entschlagen: schon hierin ist eine Gemeinschaft der morgenländischen Philologie mit der klassischen hinlänglich begründet; und um die Streitfrage bei Seite zu lassen, welchen Einfluss das Morgenland und vorzüglich Ägypten auf die klassischen Völker des Altertums gehabt, muss auf jeden Fall zugegeben werden, dass nicht nur die spätere Geschichte des Morgenlandes, besonders seit der Herrschaft der Perser in den östlichen Küstenländern des Mittelmeeres, mit der Geschichte der klassischen Völker verwebt ist, sondern dass auch wie die Sprachen, so die ältesten Vorstellungen der vorgenannten morgenländischen und der klassischen Völker unbeschadet der streng ausgebildeten hellenischen Eigentümlichkeit vielfache Berührungspunkte haben, am deutlichsten in Religion und Mythologie, und dass die Geschichte der klassischen Kunst, welche wir als einen Teil der Philologie in Anspruch nehmen, von der Kenntnis der morgenländischen Kunstdenkmäler nicht getrennt werden kann: ja, ich möchte behaupten, wie sich die vergleichende Sprachenkunde gebildet hat, ebenso dürfte sich eine vergleichende (Kulturgeschichte des gesamten Altertums mit der Zeit als eine Hauptaufgabe der philologischen Wissenschaft herausstellen. Statt also einen Gegensatz zwischen den morgenländischen und den klassischen Studien setzen zu wollen, mögen wir vielmehr das in unserm Vereine dargestellte Band derselben freudig begrüßen. Jedes dieser beiden Gebiete ist freilich wieder viel umfassend und in sich sehr mannigfaltig, und besonders das Morgenländische zerfällt in viele nach den Volks- und Sprachstämmen gesonderte Zweige, von denen fast jeder der ungeteilten Tätigkeit eines Gelehrten reichlichen Stoff bietet. Auch die klassische Philologie, um bei dieser, die mir zunächst liegt, noch einen Augenblick stehen zu bleiben, begreift, wenn die Philologie, wie ich sie mit den meisten fasse, die historische Konstruktion des gesamten Lebens, also sämtlicher Bildungskreise und Erzeugnisse eines Volkes in seinen praktischen und geistigen Richtungen sein soll, eine Unendlichkeit von Gegenständen, die kein Einzelner alle mit gleicher Tiefe wird ergründen können, wenn er auch den Geist eines Aristoteles oder Leibniz und ihre den meisten von uns fehlende Muße hätte. Aber diese Unendlichkeit, welche die Philologie mit aller Wissenschaft teilt, ist gerade die Bedingung und der kräftigste Sporn des mutigen Strebens nach Erkenntnis, welches erschlaffen und endlich aufhören würde, wenn nicht jenseits jedes erreichten Zieles ein neues entfernteres gesteckt wäre: und was Sokrates vom Eros sagt, er sei ein Philosoph, weil er, ein Sohn des Porös und der Penia, des Wissensreichtums noch nicht teilhaftig sei, sondern nach dem Wissen strebe, leidet auch auf den Philologen seine Anwendung; ja, wie der Philosoph eben von der Liebe zur Weisheit genannt ist und nach der Ansicht Dessen, der dieses Wort erfunden hat, freilich nicht mit voller Übereinstimmung Derer, die alles Wissen fertig gemacht zu haben und vollkommen zu besitzen glauben, die Sophia fort und fort erstreben soll, ohne jemals befriedigt zu sein, so ist auch in dem entsprechenden Namen der Philologie mit feinem Sinne nicht der vollständige Besitz, sondern die Erfindung des Logos in nie versiegender Liebe zu demselben ausgedrückt. So ist unsere Philologie eine unendliche Aufgabe, deren Lösung wir durch Annäherung entgegengehen, und wenn nicht aus anderen Gründen, wird sie schon aus diesem niemals aufhören und untergehen, weil sie niemals erschöpft und geschlossen werden kann. Eben darum kann sie auch nicht in eines Einzelnen Geist in ihrer ganzen Ausdehnung vollendet werden; nach ihrer vollen Bedeutung ist sie nur in der Gesamtheit ihrer Bekenner ideell verwirklicht, in unzähligen Geistern mannigfach verteilt und mehr oder minder vollkommen dargestellt, und doch in allen, die dazu berufen sind, eben dieselbe, wie die Idee der Menschheit in unzähligen Individuen sich wiederholt. Diese Verteilung und Zersplitterung hat unstreitig in unserm Zeitalter sehr überhand genommen, in welchem der gefeierte Grundsatz von der Teilung der Arbeit sich auch in der Wissenschaft in hohem Grade zur Geltung gebracht hat: daher sind eine Menge, ja, wir können sagen eine Flut monographischer Schriften entstanden, welche alle kennen zu lernen schwierig ist, die aber gewiss zur Erweiterung unserer Kenntnisse sehr viel beitragen; und ist von dieser Richtung das Mikrologische nicht ganz fern zu halten, so hat dieses, wenn nur das Größere nicht darüber vernachlässigt wird, eben darin seine Rechtfertigung, dass nichts in der Wissenschaft so klein ist, um ohne Schaden übersehen zu werden, und man darf der Philologie, die nur mit unbewaffnetem Auge des Geistes sehen kann, ihre Mikrologie eben so wenig verargen als der Naturforschung die Mikroskopie, wenn letztere auch Wichtigeres als erstere an das Licht bringt. Dennoch wird bei aller notwendigen Gliederung durch eine zu große Teilung der Arbeit bis in zu kleine Massen hinein unser Wissen gefährdet werden können, weil jede Einzelheit erst in dem Zusammenhange eines größer« Ganzen die richtige Beleuchtung gewinnt, und zur Ergründung jedes Besonderen ein Wissen von sehr vielem Andern erforderlich ist; wie bei der Teilung der mechanischen Arbeit der Teil, welcher jedem Arbeiter zufällt, eine voraus festgesetzte Übereinstimmung mit jedem der anderen Teile hat, wie zum Beispiel bei den Ägyptern die einzelnen Glieder größerer Bildwerke, obwohl von verschiedenen Personen, doch nach einem gegebenen Kanon gefertigt wurden, so muss der monographische Arbeiter zwar nicht nach einem ihm von außen gegebenen Gesetz, was nur für die mechanische Arbeit dienen kann, wohl aber nach der ihm selber einwohnenden Idee des Ganzen Hinblicken und dieses niemals aus den Augen verlieren. Dass aber diese Idee lebendig erhalten werde, dazu möchte es vorzüglich dienlich sein, wenn je nachdem jedesmaligen Fortschritt der Wissenschaft Einer und der Andere mit philosophischem Geiste das Ganze oder große Teile desselben konstruieren und dadurch zeigen wird, wie alles Einzelne darin notwendig sei; nur nicht ohne dass er sich vorher selber im Einzelnen erprobt und bewährt habe, da er sonst Gefahr läuft, leere Fächer und Schematismen statt lebensvoller Gestalten hinzustellen. Wird jene organische Einheit aller Teile lebendig erkannt, so verschwinden denn auch von selber die feindseligen Bekämpfungen der verschiedenen Richtungen auf dem Gebiete der klassischen Philologie, wie der grammatischen, der sogenannten sachlichen, der kunstarchäologischen und dergleichen, weil alle diese als gleichberechtigt und für die Philologie als gleich sachliche erscheinen.
Obgleich nun wir zusammen eine enge Gemeinschaft des wissenschaftlichen Lebens bilden, so kann uns doch nicht einkommen, uns von der übrigen Wissenschaft abzuschließen oder auszusondern. Der innige Zusammenhang aller Zweige des Erkennens und der gemeinsame Vorteil, der für jede Verbindung, sie sei politischer oder anderer Art, die sicherste Gewährleistung der Eintracht ist, legt allen wissenschaftlichen Männern die Pflicht auf, sich als Glieder der großen und Einen Gelehrtenrepublik zu fühlen, in welcher die besonderen Vereine sich nur wie die einzelnen Staaten eines Völkerbundes verhalten. Will man auch den philologischen Übermut, welcher unser Wissen oft über alles andere erhoben, welcher der Philologie in einer ihrer Haupttätigkeiten, in der Kritik, sogar eine besondere Göttlichkeit durch den doch sehr selten bewährten Ehrentitel „diva critica“ beigelegt hat, will man diesen, sage ich, auch der Begeisterung eines Jeden für sein Fach, die nicht nur ersprießlich, sondern notwendig ist, zu Gute halten: so ist doch der wahrhaft sittliche Standpunkt der Gelehrten jedes Faches der einer wechselseitigen Anerkennung und Annäherung, mit dem Bewusstsein, dass, wie verschieden auch die Wege der verschiedenen Wissenschaften seien, jede ihre Berechtigung habe und jede das Ihrige tue. Diese sittliche Anforderung wird jederzeit den Sieg davon tragen: die Philologie hat daher in den Lägern der Wissenschaft keinen Feind und von dieser Seite her nichts zu befürchten. Allerdings sind die Philologie und die Philosophie schon ihren vielumfassenden Namen nach zunächst und als die allgemeinsten Richtungen des Erkennens einander nebengeordnet und dadurch zugleich geschieden und entgegengesetzt, wie bereits Plotin und seine Schüler ausgesprochen haben: aber dessen ungeachtet sind tatsächlich beide sich meist befreundet geblieben, und weit entfernt dass jener Gegensatz ein unauflöslicher sei, wage ich vielmehr zu behaupten, dass beide, auf dem Gebiete des Geistes und abgesehen von der hier nicht in Betracht kommenden Naturphilosophie, von einem entgegengesetzten Ausgangspunkt zu demselben Ergebnis führen müssen, wenn beide den richtigen Weg gehen, und wenn die Philologie, wie sie meines Erachtens soll, vom Einzelnen und durch dasselbe sich zur Idee und über eine rohe Polyhistorie erhebt, und die Philosophie, nicht in bloße Abstraktionen verloren, mit der Idee das Einzelne durchdringt. Hat ein großer Philosoph uns die Schmach angetan, die Philologie ein Aggregat zu nennen, so hat er ihr wohl in manchen Beziehungen nicht Unrecht getan; statt darüber zu zürnen, steht es uns besser an zu bewirken, dass dieser Aggregatzustand durch wissenschaftlichere Behandlung des Ganzen aufgehoben werde. Ebenso wenig wird die Philologie als Wissenschaft jemals von den Naturwissenschaften beeinträchtigt werden können: denn diese liegen auf einem ganz andern Felde, und es ist undenkbar, dass die Philologie, welche die Geschichte des Geistes zu ihrer Aufgabe hat, durch die Betrachtung der Natur je könne verdrängt werden, da der Geist nie darauf verzichten wird, sich in seinen eigenen früheren Entwickelungen kennen zu lernen. Ich will nicht damit ermüden, dass ich auch die anderen Zweige des Wissens in derselben Beziehung betrachte: aber ich glaube keinen Widerspruch zu finden, wenn ich sage, dass fast jede Wissenschaft bei der Philologie, und die Philologie bei jeder sich Rates erholen könne und müsse; und um nur bei dem zweiten dieser Sätze stehen zu bleiben, so scheint mir der Philologe recht eigentlich darauf angewiesen zu sein, wie Sokrates bei den Meistern jedes Faches umherzugehen, nicht wie dieser um zu sehen, ob sie weiter seien als er oder nicht, sondern um von ihnen das zu lernen, was ihm als Element für sein eigenes großes Werk zu wissen notwendig ist.

Wenn also von keiner wissenschaftlichen Seite eine Beeinträchtigung der Philologie zu besorgen ist, wie kommt es, dass dennoch nicht wenige der Philologen selbst Befürchtungen für sie hegen? Die Antwort ist ganz einfach: gibt es irgend eine begründete Besorgnis vor einer der Philologie feindseligen Macht, so kann diese Macht nur eine unwissenschaftliche sein, für deren Bezeichnung das Wort „Barbarei“ das umfangreichste und gewichtigste ist. Wie finstere Gewalten auch auf unserer Zeit lasten, bekenne ich doch, weder vor zwanzig Jahren, als zuerst eine trübe Weissagung von drohender allgemeiner Barbarei erscholl, noch in den letztverflossenen hiervon erschreckt worden zu sein, und in beiden Fällen hat schon die nächste Zukunft die prophetischen Stimmen Lügen gestraft. Unstreitig sind aber einzelne außer der Wissenschaft liegende Elemente vorhanden, welche besonders gegen die philologischen Studien gerichtet sind, und zwar zunächst gegen die klassischen, gegen diese nur darum mehr, weil sie einen größeren Einfluss auf die Jugendbildung haben, während sie grundsätzlich ebensowohl die morgenländische Philologie befeinden müssen und sie in den Fällen auch befeindet haben, wo sie ihnen begegnete, und in den Gesichtskreis kam. Als die gefährlichen Träger dieser feindseligen Elemente dürfen wir nicht sowohl den großen Haufen der völlig Ungebildeten und Unwissenschaftlichen ansehen, denen die geistigen Waffen ganz fehlen, womit sie Wissenschaft und Gelehrsamkeit befehden und bekämpfen könnten, als vielmehr die keineswegs talentlosen und sogar sehr beredten Halbwisser und Halbgelehrten, welche ohne sich in irgend eine Wissenschaft vertieft zu haben und diese an sich zu würdigen und zu lieben, es sich zum Geschäfte machen, die Beziehungen der Wissenschaft auf den Staat, das Volksleben, den sogenannten Geist der Zeit und seine Erfordernisse und Bedürfnisse je nach ihrer eigentümlichen Richtung festzustellen, um danach den Werth oder Unwert der Wissenschaften zu messen; zwitterhafte Wesen zwischen Gelehrten und Politikern, erfüllt von dem Drange, das ganze Leben der Menschheit umzugestalten und eine neue Bildung auf neuen Grundlagen aufzubauen. Von hier gehen fast alle Angriffe auf die Philologie aus; ich würde ohne Einschränkung sagen „alle“, wenn nicht noch einer von ganz entgegengesetzter Seite käme, nämlich der, dass das Studium des klassischen Altertums dem Christentum Eintrag tue. Jene anderen dem Anscheine nach heutzutage wirksameren Geschosse, welche gegen die Philologie abgesandt werden, lassen sich auf folgende drei zurückführen: erstlich alle Bildung müsse volkstümlich und darum auch ganz vorzüglich auf die geringeren Classen berechnet sein, wozu diese pedantische und tote Gelehrsamkeit nicht tauge; zum andern, das Wohl des Volkes beruhe in den sogenannten materiellen Interessen, wozu diese unsere Gelehrsamkeit nichts beitrage noch hinzufüge; drittens, unseres Zeitalters und Volkes Bildung stehe schon für sich auf festen Füßen und könne der antiken Bildungsmittel entbehren, nachdem sie bereits überboten seien, überhaupt aber müsse eine noch nicht dagewesene und über alle Vorzeit erhabene freie Bildung errungen werden. Obgleich ich mir nicht zutraue, dieser erleuchteten Versammlung irgend etwas darbieten zu können, was nicht jeder von Ihnen eben so gut oder besser weiß als ich, möge es mir gestattet sein, noch einige ins Kurze gezogene Bemerkungen an diese Punkte anzuknüpfen, ohne dass ich Ihre Geduld zu lange in Anspruch zu nehmen gedächte. Der zuerst angeführte Vorwurf des Antichristlichen entspringt weniger aus der Stimmung dieses Zeitalters als aus einem seine Grenzen überschreitenden Glaubenseifer, der dem Christentum so wenig ausschließlich eigen ist, dass er sogar schon den Anytos und Meletos gegen Sokrates, wie viele andere im Altertum gegen die Lehren der Wissenschaft aufregte; der wissenschaftlichen Theologen werden aber wenige sein, die sich an diesem Vorwurfe beteiligten, und wir sind vielmehr sowohl der Kirche des Mittelalters zum Danke verpflichtet, dass sie uns die edlen Schätze des Altertums erhalten und überliefert hat, als der Kirchenverbesserung des sechzehnten Jahrhunderts, dass sie ganz vorzüglich diese Studien gefördert und gepflegt und in die Schulen eingeführt hat. Allerdings, denke ich, nähren diese Studien die Freiheit des Geistes: aber eine Kirche, die diese nicht ertragen könnte, würde nicht die Kirche im Geist und in der Wahrheit sein. Andererseits ist das gesamte Altertum ungeachtet aller Verirrungen so erfüllt von religiösen Empfindungen, Gedanken und Anschauungen, und fühlte ein so tiefes religiöses Bedürfnis, dass weit mehr dieses als die Abgestorbenheit und der Überdruss des Polytheismus die Alten selbst für die reineren und innigeren Lehren des Christentums empfänglich machte. Ferner wer dürfte für eine acht volkstümliche Bildung sich eher begeistern als die Bekenner der klassischen Philologie, da gerade sie ein Volk täglich gleichsam vor Augen haben, in welchem sich eine rein volksmäßige, von fremdem Einfluss möglichst unabhängige Bildung vollendet hatte, und welches alles von ihm aufgenommene Fremde alsobald in sein eigenes Wesen und sein eigenes Fleisch und Blut umwandelte? Freilich muss man zugeben, dass aus dem Grundsatz, die Bildung solle eine volkstümliche sein, sich der Gebrauch der klassischen Altertumstudien zur Erreichung derselben nicht ableiten lasse, folglich wenn dieser Gebrauch gerechtfertigt sein soll, andere Gründe dafür vorhanden sein müssen: wenn jedoch zu irgend welchem Zweck außer dem Einheimischen ein anderes sprachliches, literarisches, geschichtliches, überhaupt im weitesten Sinne des Worts philologisches Bildungsmittel angemessen befunden wird, so ist gewiss keines dem Volkstume ungefährlicher als das Antike, weil damit nicht die Bildung eines andern gleichzeitigen Volkes bewusst oder, was noch schlimmer, unbewusst übertragen wird, wie die französische lange Zeit in die deutsche eingeschwärzt worden, sondern das Antike eben nur die gemeinsame Wurzel und Grundlage aller europäischen Bildung ist. Dass unsere Studien sich in keiner Weise für den Niederen Volksunterricht eignen, dabei brauche ich kaum zu verweilen; denn so wichtig dieser auch ist und so sehr er aus allen Kräften und mit allen möglichen Mitteln gefördert werden muss, weshalb wir selbst seine Träger alle gern in unsern Kreis gezogen hätten, so würde es dock mit den Wissenschaften sehr übel bestellt sein, wenn sie nach dem Maße der Anwendbarkeit auf diesen geschätzt werden sollten. Jene weitverbreitete Richtung der Zeit auf das, was dem praktischen Leben, dem Verkehr und Erwerb und Privatwohlstand Nutzen bringt, ist vortrefflich: denn sie erleichtert, fördert, schmückt das irdische Leben: doch wenn sie das Geistigere uns verkümmern, verbannen, abtöten will, ist sie banausisch und stößt edlere Seelen um so mehr von sich ab, als sie sich mit ihrer Aphilokalie sogar noch brüstet; sie wird dann notwendig misologisch und kann also freilich keine Philologie dulden, am wenigstens die des klassischen Altertums, welches gerade jener banausischen Gesinnung längst den Stempel aufgedrückt hat, den sie verdient. Mögen doch jene ausschließlichen Lobredner des sogenannten Nützlichen bedenken, dass es auch ideale Güter gibt, mit deren Verluste zugleich die anderen ihren Werth verlieren! Und sollten wir etwa zu anmaßend sein, wenn wir mit einem großen Teile dieser uns zu beschäftigen behaupten? Was endlich diejenigen Aufstellungen und Forderungen betrifft, welche ich unter dem letzten der oben berührten Punkte zusammengefasst habe, so bin ich zwar weit entfernt zu glauben, es seien bereits alle Perioden der menschlichen Entwickelung abgelaufen und das Menschengeschlecht habe in keine neue Phase derselben mehr einzutreten: aber wie der große Platon, sogar während er im Begriffe steht, ein völlig neues Ideal der Staatsgemeinschaft zu entwerfen, doch bescheiden genug ist zu gestehen, es sei schwer, eine bessere Erziehung ausfindig zu machen, als die von langer Zeit her gefunden worden, so halte ich es für eine titanische Auflehnung gegen die Weltgeschichte, wenn selbst der weiseste Mann oder das gebildetste Volk oder Zeitalter alles Alte im Sturmschritt der Emanzipationswut niederwerfen und alle Lehren der Vorwelt verschmähend allein aus sich eine neue Welt des Wissens und Handelns aufbauen wollte; vielmehr, wenn es nicht zu verwegen ist, über den künftigen Gang der Menschengeschichte zu weissagen, dürfte nach der etwas kühn so genannten Dialektik der Weltgeschichte die dritte große Weltperiode eine solche sein, in welcher die ächten Elemente des Antiken und des Modernen zu einer höheren Einheit innigst verschmolzen wären. Doch um dies dahin gestellt sein zu lassen (denn ich lege mir keine Sehergabe bei), so ist vermöge des Entwickelungsganges, welchen die europäische Menschheit nicht ohne die Vorsehung genommen hat, unser ganzes Wissen mit tausend und abertausend Fäden in das Antike so verschlungen und verwachsen, dass man nicht willkürlich dieses eine herausschneiden kann, ohne das ganze Gewebe zu zerstören; und finge man erst an, die ältere Hälfte der Menschengeschichte und alles, was das Altertum uns vorgearbeitet hat, zu vernachlässigen, so würden wir, um auf eigenen Füßen zu stehen, den Füßen den Boden entziehen, auf welchem sie gehen gelernt haben, oder die Grundmauern zerstören, nachdem wir bis zum Baue des Daches gekommen zu sein uns vorstellen. Ob übrigens das Altertum, wie viele glauben, wirklich von uns so weit übertroffen sei, dass wir dieses Bildungsmittels enthoben sein könnten, erlaube ich mir unbeschadet der Verehrung für alles Edle und Schöne und Große, was die neuere Welt erzeugt hat, bescheiden in Abrede zu stellen, und nur daran zu erinnern, dass es eben noch nicht lange her ist, seitdem unsere Poesie, Philosophie und Plastik sich an dem Altertum wieder erneut und sich eine höhere Weihe gegeben haben, und dass es Torheit wäre zu glauben, hiermit sei der Born des frischen Lebens erschöpft, welcher aus dem Altertum zu uns herüberquillt und alle folgenden Zeitalter bis zu uns herab getränkt und erquickt hat. Fragen wir uns, worin die großen Fortschritte unserer Zeit liegen, so werden wir unbefangen kaum eine andere Antwort geben können als die, welche ich bei anderer Gelegenheit vor Kurzem zu entwickeln versucht habe, dass wir groß geworden sind durch die Empirie, dass aber die Grundideen des schöpferischen Geistes und die Urformen des Schönen eine alte Prometheische Mitgabe für die Menschheit sind, und das Altertum, weil es diese mit jugendlicher Begeisterung erzeugt und kräftig ausgeprägt hat, einen unvergänglichen Wert für die gesamte Nachwelt behält. Dies haben unsere Vorfahren erkannt, dies und Ähnliches, was damit zusammenhängt, die Gebildetsten unserer älteren Zeitgenossen, die Schöpfer unserer vaterländischen Literatur, selbst diejenigen, deren eigener Charakter sich von dem Altertum am meisten entfernt. Wer könnte weniger antik sein als Jean Paul? Desto gewichtiger ist es, wenn dieser feinfühlende Humorist sagt: „die jetzige Welt versänke unergründlich tief, wenn nicht die Jugend vorher durch den stillen Tempel der großen alten Zeiten und Menschen den Durchgang zu dem Jahrmarkte des spätem Lebens nähme.“ Und hätten nicht auch wir Staatsmänner gehabt und hätten sie noch, welche die hohe Bedeutung der klassischen Bildung für uns erkannt und diese in sich aufgenommen und ihre Verbreitung durch den Unterricht gewollt haben, so müssten wir beschämt zurücktreten, wenn ein französischer Staatsmann, wenn Thiers uns belehrt: nicht bloß Worte seien es, welche der Jugend mit dem Latein und dem Griechischen gelehrt würden; es seien edle und erhabene Dinge, es sei die Geschichte der Menschheit in einfachen, großen und unauslöschlichen Bildern; und in unserm Jahrhundert die Jugend von der Quelle des einfachen antiken Schönen zu entfernen, sei nichts anderes als unsere sittliche Erniedrigung beschleunigen. „Lassen wir die Jugend im Altertum, wie in einer sturmlosen, friedlichen und gesunden Freistatt, die bestimmt ist, sie frisch und rein zu erhalten!“ So lange noch solche Stimmen erschallen (und sie sind nicht so vereinzelt, und werden sich, je mehr die Ruhe in die Gemüter zurückkehrt, noch mehren), so lange ferner die Philologen selber das Ihrige tun, und die großen Häupter der Wissenschaft, unter denen wir seit der Zeit der letzten Zusammenkunft den Tod des edlen Gottfried Hermann zu betrauern haben, durch verwandte kräftige Geister werden ersetzt werden, vertraue ich, die Besorgnisse für unsere Studien nicht besonders teilend, jener urkräftigen Macht des Altertums eben so sicher, als Ovid der Unsterblichkeit des Aratos, die, obgleich dieser kein Stern erster Größe an dem Himmel antiker Bildung ist, sich dennoch glänzend bewährt hat. Haben diese Studien weit schlimmere Zeiten, haben sie die Völkerwanderung und das ganze Mittelalter, haben sie den dreißigjährigen Krieg überdauert, in welchem fast gänzlich erloschen, sie dennoch bald wieder zu schöner Blüte erstanden sind, so werden sie auch die Zeit der neuesten Wirren überdauern, denen selber sie, zumal für das zerrissene deutsche Vaterland ein heilsames Gegenmittel in der leider zu oft überhörten politischen Weisheit des Altertums bieten können. Meine Herren, teilen Sie dieses Vertrauen, diese Hoffnungen mit mir, so kann die Stimmung unserer Versammlung, soweit sie durch die Aussichten für unsere Studien bedingt ist, nur eine heitere und freudige sein!

Boeckh, August (1785-1867) deutscher klassischer Philologe und Altertumsforscher

Boeckh, August (1785-1867) deutscher klassischer Philologe und Altertumsforscher